L'Innocente - Luchino Visconti (1976)
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L'Innocente - Luchino Visconti (1976)
Originaltitel: L'Innocente
Regie: Luchino Visconti
Herstellungsland: Italien 1976
Darsteller: Giancarlo Giannini, Laura Antonelli, Jennifer O'Neill, Rina Morelli, Massimo Girotti, Didier Haudepin, Marie Dubois
Spätestens seit LA CADUTA DEGLI DEI hat Luchino Visconti sich vollends in einem Stil versenkt, der einer vergangenen Epoche anzugehören scheint, und der zwar zurückverfolgt werden kann bis zu seinem Meisterwerk von 1963, IL GATTOPARDO, allerdings erst in seinen letzten Lebensjahren mit unermüdlicher Konsequenz ausagiert wurde. Viscontis Filme beschwören das Venedig des frühen 20.Jahrhunderts herauf, das Deutsche Reich in den Jahren 1933/34, das Zeitalter des bayrischen Märchenkönigs Ludwigs II., und bleiben dabei nahezu völlig in jenen Zeiten verhaftet, die sie bebildern. Sicher, die Leidenschaften der Menschen haben sich im Laufe der Weltgeschichte wohl kaum grundlegend geändert, einzig ihr Umgang mit ihnen bzw. die gesellschaftlichen Kontexte, in denen sie sie ausleben konnten oder eben nicht, ist einer Wandlung unterworfen, und die Themen, die Visconti seit 1969 behandelt, haben freilich eine Allgemeingültigkeit, die über ihre konkrete Verortung in einer bestimmten Epoche, zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt hinausweist, nichtsdestotrotz, und das ist der Punkt, nutzt Visconti seine geschichtlichen Stoffe nie, um mit ihnen einen direkten Kommentar auf die Gegenwart abzugeben. Im Gegensatz zu Rossellini, der sich zu jener Zeit dagegen verwehrte, Künstler genannt zu werden, und es lieber hatte, der Menschheit nützlich zu sein, indem er haufenweise Schulfernsehfilme über historische Ereignisse und Persönlichkeiten produzierte, ganz getreu der Devise, dass die Geschichte dazu da sei, aus ihr für die Jetzt-Zeit zu lernen, hat Visconti mehr von einem Chronisten an sich, der vorrangig schildert, illustriert, und es seinem Rezipienten offenlässt, welche exakte Lehre er aus seinen Filmen ziehen möchte. Dieses Abdriften in die Welten des Fin-de-siècle, des vor sexuellen Perversionen knisternden Nazi-Deutschland oder der pestschwangeren, melancholischen Atmosphäre des Thomas-Mann-Venedigs, unterstreicht selbst sein vorletzter Film, GRUPPO DI FAMIGLIA IN UN INTERNO, der als einziger aus seinem Spätwerk tatsächlich im Italien der 70er Jahre angesiedelt ist, der Moderne aber eine ultimative Absage erteilt, indem er sie schlicht kaum darstellt, sondern seine Handlung fast ausschließlich in einem Appartement ablaufen lässt, das einem Professor gehört, der selbst ein Relikt des Gestern ist, und es logischerweise mit Büchern, Gemälden, Möbeln vollstellte, die nichts mit der Welt zu tun haben, die sich außerhalb ausgebreitet hat. Eskapismus ist aber wohl nicht das richtige Wort, um Viscontis Schaffen in dieser Phase sinnvoll zu beschreiben. Visconti flieht nicht, er träumt auch nicht, er richtet einfach nur den Blick zurück, ganz im Sinne Novalis, wenn er schreibt:
“Helft uns nur den Erdgeist binden,
Lernt den Sinn des Todes fassen
Und das Wort des Lebens finden.
Einmal kehrt euch um!"
L'INNOCENTE nun vervollkommnet Viscontis Schauen in die ferne Vergangenheit, indem er es auf das Wesentliche reduziert. Es gibt keine Schauwerte mehr, keine großen Stars, keinen nackten Helmut Berger, keine Kulissen, die über mit allerlei archaischen Kunstwerken vollgestopften Villenzimmer hinausgehen würden. Visconti, kurz nach L'INNOCENTE verstorben und während den Dreharbeiten bereits schwer erkrankt, muss niemandem mehr etwas beweisen, er ist ganz bei sich, wenn er einen Roman des italienischen Schriftstellers Gabriele d'Annunzio verfilmt, der, wie sollte es anders sein?, in den 1890ern spielt, und von einem Grafen handelt, der seine Gattin schon seit eh und je mit der Routine eines Uhrwerks mit anderen Damen betrügt. Als er ihr dies offen bekennt und von ihr davon spricht, eine intimere Affäre mit seiner derzeitigen Geliebten einzugehen, die ihn angeblich verzauberte wie noch nie eine Frau zuvor, nutzt sein Eheweib die Gelegenheit, die ihr das zufällige Zusammentreffen mit einem jungen Dichter liefert und wird selbst zur Untreue. Da erst, als ihr Gatte wittert, dass sie ihn zum ersten Mal während ihrer Ehe hintergeht, erwacht in ihm ernstes Interesse an ihr. Das, was beginnt, sich ihm zu entziehen, will er umso leidenschaftlicher an sich binden. Eine große Versöhnung findet statt, jäh unterbrochen von dem Umstand, dass die Ehefrau von ihrem Liebhaber geschwängert wurde. Der Graf dringt darauf, sie solle das Kind abtreiben, zumal der eigentliche Vater inzwischen am Tropenfieber verschied. Seine Frau indes weigert sich...
Die Inhaltsangabe verspricht dabei genau das, was einen bei L'INNOCENTE erwartet. Viscontis Stil ist getragen, schwelgerisch, episch, theatralisch, wohl das genaue Gegenteil dessen, was im Jahre 1976 en vogue war, und ich finde es daher gar nicht unverständlich, dass L'INNOCENTE scheinbar bei Veröffentlichung kaum Resonanz erhielt und auch heute, soweit ich mich nicht irre, einzig in Großbritannien offiziell auf DVD erschienen ist, und auch sonst eher eine Außenseiterrolle in Viscontis Oeuvre innehat. Wer interessierte sich denn immerhin schon Mitte der 70er, nach der Umwälzung aller Werte und dem Heraufdämmern eines neuen Konservatismus nach der 68er Revolte, für die Eheprobleme eines Aristokratenpärchens Ende des letzten Jahrhunderts, selbst wenn ihm auch wieder allgemeine Themen wie bspw. die Konfrontation von de-Sadeschen-Libertinismus mit den moralischen Werten des Katholizismus behandelt werden, zumal eben, wenn das alles nicht zeitgemäß vermittelt wird, sondern die Form selbst schon eine Absage in sich verkörpert? Tatsächlich ist L'INNOCENTE derart old-fashioned, dass der Film nicht anders als ein Möbelstück aus dem 19.Jh. wirkt, das Erbstück der Urgroßeltern, ein Anachronismus in sich selbst, der hinter Vitrinenglas gehört, in eine Galerie der alten Meister, und nicht in einen modernen Kinosaal.
Visconti ist sich dessen natürlich bewusst, und unterstreicht allein dadurch, dass der Antiquitätenstatus von L'INNOCENTE Programm sein muss, indem er sich ausgerechnet eine Vorlage d'Annunzios auswählte, jenem Dichter, der in der ersten Hochphase des Italo-Kinos in den 1910er Jahren wie kein anderer Intellektueller Pate stand für die neue Kunstform, ihr Drehbücher widmete oder zumindest, wie bei Pastrones CABIRIA, seinen renommierten Namen dafür hergab, dass Filme mit ihm veredelt wurden, um einerseits für künstlerischen Anspruch zu bürgen und andererseits das dem einstigen Jahrmarktsvergnügen noch skeptisch gegenüberstehende bürgerliche Publikum überhaupt erst in die Lichtspieltheater zu locken. D'Annunzios Name ist mit dem frühen italienischen Kino regelrecht verwachsen, und Visconti weist unmissverständlich darauf hin, dass er mit L'INNOCENTE in eine Zeit zurückgreifen möchte, die vor dem, von ihm selbst mitinitiierten Neorealismus liegt, in eine Ästhetik, die nicht den Staub der öffentlichen Plätze atmet, sondern den der elitären Bühnen. Wunderschön bebildert er diesen Rückgriff gleich in der Titelsequenz: seine eigene vergreiste Hand, die Hand eines Mannes, die Filmgeschichte schrieb und in die sich die Weltgeschichte eingraviert, streckt sich nach einem Prachtband des D'Annunzio-Romans L'INNOCENTE von 1892, öffnet ihn, blättert langsam, in aller Ruhe, darin, mit dem Blättern das langsame Tempo vorgebend, das auch den folgenden Film bestimmen wird. Für mich ist Viscontis letzter Film die Apotheose seiner aristokratischen Ästhetik. Oder modern gesagt: ich fand den Streifen extrem chillig...