Körper und Seele - Ildikó Enyedi (2017)

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Salvatore Baccaro
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Körper und Seele - Ildikó Enyedi (2017)

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Originaltitel: Testről és lélekről

Produktionsland: Ungarn 2017

Regie: Ildikó Enyedi

Darsteller: Alexandra Borbély Géza Morcsányi,Réka Tenki, Zoltán Schneider, Ervin Nagy, Itala Békés, Éva Bata


Eine der ergreifendsten Eröffnungsszenen seit Langem: Hirsch und Hirschkuh stapfen durch den winterlichen Wald. Sie bleibt stehen. Er dreht sich zu ihr um. POV-Shots der beiden Tiere. Er kehrt zu ihr um, scheint sie zu fragen, was denn der Grund für ihr Zögern sei. Kurz schnuppern sie aneinander. Dann folgt sie ihm doch wieder weiter durch den Schnee. Zum Schlachthof wiederum werden die ängstlich muhenden Rinder in einem viel zu engen Lastwagenfrachtraum transportiert. Blick einer Kuh hinauf zum Himmel, von dem sie ein paar Fetzen durch die Gitterstäbe erhaschen kann. POV-Shot des Stückchens Freiheit, das sie sieht. Großaufnahme ihres Auges. Ein paar Minuten später knallen die Bolzenschüsse und sprudelt das Blut aus den Kehlen.

Die mir zuvor unbekannte ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi hat mit ihrem Debut-Film AZ ÉN XX. SZÁZADOM 1989 offenbar einen international beachteten Erfolg verbuchen können, dessen optimistische Farben sich auffallend abgehoben haben von der apokalyptischen Tristesse, die viele andere aktuelle Filme der sogenannten Ostblockstaaten zu dieser politisch aufwühlenden Zeit versprühten. Danach scheint es lange Jahre still um Frau Enyedi geworden zu sein, weshalb TESTRÖL ÉS LÉLEKTRÖL – immerhin ihr erster Langfilm seit 1998 – im Feuilleton als überraschendes Comeback gehandelt wird. Ich handle dieses Juwel indes in meiner derzeitigen Euphorie als einen der schönsten Liebesfilme, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe.

Endre ist Finanzdirektor eines Budapester Schlachthofs, Mária die neue Qualitätskontrolleurin. Er ist einige Jahre älter als sie und leidet unter einem körperlichen Handicap, das ihn seinen linken Arm nicht bewegen lässt. Sie wiederum ist Asperger-Autistin, verfügt zwar über ein exorbitantes Gedächtnis für Namen, Dinge, Fakten, jedoch über kaum zwischenmenschliche Kompetenz. Beide teilen neben ihrem Arbeitsplatz noch zwei weitere Dinge: Zum einen führen Chef und Angestellte gleichermaßen recht eremitische Leben – Endre hat sich seit Jahren schon in die Isolation seines Büros zurückgezogen, und unterhält höchstens in der Schlachthof-Kantine Kontakt zu ein paar Kollegen; Mária scheint keinerlei soziales Umfeld zu besitzen, das nicht aus ihrem Kinder- und Jugendpsychiater besteht, den sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch regelmäßig aufsucht –; zum andern träumen sie unabhängig voneinander jede Nacht denselben sich kontinuierlich fortsetzenden Traum: Er ist ein Hirsch, der zusammen mit einer Hirschkuh durch einen winterlichen Wald stapft, den Boden nach Essbarem absucht, sich mit ihr zusammen einen Drink bei einer Wasserstelle genehmigt; sie ist eine Hirschkuh, die zusammen mit einem Hirsch durch einen winterlichen Wald stapft. Allein wie unsere Helden herausfinden, dass sie sich schlafend im Rotwildpelz begegnen, ist eine jener absurden Volten des Drehbuchs, für die ich diesen Film innigst liebe.

Aufregend klingt das nicht, und ist es wahrscheinlich auch nicht. Aber dafür durchzogen von einer stillen Schalkhaftigkeit, von einem zutiefst liebevollen Blick auf verschrobene Figuren, von den Kitsch weiträumig umschiffenden Darstellung einer unschuldig knospenden Liebe, von träumerischen Aufnahmen von Flora und Fauna, nicht zuletzt von Schauspielern, die noch die unscheinbarste Nebenrolle mit Leben füllen und einem Stil, den ich als introvertierten Magischen Realismus bezeichnen würde, wenn ich mich denn unbedingt auf einen Begriff festlegen müsste. Bleibt mir vom Hals mit PRETTY WOMAN, mit LOVE STORY, mit LA LA LAND! Stattdessen ist TESTRÖL ÉS LÉLEKTRÖL vielleicht der schönste Liebesfilm, den ich jemals zu Gesicht bekommen habe.
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