Die verbotenen Spiele der Gräfin Dolingen von Gratz - Catherine Binet (1981)

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Salvatore Baccaro
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Die verbotenen Spiele der Gräfin Dolingen von Gratz - Catherine Binet (1981)

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Gratz.jpg
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Originaltitel: Les jeux de la comtesse Dolingen de Gratz

Produktionsland: Frankreich 1981

Regie: Catherine Binet

Cast: Carol Kane, Michael Lonsdale, Marina Vlady, Emmanuelle Riva, Katia Wastchenko, Antoine Binet


Als ob Alain Robbe-Grillet, Jacques Rivette und Catherine Breillat zusammen einen Film gedreht hätten…

Allerdings hat jede Person dieses Trios mehr Filme auf dem Kerbholz als Catherine Binet. Jenseits ihres einzigen Spielfilms LES JEUX DE LA COMTESSE DOLINGEN DE GRATZ aus dem Jahre 1981 hat die Dame nämlich lediglich noch bei zwei Dokumentationen Regie geführt: Einer über den Künstler Hans Bellmer 1974, eine über den Schriftsteller Georges Perec, (mit dem Binet auch liiert gewesen ist), die 1990 im französischen Fernsehen gesendet wird. Ansonsten hat sie für Marcel Hanoun am Drehbuch von dessen 1971er Film LE PRINTEMPS mitgewirkt und auch den Schnitt besorgt – eine Tätigkeit, die sie auch bei einer kleinen Handvoll weiterer Regiearbeiten von Perec oder Patrick Bokanowski ausübt. LES JEUX DE LA COMTESSE DOLINGEN DE GRATZ fristet, ebenso wie seine Schöpferin, ein Nischendasein innerhalb der (französischen) Filmgeschichte: Die Kinoauswertung bleibt überschaubar, die Rezeption sowieso. Völlig zu Unrecht, wie ich finde, denn, wie gesagt, es wirkt, als ob Robbe-Grillet, Rivette und Breillat zusammen einen Film gedreht hätten – und für die eine oder andere schauerromantisch angehauchte Sequenz schaut auch mal Jean Rollin im Fledermausmantel am Set vorbei…

Den Stempel der Kino-Magie trägt LES JEUX DE LA COMTESSE DOLINGEN DE GRATZ von weitem sichtbar auf der Stirn. Binets Film ist spielerisch, zugleich aber herzzerreißend tragisch. Binets Film ist verträumt-versponnen, zugleich aber sehr ernst und bitter in seiner Darstellung unterdrückter Weiblichkeit. Binets Film erzählt eine Geschichte, oder, besser gesagt: mehrere grundsätzlich kohärente Geschichten parallel, steht zugleich aber, was seine eigenwillige Struktur betrifft, seinen assoziativen Schnitt, seine freikreisende Kamera, mit mehr als einem Bein im Experimentalkino. Robbe-Grillet, weil die schwüle Aura unterschwelliger sexueller Begierden den Film durchweht. Rivette, weil der Film einen besonders langen Atem hat, mit dem er seine Handlung nicht etwa auf dem einfachsten Weg von Punkt A über Punt B bis zu Punkt C voranpustet, sondern sich immer wieder Seitenpfade sucht oder auch mal einfach stehenbleibt, um ein bisschen mit dem Herbstlaub zu spielen. Breillat, weil Binets Film eine mehr oder minder explizit feministische Position einnimmt, von Frauenfiguren in den Mühlen des Patriarchats berichtet, ohne dabei predigend, moralisierend oder agitatorisch zu wirken. Und dass ich an Rollin denken muss, liegt an den sachten schauerromantischen Referenzen, die immer wieder präsent sind: Rezitiert wird Poe, vorgelesen wird aus Stoker, magische Objekte spielen eine Rolle, und in einer Szene wohnen wir der Erweckung der leibhaftigen Gräfin Dolingen von Graz auf einem verwunschenen Friedhof bei!

Wollte man versuchen, sich mit der Machete eine Bahn durchs Dickicht dieses wundervollen Films zu schlagen, um seinen Inhalt auf drei, vier klare Sätze runterzubrechen, würde das Ergebnis vielleicht wie folgt klingen: Louise, die mit ihrem Mann in einer abgeschiedenen Villa irgendwo im Wald lebt, fährt mit dem Zug nach Paris, um ihre alte Freundin Nena in der Psychiatrie zu besuchen. Nena verkündet stolz, einen semi-autobiographischen Roman geschrieben zu haben und liest ihr Exzerpte aus ihrem Manuskript vor. Darin geht es um ein namenloses Mädchen, das mit seiner Pubertät struggelt: Die Mutter ist meist abwesend, verlässt tagelang nicht ihr Zimmer und wenn sie nach der Tochter ruft, soll die ihr eigenhändig die grauen Haare aus der Kopfhaut rupfen – für jede weichende Grausträhne erhält unsere Heldin eine Geldmünze. Beim Schwimmunterricht, - (der darin besteht, dass das Mädchen sich an einen Stock klammern muss, den ihr Schwimmlehrer in Händen hält, während er am Schwimmbeckenrand auf und ab läuft) – erspäht sie einen mittelalten Mann und entwickelt nie gekannte Sehnsüchte: Sie möchte ihn kennenlernen, mehr über ihn erfahren, sich von ihm entjungfern zu lassen – und ihre Obsession treibt sie gar dazu, den draufgängerischen Mann zu stalken und schließlich, als dieser ihre kindliche Liebe nicht erwidern mag, zum suizidalen Balkonsturz. Die Geschichte beschäftigte Louise so sehr, dass sie von ihr aus ihrem bisherigen tristen Leben an der Seite eines eher empathielosen, dominanten, sich mehr um seine Antiquitäten als um seine junge Frau kümmernden Gatten wachgerüttelt wird. Zunehmend wächst in Louise eine Rebellin heran, die ihrem Mann, den von ihm verkörperten Werten und der bourgeoisen Gesellschaft, in der er verkehrt, die Stirn zu bieten versucht…

Erzählt werden im Grunde mindestens drei Erzählstränge zeitgleich: Der Roman, den Louises Freundin geschrieben hat, und bei dem wir der Handlung um das pubertierende Mädchen folgen, während die Stimme Nenas sie uns aus dem Off erzählt; Louises Aufkündigung ihrer bisherigen bürgerlichen Existenz, die in einer Katastrophe während eines Dinners gipfelt, das ihr Mann für Freunde und Bekannte in seiner Villa ausrichtet; und schließlich eine Geschichte, die sich um rätselhafte Einbrüche in die Villa von Louises Mann rankt, denn immer öfter findet dieser bei der abendlichen Heimkehr die Tür unverschlossen, nur ist niemals ein Wertgegenstand entwendet, nur am Alkohol und an den kulinarischen Köstlichkeiten machen sich die Einbrecher zu schaffen. Dabei ergibt LES JEUX DE LA COMTESSE DOLINGEN DE GRATZ jedoch ein vollkommen homogenes Ganzes, wirkt niemals zerfasert oder episodisch, da sich die einzelnen Erzählstränge gegenseitig bedingen, einander kommentieren, letztlich sogar ineinanderfließen. Mit dem Meisterwerk-Ruf gehe ich eigentlich eher sparsam um, - aber selten hat mich in letzter Zeit ein Film, von dem ich im Vorfeld exakt nichts wusste, derart auf dem richtigen Fuß erwischt wie dieser...

Weshalb Binets erster und einziger Spielfilm scheinbar nie den Zugang in den französischen Arthouse-Kanon gefunden hat, bleibt mir ein Rätsel – zumal ja auch namhafte Schauspieler wie Michel Lonsdale, (von dem wir nahezu den kompletten Film über nie das Gesicht, sondern stets nur die Rückenansicht sehen), sowie, in Nebenrollen, Marina Vlady und Emmanuelle Riva mitwirken, und auch die weibliche Hauptdarstellerin Carol Kane, (die die entzückendste Gothic Heroine abgibt, die man sich vorstellen kann), nun nicht wirklich ein unbeschriebenes Blatt ist… Kurzum: Absoluter Geheimtipp!
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