The Dance of Reality - Alejandro Jodorowsky (2013)

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Salvatore Baccaro
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The Dance of Reality - Alejandro Jodorowsky (2013)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

The Dance of Reality

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Originaltitel: La Danza de la Realidad

Produktionsland: Chile, Frankreich 2013

Regie: Alejandro Jodorowsky

Darsteller: Brontis Jodorowsky, Pamela Flores, Jeremias Herskovits, Alejandro Jodorowsky, Adan Jodorowsky, Axel Jodorowsky

Im Vorwort zu seinem erstmals 1992 erschienen Roman DONDE MEJOR CANTA UN PÁJARO (dt. Titel: WO EIN VOGEL AM SCHÖNSTEN SINGT), in dem der chilenisch-mexikanisch-französische Schriftsteller, Filmemacher und Psychomagier Alejandro Jodorowsky die Geschichte seiner Großeltern nachzeichnet, heißt es: „Alle Personen, Orte, Ereignisse – auch wenn manchmal die Chronologie nicht stimmt – sind wirklich. Aber diese Wirklichkeit wird umgestaltet und bis zum Mythos verklärt. Unser Stammbaum ist einerseits die Falle, die über unseren Gedanken, Gefühlen, Wünschen und materiellen Möglichkeiten zuschnappt, und andererseits die Schatzkammer, welche den größten Teil unserer Werte birgt. Das vorliegende Buch ist nicht nur ein Roman, sondern es will auch als Beispiel dienen, dem, fall es gelungen ist, jeder Leser folgen soll, um durch Verzeihen seine Familiengeschichte zur Heldensage zu machen.“ Dass etwas nicht faktisch wahr sein muss, um auf einer höheren, spirituellen Ebene dennoch wahr zu sein, ist eine Programmatik, die man problemlos auch auf LA DANZA DE LA REALIDAD anwenden kann. In seinem ersten Film seit dreiundzwanzig Jahren geht Jodorowsky nun nämlich einen Schritt weiter in die Gegenwart, schildert die Geschichte seiner Eltern, seine eigene Kindheit, Momente, die, scheint es, Initialzündungen für seinen späteren, durchaus verschrobenen Lebensweg gewesen sind.

Ich muss zugeben, es hat eine Weile, vielleicht zwanzig Minuten, gedauert bis ich mich mit dem hypermodernen HD-Look des Films hab anfreunden können, und eine Szene relativ zu Beginn hat mich außerdem schon das Schlimmste befürchten lassen. Der kleine Alejandro, aufwachsend in einem ebenso kleinen, unbedeutenden Küstendorf Chiles, hat, trotz der Verbote seines gestrengen Vaters, der ihn, indem er ihn psychischer und physischer Torturen aussetzt, zu einem echten Mann erziehen möchte, der jedem Schmerz unberührt ins Gesicht lacht, Freundschaft mit dem sogenannten Theosophen geschlossen, einem Guru, der ihn singend in die Weisheiten des Fernen Ostens einweist. Am Strand ist Alejandro Zeuge einer mythischen Urszene, für die er selbst die Schuld trägt. Er wirft einen Stein in den Ozean, worauf der Theosoph ihm im Gewissen redet: er solle das nicht tun, er könne damit sämtliche Fische erschlagen. Alejandro aber hält sich nicht an die Warnung, wirft weiter, worauf eine gigantische Welle gegen die Küste brandet und Berge unzähliger toter Meeresbewohner ausspeit. Noch zappelnd bedecken diese nun den halben Strand, was zwangsläufig Möwen anlockt, die sich gierig kreischend über die wehrlose Beute hermachen. Hinter Alejandro dem Kind steht nun auf einmal Alejandro der Greis, der sein früheres Selbst in die Arme schließt und erklärt, zu diesem Zeitpunkt habe er sich die unglaublich schöne Frage gestellt, ob er denn nun Mitleid mit den toten Fischen haben oder gemeinsam mit den Möwen deren unbändige Freude empfinden solle. Ich merke selbst: auf dem Papier hört diese Szene sich großartig an, ihre Umsetzung indes hat für mich nicht mit ihrem Inhalt mithalten können. Es liegt an einem einzigen Fakt: Jodorowsky macht ausgiebig Gebrauch von Spezialeffekten aus dem Computer, sprich: sowohl die Möwen wie auch die Fische und freilich vor allem die monumentale Welle entspringen allesamt dem Rechner und verhehlen das nicht nur schlecht, sondern gar nicht. Nach einer gewissen Tragik schmeckt es zu wissen, dass diese Szene, so wichtig und weise sie auch sein mag, in wenigen Jahren bereits zernagt sein wird vom Zahn der Zeit. Wo EL TOPO oder MONTANA SACRA in ihren besten Momenten quasi zeitlos sind, im wahrsten Sinne des Wortes mythische Filme, deren Bilder die Menschen, sofern es sie dann noch geben sollte, in Jahrhunderten verstehen oder eben nicht verstehen werden, da hat Jodorowsky mit seinen computeranimierten Vögeln und Fischen ein Zugeständnis gegeben, das LA DANZA DE LA REALIDAD allein schon rein optisch in einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Illusionserzeugungsmaschinerie verortet. Andererseits: vielleicht ist ihm die Szene auch derart wichtig gewesen, dass er alles in Kauf genommen hätte, um sie zu verwirklichen.

Zum Glück wird sich Jodorowsky zudem in den folgenden zwei Stunden niemals mehr derart exzessiv solcher Spezialeffekte bedienen. Von nun an zerfällt der Film in zwei Hälften, deren erste sich episodenhaft mit den Alltagssorgen des kleinen Alejandro befasst. Ein bisschen erinnert LA DANZA DE LA REALIDAD dabei an Fellinis AMARCORD und Arrabals VIVA LA MUERTE. Mit beiden Filmen teilt er diesen fragmentarischen, collagenhaften, teilweise ordentlich grotesk verzerrten Blick in die Kindheit, der bei Fellini wehmütig-nostalgisch-amüsant ausfällt und bei Arrabal ein einziger wütender, qualvoller Schrei ist. Bezeichnend ist, dass Jodorowkys Alterswerk nicht so sehr auf Seiten seines ehemaligen Paniktheater-Weggefährten steht, sondern tatsächlich mehr mit Fellini eint. Sicher, Alejandro leidet unter seinem despotischen Vater, bei seinen Schulfreunden ist er, unter anderem, da er als Jude keine Vorhaut mehr besitzt, nicht besonders gut angesehen, einziger Lichtblick ist seine üppige Mutter, die jede ihrer Dialogzeilen als Operngesang intoniert, dennoch: verstörend wie VIVA LA MUERTE wird der Film zu keinem Zeitpunkt, stattdessen herrscht die Atmosphäre einer durch Kinderaugen betrachteten Welt vor, in der es vor Wunden nur so sprießt und die sogenannte Wirklichkeit prinzipiell in jedem Moment einfach auseinanderbrechen kann. Obwohl Jodorowsky versöhnlicher, milder inszeniert – mit dem Radikalismus eines EL TOPO hat vorliegender Film allein, was die Mengen an vergossenem Blut betrifft, nicht mehr allzu viel zu tun -, ist es nichtsdestotrotz eindeutig sein Kosmos, seine Handschrift, in dem LA DANZA DE LA REALIDAD eine Seltsamkeit an die nächste reiht. Es wimmelt von Zirkusclowns, von Transvestiten, von Menschen, die in herkömmlichen Filmen nicht gezeigt werden würden: Männer ohne Arme, ohne Beine beispielweise, die am Rand der Stadt eine Kommune unterhalten, und ständig von Polizeitruppen verfolgt, verprügelt, verschleppt werden. Es wimmelt von vielen kurzen, momenthaften Einstellungen, Szenen, Geschichten, die dazu tendieren können, einen unvorbereiteten Zuschauer in ihrer Fülle zu überfordern. Die Zielscheibe von Jodorowskys Kritik hat sich in all den Jahren nicht verändert: Kirche und Militär werden ins Lächerliche gezogen, und überhaupt jede festgefahrene Ideologie, die die Phantasie erstickt. Sein Vater ist anfangs Teil einer solchen, hat ein übergroßes Bild Stalins in dem Krämerladen hängen, den sie in dem Örtchen Tocopilla unterhalten, ist darauf bedacht, in der Öffentlichkeit nicht mal den Anflug einer Schwäche zu zeigen, pinkelt auf ein Radio, weil es die falschen politischen Nachrichten sendet und zeigt sich davon, dass Alejandro bei einer Parade der örtlichen Feuerwerk, als deren Maskottchen er fungiert, von Wahnvorstellungen übermannt zusammenbricht, derart getroffen, dass er beschließt, durch ein politisches Attentat seinen Ruf wiederherzustellen. Bis hierhin hat LA DANZA DE LA REALIDAD ausschließlich aus der Sicht des jungen Alejandro heraus erzählt, nun wird sein Vater zur eigentlichen Hauptperson, Sohn und Gattin finden bloß noch am Rande statt, und der Film folgt der abenteuerlichen Odyssee vom vermeintlichen Attentäter bis hin zum gottergebenen Zimmermann.

Es wäre natürlich kein Film Jodorowskys, wenn seine Bilder nicht immer mal wieder Grenzen überschreiten würden, die die meisten Zuschauer tunlichst gewahrt wissen wollen. Eine Szene, in der Übergangsphase zwischen erstem und zweitem Teil, handelt von einer eigenwilligen Wiedererweckung des totkranken Jaimes durch Alejandros Mutter Sara. Fernab jeglicher Spezialeffekte hockt die Dame sich über ihren im Sterben auf dem Boden liegenden Gatten und uriniert ihm auf den nackten Körper. Eine spätere Szene setzt Jaime, in die Fänge der chilenischen Militärregierung geraten, äußerst unangenehm ausschauender Penisfolterungen auf. Interessant ist, dass Jodorosky in einem anderen Moment eingesteht, durchaus selbst Tabus zu besitzen, die er niemals brechen würde. Er selbst als Kind und seine Schulkameraden sitzen wichsend am Strand, bzw. jeder reibt einen Holzknüppel, der in schlichtem Symbolismus stellvertretend für den jeweiligen Penis steht. Der von Alejandro sieht, da er beschnitten ist, anders aus als die anderen, und obwohl er sich noch so sehr bemüht, ihn kräftig zu reiben, wird er ausgelacht und aus der Gruppe verstoßen. Gerade diese Szene macht deutlich, was LA DANZA DE LA REALIDAD von Anfang bis Ende durchzieht. Zunächst: dieser Film berichtet ehrlich und offen von Dingen, über die wir viel zu selten ehrlich und offen sprechen. Dabei bedient er sich einer mehr oder minder durchschaubaren Symbolik, die einerseits dazu dient, diese Dinge sowohl zu verschlüsseln als auch noch deutlicher zu machen, was eigentlich mit ihnen gemeint ist. Dazwischen steckt ein Humor, der vielleicht nicht jedem behagen wird und der sich aus solchen absurden Momenten wie eben dem speist, der mehrere Schulbuben zeigt, die emsig Holzprügel wichsen.

Gerade das ist es wohl auch, was Jodorowsky mit der Fixierung auf seine Familiengeschichte verdeutlichen möchte. Es ist seine Geschichte, die von niemandem sonst. Dennoch kann man aus seiner eigenen Geschichte, wenn man sie durch einen symbolischen Fleischwolf dreht, etwas Universelles machen, das vielleicht nicht zu allen Menschen spricht, doch zumindest zu mehr als den paar wenigen, die direkt zu dieser Geschichte gehören. Das muss indes nicht belehrend, von oben herab geschehen. Jodorowsky schreibt seine Memoiren nicht in dem Duktus, mir unbedingt etwas beibringen zu wollen. Er geht mit Ironie zu Werke, mit viel Augenzwinkern und, zumindest in LA DANZA DE LA REALIDAD, mit einer gewissen großväterlichen Sorglosigkeit, die zu sagen scheint, dass alles gut ist wie es ist, dass er seine Vergangenheit nicht bereut, da sie unmittelbar zur Gegenwart hat hinführen müssen. Der Film wirkt zwar wie ein Abschied vom Leben, jedoch kein verzweifelter Suizidbrief, sondern ein zusammenfassender Blick zurück, dem jede Erinnerung Anlass zum Staunen gibt. LA DANZA DE LA REALIDAD ist möglicherweise Jodorowskys realistischer Film, nur ist es eben eine Realität, die tanzt, und am Schluss, wenn der geläuterte Vater zur Familie zurückkehrt und man gemeinsam Chile verlässt, bin ich so sehr ausgesöhnt mit den Möwen und Fischen zu Beginn, mit dem HD-Look, mit mir selbst und meinem Leben, dass ich Jodorowsky auf seine alten Tage für dieses Tänzchen nur noch danken kann.
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Arkadin
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Re: The Dance of Reality - Alejandro Jodorowsky (2013)

Beitrag von Arkadin »

Weiß man eigentlich schon, ob der hierzulande veröffentlicht wird?
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Salvatore Baccaro
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Re: The Dance of Reality - Alejandro Jodorowsky (2013)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Arkadin hat geschrieben:Weiß man eigentlich schon, ob der hierzulande veröffentlicht wird?
Davon weiß ich leider nichts und ich frage mich zudem, was die deutschen Zensoren zu den in meinem kleinen Bericht schon angedeuteten on-screen-pissing- und c*ck-and-ball-torture-Szenen sagen werden...
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jogiwan
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Re: The Dance of Reality - Alejandro Jodorowsky (2013)

Beitrag von jogiwan »

Der junge Alejandro erlebt eine unglückliche Kindheit in den kleinen Küstenort Tocopilla, wo er zwischen kommunistischen und brutalen Vater Jaime und seiner liebevollen, aber schwachen Mutter heranwächst. Während ihn seine Mutter verhätschelt, befürchtet der Jaime, dass der Junge verweichlichen könnte und lässt ihm eine sehr lieblose Erziehung mit militärischen Drill zukommen und auch sonst sucht der Junge als Sohn von Zuwanderern eher vergeblich Anschluss. Alejandros Versuche die Welt zu verstehen werden von seinem strengen Vater und seinen Vorstellungen torpediert, der wenig später als politischer Attentäter in die Geschichte des Landes eingehen möchte…

Wer hätte gedacht, dass Alejandro Jodorowsky nach seinem „Rainbow Thief“ und jahrzehntelangen Schaffenspause noch einmal so derart glanzvoll die Kurve bekommt? „Dance of Reality“ ist nicht nur eine Art „Best-of“ seiner bisherigen Filme (ohne Regenbogendieb), sondern wohl genau die Art von Film, die sich jeder Fan insgeheim auch heute noch von dem chilenischen Regisseur gewünscht, aber wohl nicht mehr erwartet hat. Ohne viele Kompromisse oder Zugeständnisse und wohl basierend auf eigenen Kindheitserlebnissen und –empfindungen zaubert uns der Regisseur ein Wechselbad der Gefühle bzw. zweistündiges Panoptikum aus schönen, hässlichen, brutalen, sanften und surrealen Momenten auf den Schirm, das gleich von Beginn an die unnachahmliche Handschrift Jodorowskys trägt und den Zuschauer in die Welt einer Militärdiktatur versetzt, in der ein Junge als Außenseiter zwischen seinem strengen Vater und liebevoll-entrückter Mutter aufwächst. Die Geschichte ist dabei meines Erachtens überraschend zugänglich und teils auch etwas belehrend erzählt und fast scheint es, als wäre Jodorowsky über die Jahre etwas altersmilde geworden, was sich aber relativ rasch relativiert, wenn sich dem Zuschauer Szenen präsentieren, die Zensoren und zartbesaiteten Menschen wohl ziemlich sauer aufstoßen dürften. Dass „Dance of Reality“ wohl nicht so schnell in Deutsch erscheinen dürfte, liegt jedenfalls nicht an seiner Qualität, sondern eher an seinem teils recht drastischen Inhalt, der jedoch niemanden überraschen dürfte, der auch mit dem bisherigen Output des streitbaren Regisseurs vertraut ist. Ich bin begeistert!
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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