O Terror da Vermelha - Torquato Neto (1972)

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Salvatore Baccaro
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O Terror da Vermelha - Torquato Neto (1972)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: O Terror da Vermelha

Produktionsland: Brasilien 1972

Regie: Torquato Neto

Cast: Edmar Oliviera, Arnaldo Albuquerque, Maria Salomé da Cunha Araújo, Geraldo Cabeludo, Torquato Neto, Carlos Galvão


…und zum Jahresausklang habe ich mir mit Toquato Netos O TERROR DA VEMELHA aus dem Jahre 1972 dann noch einen der ungewöhnlichsten Filme meines persönlichen Sichtungsjahrs 2023 gegönnt.

Zu den Hard Facts: O TERROR DA VERMELHA ist die einzige erhaltene Regiearbeit des brasilianischen Dichters, Songtexters, Kritikers Torquato Neto. Gedreht wurde in seinem Geburtsort Teresina im Bundesstaat Piauí auf Super-8 ohne das geringste Budget, stattdessen mit Freunden aus der Literatur-, Kunst- und Schmalfilmszene oder auch den eigenen Eltern vor der Kamera. Erstmals öffentlich gezeigt wird O TERROR DA VEMELHA allerdings erst fast 30 Jahre nach der letzten Klappe im Rahmen der Ausstellung „Marginalia 70 – O Experimentalismo no Super-8 Brasileiro“, mit der sich das Kulturinstitut „Itaú Cultural“ in São Paulo, wie der Titel schon sagt, erstmal ausführlich der Super-8-Szene im Brasilien der frühen 70er widmet. Selbst fertigmontiert hat Neto seinen Film nicht, denn nur einen Tag nach seinem 28. Geburtstag sprich, kurz nach Ende der Dreharbeiten, suizidiert sich der seit Jahren unter Drogenmissbrauch, unter psychischen Problemen und unter den Repressionen der Militärdiktatur leidende Poet. Anlässlich von „Marginalia 70“ wird O TERROR DA VERMELHA in gleich zwei Fassungen vollendet: Für die eine zeichnet Netos Weggefährte Carlos Galvão verantwortlich, der in O TERROR DA VERMELHA für die Kamera zuständig gewesen ist und auch eine kleine Schauspielrolle übernimmt; die andere besorgt Netos Witwe Ana Maria Duarte – wobei letztere auch diejenige gewesen ist, die ich selbst gesehen habe. Duartes Version dauerte etwa 36 Minuten, hat die ursprünglich zwangsläufig stummen Bilder mit Popsongs angloamerikanischer Rockbands wie Alice Cooper, den Moody Blues oder gar Gentle Giant unterlegt, greift aber auch auf Liedgut der brasilianischen protestkulturellen Tropicália-Szene beispielweise von Caetano Veloso zurück, für die Neto die Lyrics verfasst hat. Auch wenn O TERROR DA VEMELHA zu Lebzeiten Netos und auch lange nach seinem Tod nur einem kleinen Kreis Eingeweihter zugänglich gewesen ist, hat der gerade auch durch sein frühes Ableben zum Idol der brasilianischen Gegenkultur avancierende Schriftsteller nichtsdestotrotz seine Fußstapfen im Underground-Kino Brasiliens hinterlassen. Zwei Jahre vor O TERROR DA VEMELHA nämlich spielt er die Titelfigur in Ivan Cardosos ebenfalls auf Super-8 gedrehtem Wunderwerk NOSFERATO NO BRASIL, wo er mit langer Mähne, Dracula-Cape und unstillbarem Blutdurst für eine knappe halbe Stunde die Strände der Copacabana mit Furcht und Schrecken überzieht.

Sowohl strukturell wie ästhetisch wirkt O TERROR DA VERMELHA wie ein Pastiche dieses Frühwerks von Cardoso, der sich im Laufe der 70er und 80er zu einer wichtigsten und witzigsten Stimmen des brasilianischen Horrorkinos mausern wird: Wie NOSFERATO NO BRASIL besteht auch Netos Film aus weitgehend unzusammenhängenden Vignetten, die größtenteils improvisiert anmuten, so, als hätten die Beteiligten vor und hinter der Kamera ohne fixes Drehbuch einfach eine spaßige Zeit verlebt; wie NOSFERATO NO BRASIL ist auch Netos Film voll hintersinnig-ironischer Anspielungen auf die westliche oder einheimische Popkultur, wenn es klare inszenatorische Verweise beispielsweise auf Duellszenen in Italowestern gibt oder wenn sich die Hauptfigur in derselben Geste über die Lippen reibt, wie es Jean-Paul Belmondo ikonisch in Godards À BOUT DE SOUFFLE tut; wie NOSFERATO NO BRASIL stellt auch Netos Film eine zwischen Schalk und Ernst hin und her pendelnde Genre-Dekonstruktion dar, wenn in bester Camp-Manier ein Serienkiller durch die Gassen von Netos Heimatstadt streift, wo er wahl-, sinn- und ziellos sowohl männliche wie weibliche Passanten um die Ecke bringt. Abtun kann man gerade diesen reduktiven Plot entweder als primitive Abfolge von Verfolgungs- und Mordszenen ohne Mehrwert, oder das Ganze aber als, vor allem in Anbetracht des Zeitkontextes, als zynischen Kommentar auf den extrem repressiven, mit Zensur und Folter keineswegs geizenden brasilianischen Staat Anfang der 70er lesen – oder eben als eine bewusst ambivalente Mixtur aus beidem.

Tatsächlich sollte die Sprengkraft, die mit dem Status Quo unzufriedene Künstler wie Torquato Neto in Super-8 sehen, nicht unterschätzt werden. Aus Netos eigener Feder sind Texte überliefert, in denen der Lyriker den Schmalfilm als demokratisches Medium feiert, als eine Möglichkeit, dem staatlich finanzierten Kommerzkino etwas entgegenzusetzen, eben weil man, um einen Super-8-Film zu drehen, keine Säcke voller Geld, kein ausgefeiltes technisches Know-How, keine Dreherlaubnis von staatlichen Stellen braucht. Als audiovisuellen Ziegelstein, den Neto mitten hinein in die Fenster von althergebrachten Moral- und Wertevorstellungen schleudert, dürfte O TERROR DA VERMELHA, hätte ihn denn seinerzeit überhaupt jemals jemand außerhalb von Netos eigener Bubble zu Gesicht bekommen, sicher ganz gut funktioniert – und es fällt nicht schwer, die Blutspur, mit denen Netos serienkillende Hauptfigur die Gassen von Teresina sprenkelt, als Allegorie auf den literweise Lebenssaft zu verstehen, den die Militärregierung zu diesem Zeitpunkt schon bald seit einem Jahrzehnt vergießt. O TERROR DA VERMELHA erzählt von einer wahren Outlaw-Gesellschaft: Es gibt keine Geschichte, keine Moral, nicht mal irgendeine Logik hinter den einzelnen Tötungsakten. Am hellen Tag attackiert der Schlächter arglose Frauen, um sie brutal niederzustechen; ebenso arglos herumstehende Jünglinge erhalten hinterrücks Schläge mit Steinen gegen den Hinterkopf, dass sie zusammenbrechen; zwischendurch chillt der Killer in der Tropensonne und tankt Kräfte für den nächsten Mord. Das Schwelgen Netos in derlei Gewalttaten, die gerade wegen ihrer völligen Unmotiviertheit und Kontingenz so verstörend wirken, bekommt freilich noch eine ganz andere Note, wenn man bedenkt, dass der Mann hinter O TERROR DA VERMELHA sich nur wenige Tage nach Ende der Dreharbeiten das Leben nehmen wird, indem er sich im eigenen Badezimmer vergast.

Erstaunlich finde ich, wie sehr O TERROR DA VERMELHA bereits an einschlägige Amateur-Splatter-Streifen der späten 80er, frühen 90er erinnert. Neben noch sehr primitiven, aber reichlich ketchuplastigen Splatter- und Gore-Effekten verbrüdert sich Netos Film mit Machwerken wie Andreas Schnaas‘ VIOLENT SHIT allein schon dadurch, dass wir uns größtenteils von Mordszene zu Mordszene hangeln, ohne dass der Täter mehr wäre als ein amoklaufender Irrer, die Opfer mehr wären als Kanonenfutter. Ebenso verbindet beide Filme natürlich, dass sie auf Material gedreht wurden, das das Gegenteil von Hochglanzkino darstellt: Schnaas‘ verwackelte VHS-Bilder kann man problemlos als Fortschreibung der ebenfalls aus dem Stegreif geboren wirkenden Super-8-Aufnahmen Netos akzeptieren. Inhaltlich freilich klafft da doch eine tiefe Kluft zwischen einer nun wirklich bloß auf reines Gemetzel versessenen Orgie wie VIOLENT SHIT: Selbst wenn man nichts weiß über die gesellschaftlich-politischen Hintergründe, die zum Verständnis eines Films wie O TERROR DA VERMELHA eigentlich unabdingbar sind, fällt schnell auf, dass Neto doch mehr zu wollen scheint als sich einfach nur in Mord und Totschlag zu suhlen. Immer wieder beispielsweise unterbrechen Texttafeln das Treiben, die kryptische Verse aus Netos eigenen Gedichten und Manifesten einstreuen; eine sowohl amüsante wie mitreißende Szene zeigt minutenlang eine halbwüchsige Nichte Netos, die vor der Kamera ein leidenschaftliches Tänzchen hinlegt; persönlich und autobiographisch mutet es ebenfalls an, wenn Neto seine eigene Mutter beim Wäscheaufhängen filmt, oder wenn die Super-8-Kamera auch einfach mal durch die Straßen seines Geburtsort schweift, so, als wolle Neto Orte seiner Kindheit und Jugend besuchen, die sich für ihn mit ganz bestimmten Erinnerungen verbinden.

Neben seiner offensiven Blutrünstigkeit besitzt O TERROR DA VERMELHA demnach auch melancholisch-nostalgische Momente, die den Film, gerade eingedenk Netos frühen Todes, wie einen Abschiedsbrief in Form von Bewegtbildern wirken lassen: Neto rechnet brutal mit den politischen Zuständen in Brasilien ab; Neto sucht, bevor er sich das Leben nimmt, nochmal den Ort auf, in dem er geboren worden ist; Neto setzt denen und dem ein Denkmal, das ihn überleben soll: seine Nichte, seine Freunde, seine Eltern, seine Lyrik, letztlich auch O TERROR DA VERMELHA als sein filmisches Vermächtnis. Allmählich kommt mir die brasilianische Super-8-Szene der 70er wie ein Füllhorn vor, in das man nur blind greifen muss, und schon fischt man etwas heraus, an dessen Funkeln man sich eine ganze Weile ergötzen kann…
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