Enter the Void - Gaspar Noé (2009)

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buxtebrawler
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Re: Enter the Void - Gaspar Noé (2009)

Beitrag von buxtebrawler »

Wunderbar ausführliche und sehr gut zu lesende Kritik, Marcus Daly! Vielen Dank! :thup:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Marcus Daly
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Re: Enter the Void - Gaspar Noé (2009)

Beitrag von Marcus Daly »

buxtebrawler hat geschrieben:Wunderbar ausführliche und sehr gut zu lesende Kritik, Marcus Daly! Vielen Dank! :thup:
Vielen Dank für das Lob! Hab mir schon Mühe gegeben. :prost:
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buxtebrawler
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Re: Enter the Void - Gaspar Noé (2009)

Beitrag von buxtebrawler »

Fear and loathing in Tokyo?

Der dritte abendfüllende Spielfilm des gebürtigen Argentiniers Gaspar Noé („Irreversibel“), der als Enfant terrible und Skandalfilmer gilt, ist die französisch-japanisch-kanadisch-italienisch-deutsche (uff…) Koproduktion „Enter the Void“ aus dem Jahre 2009, für die Noé erneut Experimentalfilmisches mit exploitativen Stilmitteln verbindet. Noé sei von Kubricks „2001“ ebenso beeinflusst gewesen wie von Montgomerys „Die Dame im See“ – und persönlichen Erfahrungen mit Rauschmitteln…

Die Geschwister Oscar (Nathaniel Brown) und Linda (Paz de la Huerta, „Choke – Der Simulant“) wurden schon im zarten Kindesalter zu Vollwaisen, als ihre Eltern bei einem Autounfall ihr Leben verloren. Sie versicherten sich gegenseitig, immer füreinander da zu sein. Dennoch trennten sich ihre Wege, als Oscar nach Tokyo ging, wo er sich seitdem als Drogendealer durchschlägt. Doch bald holt Oscar seine Schwester in die fernöstliche Metropole nach, sie verdingt sich nun als Tänzerin in einem Stripclub. Im Zuge einer Razzia wird Oscar auf der Clubtoilette von der Polizei erschossen. Oscars Seele entweicht seinem Körper und folgt auf einer transzendentalen Reise seiner Schwester Linda auf der Suche nach einer Möglichkeit zur Reinkarnation.

Der erste Akt findet fast ausschließlich in subjektiver Point-of-View-Perspektive des noch lebenden Oscars statt; man sieht durch seine Augen, sogar sein Blinzeln wird visualisiert und der Klang seiner Stimme verfremdet, als diene sein Leib als Resonanzkörper. Das ist in seiner Konsequenz durchaus beeindruckend und ein interessanter stilistischer Kniff. Jedoch wird diese Art der Perspektivierung auch für Drogentrips Oscars beibehalten, woran Noé erstmals scheitert: Diese sehen aus wie Bildschirmschoner. Nach seinem Tod lässt man sein Leben innerhalb einer ausgiebigen, nicht immer chronologischen Rückblende Revue passieren, wobei ihm die Kamera nun stets hinter seinem Rücken folgt. Nachdem noch einmal sein Tod gezeigt wird, löst sich mit seiner Seele auch die Kamera von seinem Körper und fungiert fortan als eine Art schwebendes Auge über den Protagonisten.

Für Noé ist dies Anlass für ständige ausladende Kamerafahrten und -flüge in Objekte hinein wie Motten in das Licht, was genau einmal als Wow-Effekt funktioniert, jedoch derart hochfrequent und selbstzweckhaft wiederholt wird, dass es zu langweilen beginnt – zumal der ganze, mit rund 160 Minuten Laufzeit überlange Film in Bedeutung vorgebender Zeitlupe abzulaufen scheint. Seine Geschichte um das Geschwisterpaar interessiert Noé kaum noch, die Handlung fragmentiert und bemüht sich in einer gegenüber den exaltierten Bildern erschreckenden und enttäuschenden Trivialität darum, Gefühle zu versinnbildlichen. Hier wurde das Prinzip „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ gewissermaßen umgekehrt. Ärgerlich albern ist für einen derart betont ernsten Film auch die Bezugnahme auf ein tibetanisches Totenbuch, das als Erklärung für Oscars Seelenflug herhalten muss, und die damit einhergehende esoterisch verklärte Sexualität, die für den – immerhin vorhandenen und an krudes altes Genrekino erinnernden – Sleaze-Gehalt inklusive selbstzweckhafter, gegen Ende gar expliziter (jedoch heteronormativer und damit im Jahre 2009 kaum für einen Skandal guter) Sexszenen verantwortlich ist (oder sie rechtfertigen soll). Eine Traumaaufarbeitung, für die sich die Filmprämisse angeboten hätte, findet hingegen nicht wirklich statt, sie bleibt oberflächlich und billig.

Als sich von derartigem visuellem Budenzauber nicht mir nichts, dir nichts einnehmen lassender Zuschauer quält man sich also durch künstlich gestreckten und gefühlt immer langsamer werdenden, ermüdenden, substanzlosen und prätentiös selbstverliebten Arty-Farty-Pomp bis zu einem hochgradig dämlichen Ende. Es hat den Eindruck, als sei Noé nach Ende der Rückblende aufgefallen, dass der zweimal gezeigte Autounfall das einzig Spektakuläre war und er deshalb noch einen draufsetzen zu müssen glaubte. „Enter the Void“ beweist nicht nur, dass eine erzwungene vollumfängliche Subjektivität keinesfalls automatisch zur Publikumsidentifikation mit der Figur führt, sondern auch, dass ein mit vielen Vorschusslorbeeren – und sei es nur durch sein bisheriges polarisierendes Werk – bedachter Regisseur am überambitionierten Unterfangen, Drogentrips und Todeserfahrungen zugleich audiovisuell und kinematographisch zu illusionieren, scheitern kann. „Skandalfilm“? Skandalös langweilig.

Wer sich „Enter the Void“ als Substitut für psychoaktive Drogen zuführt oder gleich in die Vollen geht und ihn sich auf Pilzen o.ä. ansieht, mag anschließend einen großen Spaß daran entwickeln, das Gesehene in unheimlich ausschmückender Sprache zu beschreiben, ohne dabei vor Superlativen zurückzuschrecken, und ohnehin alles ganz anders sehen. Für wen Kino deutlich mehr als die Summe seiner Bilder ist und übermäßig ehrgeizigen Style-over-substance-Produktionen generell tendenziell skeptisch gegenübersteht, dürfte in Noés Mysterytrip jedoch seine Skepsis bestätigt sehen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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