Thais - Anton Giulio Bragaglia (1917)

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Salvatore Baccaro
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Thais - Anton Giulio Bragaglia (1917)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Thais

Produktionsland: Italien 1917

Regie: Anton Giulio Bragaglia

Darsteller: Augusto Bandini, Alberto Casanova, Thaïs Galitzky, Ileana Leonidoff, Mario Parpagnoli, Dante Paletti

Eigentlich verwunderlich, dass der italienische Futurismus mit dem Kino während der Hochzeit der Bewegung in den 1910er/1920er Jahren auf nahezu ausschließlich theoretischer Ebene geflirtet hat. Obwohl Clan-Chef Marinetti unter anderem in seinem 1916er „Manifest des futuristischen Kinos“ nicht hinterm Berg hält, was seine Vision zukünftiger Experimentalfilme betrifft, die aufräumen mit den bürgerlichen Werten, der Literaturhörigkeit, der konventionellen Dramaturgie des zeitgenössischen Films, haben die Futuristen es bei einem einzigen Versuch belassen, ihre Schlagworte „Geschwindigkeit“ und „Simultaneität“ in bewegte, und nicht nur malerische oder literarische, Bilder zu transferieren: Bei dem leider verschollenen Streifen VITA FUTURISTA, ebenfalls 1916 produziert, scheint es sich, wie man zeitgenössischen Berichten und Selbstaussagen der Beteiligten entnehmen kann, um ein Sammelsurium von Slapstick-Sketchen gehandelt haben, die zumindest auf dem Papier wie etwas klingen, was man ein halbes Jahrhundert später auch Monty Python zugetraut hätte. „Wie Futuristen schlafen“ soll beispielweise ein Segment überschrieben gewesen sein, worin gezeigt wird, wie die Futuristen sich nicht horizontal, sondern vertikal in ihre Betten liegen. In weiteren Episoden pöbeln und bedrohen sie einen distinguierten Bürger vor einem Restaurant, da sie die konventionelle Weise provoziert, mit der er sein Mittagessen zu sich nimmt. Neben dieser von Arnaldo Ginna inszenierten Fingerübung jedoch sieht es reichlich mau aus, was dezidiert futuristisches Kino anbelangt. Wenn überhaupt, dann findet man futuristische Spurenelemente in einer Großstadtsymphonie wie STRAMILANO, die Corrado D’Errico 1929 für das Dokumentarfilminstitut LUCE produziert. Und selbst VELOCITÀ (1930) von Tina Cordero, Guido Martina und Pippo Oriani wird, trotz seiner unbestreitbar am Futurismus orientierten Ästhetik, ohne Beteiligung der offiziellen futuristischen Bewegung realisiert, die Anfang der 30er freilich schon den Großteil ihres Vitalismus eingebüßt hat.

Zugeordnet wird dem klassischen Futurismus innerhalb der Filmgeschichtsschreibung ein einziges Werk: THAIS entsteht 1917 unter der Regie Anton Giulio Bragaglias, der bereits zuvor hauptsächlich photographische Experimente anstellte, die Anfang der 1910er Jahre zum Konzept des „Fotodinamismo“ führen. Bragaglias Unternehmung, ganze Bewegungsabläufe in einem einzigen photographischen Bild zu fixieren, stößt jedoch nicht bei allen Mitgliedern des Futuristen-Clubs auf Zustimmung. Gerade Umberto Boccionis Ablehnung der Photographie als künstlerisches Medium führt dazu, dass Bragaglia in den innersten Kreis der Truppe keinen Zugang erhält. Auch sein einzig erhaltener Film THAIS weist sonst keine personellen Berührungspunkte zu der restlichen Bande um Marinetti und Boccioni auf, - wenn man einmal davon absieht, dass der futuristische Maler Enrico Prampolini für das Finale die Kulissen entwerfen durfte. Bragaglia hat mit Novissima eine eigene unabhängige Filmproduktionsfirma ins Leben gerufen, und steht zwischen 1917 und 1918 für insgesamt vier Filme hinter der Kamera, bevor man aufgrund mangelnder finanzieller Erträglichkeit die Pforten Novissimas wieder schließen muss. Von UN DRAMMA NELL’OLIMPIO (1917), IL MIO CADAVERE (1917) und PERFIDO INCANTO (1918) haben nicht einmal Szenenphotographien das Wüten der Zeit überdauert. Wenigstens mit THAIS meinte es das Schicksal etwas gnädiger: Immerhin 35 Minuten des Films sind der Nachwelt überliefert, und zwar in einer französischen Exportfassung, die scheinbar zwar einige Meter aus dem Originalstreifen extrahiert, ihn aber immerhin in seiner allgemeinen Dramaturgie weitgehend unberührt gelassen hat.

Stolpert man in der Sekundärliteratur über THAIS, dann wird der Film dort meist zum non-narrativen Avantgarde-Experiment ausgerufen, das die futuristische Programmatik vor allem in den atemberaubenden Set-Designs Prampolinis verwirklicht. Wessen Feder solche Sätze schreibt, der scheint mir jedoch nie bis zu einer tatsächlichen Kopie von THAIS vorgedrungen zu sein, erweist sich Bragaglias Film in der erhaltenen Fassung bis zur Dreißigminutenmarke doch als reichlich abgeschmacktes Melodram, das relativ unreflektiert zeitgenössische Muster und Strukturen des italienischen Diven-Kinos amalgamiert: Im Fokus der Story steht die slawische Gräfin Vera Preobajenska, genannt Thaïs, (so wie auch ihre Darstellerin Thaïs Galitzky mit Vornamen heißt, deren Filmographie einzig noch Bragaglias Nachfolgewerk PERFIDO INCANTO umfasst.) Dieser männermordende Vamp ist der Prototyp der Femme Fatale, die überall dort, wo sie auftaucht, den Herren der Schöpfung reihenweise die Köpfe verdreht, - und zwar durchaus im wahrsten Wortsinne: Schier endlos nimmt sich die Liste derjenigen Mannsbilder aus, die die Begegnung mit unserer Heldin nicht überlebt haben, sei es, dass sie im Duell mit einem Rivalen ihr Leben ließen, sei es, dass sie sich aus zurückgewiesener Liebe suizidierten, sei es, dass ihnen ihr gebrochenes Herz den Garaus machte. Thais‘ Herz wiederum ist bislang vor der Gefahr gefeit, auseinanderzufallen: Nie in ihrem Leben hat die unnahbare Schöne aufrichtig geliebt. Ihren Lebenssinn zieht die Gräfin stattdessen daraus, Liebhaber zu sammeln wie andere Menschen Jagdgeweihe oder Kunstwerke. Das ändert sich indes, als Thais auf den Grafen San Remo stößt. Anfangs ist auch dieser nur ein kurzweiliger Zeitvertreib für sie. Doch spätestens, als sie ihn in ihre mit futuristischen Objekten förmlich überladene Villa einlädt, spürt unsere Heldin, dass sie sich wesentlich stärker zu dem adretten Adligen hingezogen fühlt als zu irgendeinem Mann zuvor. Dass ihre Freundin, die Tänzerin Bianca, eigentlich mit San Remo liiert ist, und man eigentlich die baldige Hochzeit plant, stört Thais kein bisschen dabei, ihr Netz um den arglosen Grafen zu spinnen. Es kommt, wie es kommen muss: San Remo erliegt Thais‘ Verführungskünsten; Bianca, mit der Thais übrigens eine mindestens latent lesbische Kameraderie verbindet, erfährt vom Vertrauensbruch sowohl ihrer Busenfreundin wie ihres Liebsten; mit selbstmörderischer Absicht besteigt sie einen als besonders unberechenbar geltenden Hengst und reitet in den Tod, der sie nach einem Sturz vom Pferderücken in Form eines gebrochenen Genicks ereilt. Die Nachricht von Biancas Verscheiden öffnet Thais die selbstsüchtigen Augen: Mit unterkühlter Ergebenheit ins eigene Schicksal begibt sie sich in ein geheimes Gemach ihrer Villa, wo sie sich auf eine Weise das Leben nimmt, die meine Kinnlade gerade nach der vorherigen halben Stunde voller übertrieben-theatraler Gesten, voller unspektakulärer Partyszenen, voller generischer Gefühlsausbrüche unvermittelt in Sinkflug versetzte.

Bei Thais‘ Todeskammer handelt es sich um ein irritierendes Ensemble aus geometrischen Formen, aus okkulten Symbolen, aus scherenschnittartigen Katzen- und Eulensilhouetten, aus einem inmitten einer sich ins Endlose vervielfältigen Reihe von Quadraten Rauch ausspeienden Auge, aus kopfstehenden Dreiecken, schwirrenden Spiralen, den sowieso bereits mit mathematischer Präzision parzellierten Raum noch zusätzlich zergliedernden Gattern und Gittern. Auf den Druck eines unsichtbaren Knopfes hin wird Thais in ihren letzten Minuten zuerst von möglicherweise eine betäubende oder berauschende Wirkung entfaltenden Rauchschwaden umfangen, bevor sich etliche – und zwar wirklich etliche; ein ganzer Wald ist das! – stählerne Streben seitlich aus den Wänden schieben und unsere Heldin bei lebendigem Leib aufspießen. Anders gesagt: Die Architektur erhebt sich gegen ihre Schöpferin; die Kulissen entwickeln ein Eigenleben, um Thais förmlich zu zermalmen; aber nicht nur der Körper Thais wird in diesem Aufstand der leblosen Materie zerschmettert, sondern ebenso die triviale Geschichte, deren Zentrum sie gewesen ist.

Zwei Lesarten des Films halte ich dementsprechend für probat: 1) Um seine futuristischen Sensibilitäten irgendwie an den Mann oder die Frau zu bringen, hat Bragaglia sie mit einer mainstreamig-melodramatischen Geschichte verrührt, die einerseits als Vorwand für die wundervollen Kulissen Prampolinis dient, andererseits die Funktion hat, das zeitgenössische Publikum nicht allzu arg vor den Kopf zu stoßen und bei aller Experimentierfreude im Finale doch dort abzuholen, wo es steht, nämlich knietief im Groschenroman. 2) Um seine futuristischen Sensibilitäten zu entfalten, bedient sich Bragaglia der mainstreamig-melodramatischen Geschichte, um sein Publikum zunächst in Sicherheit zu wiegen, sie einzulullen mit Trivialität, nur um sein wahnwitziges Finale, wenn es dann endlich über die kolportagehafte Handlung hereinbricht, umso mehr wie ein Stachel wirken zu lassen, der einen wie ein Insekt am Kinosessel festpinnt.

Aber wie dem auch sei: Näher an eine Vorstellung davon, wie das wohl ausgesehen hätte, wenn Verrückte wie Marinetti Ende der 1910er Jahre das Steuer der italienischen Filmindustrie an sich gerissen hätten, kommt man wohl nie als wenn man sich THAIS anschaut, dieses zugleich enttäuschte und entzückende Werk, das so unausgegoren und unberechenbar ist, dass die etablierte Filmgeschichte es gemeinhin verschweigt wie ein uneheliches Kind...
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