Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Alles, was nichts oder nur am Rande mit Film zu tun hat

Moderator: jogiwan

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FarfallaInsanguinata
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von FarfallaInsanguinata »

Klar überwiegen da die beschränkten Spießer-Ansichten, der Vergleich mit den Film-Publikationen von Hahn/Jansen ist durchaus treffend. Die besitze ich übrigens immer noch, und relativ schnell hatten wir doch den Dreh raus. Alles, was die in Grund und Boden schrieben, war umso interessanter und musste geschaut/gehört werden.
So what? Wir waren doch beide clever genug, unseren eigenen Geschmack zu entwickeln, also haben die Autoren unfreiwillig alles richtig gemacht. Sollte ich jetzt deswegen das Buch, was mir zum Nulltarif vor die Füße fällt, liegenlassen? Nö, sehe ich gar nicht ein.
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Onkel Joe
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von Onkel Joe »

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Heute aus dem Briefkasten gezogen.
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karlAbundzu
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von karlAbundzu »

Thomas de Quincey: Bekenntnisse eines englischen Opiumessers
Schon immer im Hinterkopf, jetzt durch Filmsichtung und Artikel zu eben beiden endlich mal gelesen.
Ein biographischer Bericht über Jugend und Anfängen der Opiumsucht über dessen Freuden und späteren Leiden.
Gut geschrieben, weniger abgedreht als gedacht, aber auch ein Sozialbild Englands und ein tiefer Einblick in das Denken de Quinceys.
Ich fand es sehr interessant!
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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buxtebrawler
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von buxtebrawler »

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Charles M. Schulz – Die Peanuts: Werkausgabe, Bd. 7: 1963 – 1964

„Es gibt keine schwerere Bürde als großes Potenzial!“ – Linus, 22. März 1963

Sämtliche aus je vier Panels bestehenden Zeitungsstrips sowie großformatigen Sonntagsseiten der „Peanuts“-Reihe Charles M. Schulz‘ aus den Jahre 1963 und ’64 in ihrer deutschen Übersetzung umfasst chronologisch sortiert der siebte Band der gebundenen Hardcover-Werkausgabe im Schutzumschlag aus dem Hamburger Carlsen-Verlag. In der vierseitigen Einführung berichtet diesmal Bill Mendelez, Regisseur der „Peanuts“-Filme, davon, wie es die Reihe ins Fernsehen schaffte, und schwärmt von der Zusammenarbeit mit Schulz. Wie gewohnt finden sich im Anhang des rund 330 Seiten starken Bands Gary Groths Nachwort, ein Stichwortindex sowie das Glossar mit Erläuterungen zu zeit- und kulturbedingt nicht unbedingt selbsterklärenden Comicstrips.

„Ich sollte nicht draußen spielen…“ – Charlie Brown, 31. Dezember 1964

Was also war damals los bei Charlie Brown und Konsorten? Nun, erwartungsgemäß Charlies Unvermögen, einen Drachen steigen zu lassen, in immer neuen Variationen, seine tiefsitzende Verunsicherung in Bezug auf das kleine rothaarige Mädchen, das er sich nicht einmal anzusprechen traut, und natürlich die von Pleiten geprägte neue Baseball-Saison, die im März beginnt. 1964 bekommt er gar einen Baseball-Arm und Radierophagie. Der Running Gag um Lucy und den Football, den Charlie treten soll, ist längst ebenso obligatorisch wie Lucys Schwärmerei für Schröder (sie beginnt sogar mit Klavierunterricht, um ihn zu beeindrucken), ihr „Job“ als Psychiaterin und die Schmusedeckenmanie ihres kleinen Bruders Linus. Dieser will Anfang 1963 doch tatsächlich Rinderzüchter werden, hadert aber damit, im Frühjahr nicht Klassenbester geworden zu sein. An Halloween steigert er sich auch immer mehr in seinen Glauben an den „großen Kürbis“ hinein. Als seine Anti-Schmusedecken-Oma immer öfter zu Besuch kommt, ist Holland in Not.

„…ich sollte ,Gullivers Reisen‘ lesen und eine Buchbesprechung schreiben…“ – Charlie Brown, 31. Dezember 1964

Der Hitchcock-Film „Die Vögel“ stört Snoopys Verhältnis zu seinen gefiederten Freunden und seine Ohren müssen mehrmals als Antennenmetapher herhalten. Frieda wird nicht müde in ihren Versuchen, aus Snoopy einen Karnickeljäger zu machen, doch seine Reaktion darauf ist großartig (oh, dieser Satz klingt wie eine Clickbaiting-Überschrift). Im Sommer 1963 muss der Gute ins Krankenhaus, das er jedoch vollständig genesen verlassen kann. Nach wie vor schleift er Linus bei seinen Schmusedeckendiebstahlsversuchen über Stock und Stein. Seine Hundehütte wird grundgesäubert, renoviert und ein Fresko an seiner Decke angebracht. Bemerkenswert, was er so alles in seiner Hütte zu horten scheint: Fernseher, Radiowecker, einen Van Gogh, einen Billardtisch im Keller und noch vieles mehr… Kein Wunder, dass so gern Vögel bei ihm vorbeikommen, u.a. um Bridge zu spielen.

Als Reaktion auf die Einführung der Postleitzahlen in den USA führt Schulz den von seinen Eltern nummerierten Jungen „5“ als kurzlebige Figur innerhalb der Reihe ein. Darüber hinaus wimmelt es wieder vor Anspielungen auf historische wie zeitgenössische Persönlichkeiten, u.a. eine Biologin. So denkt Schröder nach seinem Fauxpas im vorherigen Band nun wieder brav an Beethovens Geburtstag und veranstaltet 1964 im Vorfeld besonders viel Brimborium um ihn. Am 21. Juni 1964 feiert Schulz auf einer Sonntagsseite den Vatertag und im Spätsommer erlaubt er sich eine Persiflage auf Protestbewegungen und deren Symbole. Einer der Höhepunkte ist Linus‘ Bewerbung als Schülersprecher, die zu einer Parodie auf politische Wahlkämpfe avanciert. Linus‘ im Herbst 1962 eingeführte Brille ist hingegen kein Thema mehr, diese Idee scheint Schulz schnell wieder fallengelassen zu haben. Auch imitiert Snoopy diesmal keine anderen Lebewesen mehr, möglicherweise war dieser Gag auserzählt und er bereitete sich gerade auf seine Paraderolle als roter Baron vor.

Diese beiden Jahrgänge scheinen den festen Figurenstamm, die einzelnen Rollen und die mit ihnen verbundenen Gags in erster Linie konsolidiert zu haben. Hier und da schimmert Schulz‘ Skepsis gegenüber Politik und ihren Lautsprechern durch, weltbewegende Ereignisse wie die Ermordung John F. Kennedys bleiben jedoch ausgespart. In erster Linie verharrt man im liebgewonnenen Mikrokosmos von Kindern, von denen das eine oder andere viel zu erwachsene Probleme mit sich herumträgt und in seinen Umgang damit sowie seinen Erfahrungen zu einer köstlichen Karikatur menschlichen Miteinanders in der US-Gesellschaft Mitte der 1960er-Jahre wird. Das macht neugierig darauf, inwieweit sich die gesellschaftlichen Veränderungen der Folgejahre in den weiteren „Peanuts“-Abenteuern niederschlagen werden.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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buxtebrawler
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Beitrag von buxtebrawler »

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Stefan Theurer – Frei ab 16

Als ein gutes Geschenk zum sechzehnten Geburtstag bewarb der Frankfurter Eichbornverlag das im September 1993 herausgegebene großformatige Hardcover-Comicalbum „Frei ab 16“ des Autors und Zeichners Stefan Theurer, das mit 22,80 DM alles andere als ein Schnäppchen war. Auf rund 50 leider unnummerierten Seiten finden sich ein- bis dreiseitige, farbenfroh getuschte und großzügig gestaltete, weil nur ein bis zwei rahmenlose Panels pro Seite umfassende und mit riesigen Sprechblasen versehene, pointierte Gags im Funny-Stil, die sich mit favorisierten Themen Heranwachsender wie Liebe und etwas Sex, Musik und Zukunftsplänen befassen. Auffallend ist der starke jugendsubkulturelle Bezug; so finden sich immer wieder vor allem Punks und Headbanger unter den Protagonist(inn)en.

Herzstück des Bands ist jedoch die stilistisch aus der Reihe fallende, weil sich über ganze 20 Seiten erstreckende Geschichte „Suse und Kalle“, die in wesentlich klassischerer Comicform mit weit mehr Panels in variierenden Grids aufwartet. Sie erzählt von den titelgebenden Figuren, die sich ins nächtliche Partyleben stürzen und dabei u.a. ein Punk-Konzert besuchen (illustriert in Form eines schönen Wimmelbilds), Abenteuer mit den Bullen und Rocker-Rowdys erleben und schließlich am nächsten Morgen mit Mick, den sie gerade erst kennengelernt haben, an den Strand fahren. Anarchischer, antiautoritärer, wenn auch recht simpler Humor bestimmt die Handlung, deren Zeichnungen zudem mit echten Songtext-Zitaten damaliger (oder auch wesentlich älterer) Hits und authentischen Bandnamen auf T-Shirts, Plakaten u. ä. angereichert wurden.

Das hat seinen Charme, zeichnet aber auch ein reichlich naives Bild einer Jugend, wie sie 1993 längst nicht mehr war, und verwendet häufiger (zumindest mittlerweile) veraltete Jugendsprache. Als kleiner Spaß zwischendurch geht „Frei ab 16“ ebenso durch wie als Zeitdokument in Bezug auf die Präsenz von Jugendsubkulturen in Comics, der hohe Preis dürfte seinerzeit aber abschreckend gewirkt haben. Mein Exemplar bekam ich tatsächlich vor einiger Zeit geschenkt, wenn auch in antiquarischem Zustand. Passt super, denn als Punk bleibt man bekanntlich immer 16! (Wenn auch in mittlerweile möglicherweise ähnlich antiquarischem Zustand…)
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Salvatore Baccaro
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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purgatorio
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von purgatorio »

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Michael Herr: AN DIE HÖLLE VERRATEN (DISPATCHES)

Michael Herr, der als junger Kriegsberichterstatter in Vietnam unterwegs war und seine Gedanken und Erlebnisse in seinem vielbeachteten DISPATCHES verarbeitete, empfahl sich mit diesem Buch für die Drehbucharbeit zu FULL METAL JACKET. Den Kern des Films bildet aber die Verarbeitung eines anderen Kriegsberichterstatters, nämlich Gustav Hasfords HÖLLENFEUER. Bei der Lektüre sind mir nur zwei Stellen aufgefallen, die direkt in Kubricks Film Einzug hielten: (1) recht weit vorn ein paar Zitate des Bordschützen, der auch auf Frauen und Kinder schießt und (2) sehr weit hinten die Diskussion von Notizen auf Helmen und Feldjacken, speziell die ironische Brechung des Spruches BORN TO KILL in Kombination mit einem Peace-Button.

Insgesamt empfand ich die Lektüre von DISPATCHES als recht anstrengend. Die Einblicke in die Arbeit und vor allem die Freiheiten der Journalisten in diesem speziellen (Medien-)Krieg sind schon sehr aufschlussreich und interessant. Aber unterm Strich fehlt dem Buch ein gewisser Flow. Es liest sich furchtbar anstrengend, weil der junge Mann / Autor aus Gründen der Authentizität eine eher saloppe Sprache wählte. Und die wurde dann auch noch salopp ins Deutsche übersetzt. Und das auf dem Niveau der 70er Jahre - die flüssige Lesbarkeit leidet darunter enorm.

Warum das Buch seinerzeit so einen Impact hatte, erschließt sich natürlich schnell und eindringlich. Soldaten in Medien- und Kriegsgeilheit, die im Drogenrausch jeglichen Realitätskontakt verlieren und den Ernst der Lage gerne erst unter Feuer begreifen, während Journalisten in unkontrollierter Narrenfreiheit alles beobachten und dokumentieren um sich anschließend in Strandbars zu besaufen und rumzuhuren - das widersprach dem Bild des helden- und ehrenhaften Soldaten in allen Belangen. Besonders sticht ein episodisches Kapitel hervor, welches in Sprüngen viele kurze Interviews zu einem Panorama aus Kriegsgeschichten kombiniert, die allesamt lesenswert sind. Aber der Großteil des Berichtes ist dann doch sehr zäh und langatmig. Das wäre nach meinen Maßstäben auch mit 100 Seiten weniger erzählbar gewesen. Allerdings ist das mein streng subjektiver Eindruck, einem anderen mag diese Psychologisierung ja auch gefallen. Sei es drum: DISPATCHES ist im Kanon der zeitgenössischen Vietnamberichte durchaus relevant und allein darum einen Blick wert.
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
- nicht nach Mitternacht füttern
- kein Wasser
- kein Sonnenlicht
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Salvatore Baccaro
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Cauvin.jpg
Cauvin.jpg (85.55 KiB) 451 mal betrachtet
Da hat man zum ersten Mal in seinem Leben vergessen, sich ein Buch in den Rucksack für die Rast während einer mehrstündigen Wanderung zu stecken, kommt zum Glück aber in einem südpfälzischen Weinort, kurz bevor es hinauf zu Wald und Burg geht, an einem öffentlichen Bücherregal vorbei, wo zumindest einer der Insassen so wirkt, als könne man sich damit ein paar kurzweilige Stunden bereiten: Der Roman heißt in der deutschen Übersetzung vom Bastei-Lübbe-Verlag DAS HAUS DES SCHRECKENS, stammt aus der Feder eines gewissen Patrick Cauvin, (scheinbar seinerzeit ein Erfolgsschriftsteller, von denen ich allerdings noch nie zuvor gehört habe) und trägt das Cover eines 80er-Spukhaus-Heulers à la Umberto Lenzis GHOSTHOUSE – doch, als ich dann zu lesen anfange, (und vor allem jetzt, wo ich es zwei Tage später zugeklappt habe), merke ich schnell: Das dürfte einer der eigenartigsten literarischen Texte sein, die mir in letzter Zeit untergekommen sind!

Der Plot liest sich natürlich wie eine Aufhäufung von Schauerromantik-Klischees: Ein gefeierter Drehbuchautor plus frischgebackener Lebensgefährtin und deren verschrobener minderjähriger Sohn beziehen, um vom Pariser Großstadtrummel loszukommen, ein lange leerstehendes Herrenhaus irgendwo an der unteren Loire. Unser Held, Marc, findet bald heraus, dass „Haute-Pierre“, wie das Anwesen heißt, über eine bewegte und reichlich unheilvolle Vergangenheit verfügt: Jeder seiner Vorbesitzer, die sich bis zu Zeiten der Revolution von 1789 zurückverfolgen lassen, hat ein böses Ende genommen – entweder Suizid oder Nervenheilanstalt oder von aufgebrachten Bürgern zu Tode gebracht. Marc stellt Nachforschungen an und bald fest: Offenbar sind viele der vorherigen Bewohner der Überzeugung gewesen, das genaue Datum ihres Todes zu kennen – angeblich habe das Haus selbst ihnen dieses Geheimnis zugeflüstert!

Aber, puh, was Cauvin schriftstellerisch aus dieser eher generisch klingenden Story macht, hat mich durchaus manchmal zutiefst überrascht, manchmal entzückt aufschreien lassen, fortwährend aber meine Stirn in irritierte Falten gelegt: Es gibt Rückblenden, in denen (für die eigentliche Handlung völlig obsolet) geschildert wird, wie Marc und seine Freundin Andrea sich kennenlernen; immer wieder wird die Geschichte von Auszügen aus Briefen oder Tagebuchnotizen der Protagonisten unterbrochen, (die ebenso selten etwas mit dem Kernplot zu tun haben); unendlich viele Nebenfiguren sind versammelt, von denen einige ausgesprochen, sagen wir, verschroben daherkommen: Allen voran Andreas Sohn, (dessen exaktes Alter wir nie erfahren), der jeden Morgen zum Lexikon greift und sich für den jeweiligen Tag ein neues Pseudonym aussucht, mal ist er Napoleon, dann Wilhelm II., dann Émile Zola, dann Louis-Ferdinand Céline, sodass selbst die eigene Mutter zugibt, den wirklichen Namen ihres Sohnes gar nicht mehr zu kennen – hinzukommen eine übergewichtige Teenagerin, die dem Bub seinen ersten Zungenkuss aufnötigt, ein „Froschlurch“ genannter Bengel eines befreundeten Ehepaars, der mit Vorliebe aus Leibeskräften zetert und schreit, ein Filmregisseur aus Paris, ein Psychiatrie-Arzt, ein Dorfschullehrer usw.; - überhaupt lassen sich etliche Szenen finden, die satirisch mit dem französischen TV-Buisness abrechnen, (und in denen sich zahlreiche Filmreferenzen verstecken: In einer besonders seltsamen Szenen unterhalten sich Kinder darüber, dass sie angeblich Bertoluccis ULTIMO TANGO A PARIGI gesehen haben wollen); auch wohnen wir in einer Rückblende dem Dreh einer Fernsehadaption der "Drei Musketiere" bei. Der „Horror-Appeal“ gerät immer wieder ins Hintertreffen, wenn Cauvin seitenlang in blumiger Sprache das französische Hinterland oder Marseille schildert, wenn in den jeweiligen Kapiteln zwischengeschobenen „Fällen“ in nüchternem Ton historische Spukhaus-Begebenheiten aufgearbeitet werden, oder wenn die handelnden Figuren sich in pointierten Dialogen, die tatsächlich wirken wie einem Drehbuch entnommen, über Nichtigkeiten unterhalten. Zumal Cauvins Schreibstil sehr, hm, „ungezwungen“ ist: Manchmal wechseln mitten im Satz die Erzählperspektiven, Ich-Monologe ploppen unvorbereitet in distanziert-ironische Passagen eines auktorialen Erzählers auf, auch die Zeitebenen werden immer wieder durcheinandergewirbelt – ob manch eigenwilliger Ausdruck nun der deutschen Übersetzung geschuldet ist, oder ob Cauvin auch im Original teilweise sehr kauzige Metaphern wählt, kann ich nicht beurteilen.

Wäre HAUTE-PIERRE ein Film, dann vielleicht SHINING, betrachtet aus der Perspektive eines verkopften Arthouse-Regisseurs, der um keine Meta-Ebene verlegen ist, der das Spiel mit Zahlen liebt, und Genre-Konventionen nur deshalb ins Feld führt, um sie großflächig zu bombardieren - stellt euch vor, Godard hätte in seiner etwas verträglicheren Phase Anfang der 80er Stephen King verfilmt. Keine Ahnung, ob ich den Roman nun wirklich gut finden soll, aber seltsam ist er allemal – zumal, wenn man anhand des Covers etwas völlig Anderes erwartet…
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buxtebrawler
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Jordi Bernet / Carlos Trillo / Eduardo Maicas – Betty 5

Ein Flohmarktzufallsfund war dieser fünfte Band der neunteiligen schwarzweißen Erotik-Funny-Comic-Reihe „Betty“ eines spanischen Zeichner-/Autoren-Trios im Softcover und ca. 24 cm hohen Zwischenformat, die zwischen 1999 und 2003 in ihrer deutschen Übersetzung im Verlag Edition Bikini erschien. Aus welchem Zeitraum das spanische Original stammt, ist mir nicht bekannt.

Die titelgebende Protagonistin Betty ist eine Prostituierte, die ihrem Beruf gern nachgeht. Zudem ist sie alleinerziehende Mutter eines Jungen, dessen Vater unbekannt ist – es muss einer ihrer zahlreichen Freier sein. Was woanders Stoff für Dramen wäre, ist hier der Aufhänger für zahlreiche kurze, pointierte Humoresken, die in ihren Darstellungen den Softsex-Bereich nicht überschreiten und etwas gewöhnungsbedürftig ohne eigene Titel oder als solche sofort erkennbare Eröffnungspanels auskommen müssen. Erzählt werden sie für gewöhnlich in sechs bis neun Panels in dreizeiligen Grids pro Seite, derer der Band rund 100 umfasst.

Direkt die erste Pointe will nicht recht zünden, womöglich handelt es sich um ein Übersetzungsproblem. Das ändert sich jedoch schnell und hat man sich erst einmal eingegroovt und mit der Figur sowie dem Humor vertraut gemacht, macht „Betty“ im Stil klassischer Comicstrips durchaus Spaß. Die Sicht auf Betty und ihren Alltag ist stark männlich geprägt und es besteht kein Zweifel daran, dass es sich bei ihr um ein Fantasieprodukt handelt. Dafür dominiert jedoch nicht der altertümliche und oft sexistische Herrenwitz (wenngleich sich die Reihe von diesem nicht vollständig freisprechen kann), sondern eine aus Bettys selbstbewusstem, stolzem Umgang mit ihrem Beruf resultierende Karikatur der Männerwelt. Männliche Figuren werden häufig besonders lächerlich aussehend gezeichnet und wer glaubt, Betty ausnutzen, übervorteilen oder diskriminieren zu können, bekommt schnell sein Fett weg.

Aus der Reihe fällt indes die Geschichte auf S. 62f., in der Betty ungewöhnlich und unpassend naiv dargestellt wird – der Tiefpunkt dieser Ausgabe. Die enthaltene Weihnachtsgeschichte ist sogar richtiggehend traurig. Als Aussage lässt sich jedoch geschichtenübergreifend grob zusammengefasst herauslesen, dass Bettys Beruf keine Schande sei – eher einige ihre Dienstleistungen in Anspruch nehmende Männer – und es keinen Anlass gibt, sie oder ihren Sohn dafür zu diskreditieren. Neben den Nachteilen, die die Tätigkeit seiner Mutter mit sich bringt, werden sogar gewisse Vorzüge für den Filius skizziert. Trotz männlicher Perspektive und diversen sexualisierten Humors kann „Betty“ damit eine fortschrittliche Haltung attestiert werden.

Intermediale Bezüge werden in einem „Stummfilm“-Strip mit Charlie Chaplin sowie bei Bettys Aufeinandertreffen mit den Classic Universal Monsters hergestellt, was den Spaß erhöht (und mich ein wenig an die zahlreichen „Mad“-Filmparodien und -referenzierungen erinnert). Grotesk mutet es an, wenn Betty das Wort „Hurensohn“ als Beleidigung verwendet – und gerade dadurch zum Nachdenken über den eigentlichen Inhalt dieser anregt. Ein paar Schreibfehler erinnern daran, dass es sich bei „Betty“ um ein Nischenprodukt eines kleinen Verlags handelt.

Die Zeichnungen sind gewitzt und einladend; die Lektüre war durchaus vergnüglich, zwischendurch auch mal befremdlich, aber der positive Eindruck überwog. Sollte mir ein weiterer Band aus der Reihe mal wieder für ‘nen Euro auf einem Flohmarkt in die Hände fallen, würde ich sicherlich zugreifen – meinen Sammlerinstinkt hat „Betty“ jedoch nicht angesprochen.
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Phil Foglio – XXXenophile

Noch ein Zufallsfund vom Flohmarkt: „XXXenophile“ ist eine ursprünglich von 1989 bis 1995 im US-amerikanischen Original in zehn Bänden publizierte Erotik-Sci-Fi/Fantasy-Comicreihe des Zeichners und Autors Phil Foglio. Im Juli 2001 veröffentlichte der belgische BD-erotix-Verlag die ersten beiden Bände zusammengefasst in einem großformatigen, 68-seitigen Hardcover-Band, wobei es dann auch blieb – weitere Ausgaben scheinen in keiner deutschen Übersetzung erschienen zu sein. Die neun enthaltenen, jeweils für sich stehenden Kurzgeschichten sind unkoloriert, obwohl einleitend jeweils der Name einer Person angegeben wird, die für die Tusche zuständig gewesen sei – vermutlich war das Original tatsächlich farbig. Die hervorragenden Zeichnungen entsprechen weitestgehend dem Funny-Stil in einem nicht allzu abstrakten Ausmaß, die Panel-Grids sind variabel.

In den fantasievoll gestalteten Geschichten in unterschiedlichsten Settings von Sword-&-Sorcery-Fantasy bis Science-Fiction-Welten geht es stets um Sex in unterschiedlichen Variationen mit einer meist augenzwinkernden Pointe. Weibliche wie männliche Geschlechtsorgane sowie die Sexualakte wurden in der Regel in aller Deutlichkeit gezeichnet, was dem Band den Hinweis „Nur für Erwachsene“ einbrachte. Angenehmerweise sind die Geschichten weit von jeglichem Altherrenhumor oder nichts außer Fremdscham erregendem Sexismus entfernt und trotz ihrer Ausrichtung auf die Sexualität keinesfalls so plump wie befürchtet.

Der Comicgenuss wird indes leider empfindlich durch die schlampige, offenbar gänzlich unlektorierte, weil von zahlreichen Rechtschreibfehlern gezeichnete Übersetzung getrübt, die Foglios Arbeit primitiver erscheinen lassen, als sie ist. Die neun Kurzgeschichten sind ein kurzweiliger, erotischer Spaß, die deutsche Edition hingegen ist, trotz des ersten hochwertigen Eindrucks aufgrund des festen Einbands und des guten Papiers, mangelhaft.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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