bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Die verrückten 90er – Das Turbo-Jahrzehnt der Deutschen

„Das schnellste Jahrzehnt der Deutschen.“

Mit der rund eineinhalbstündigen Dokumentation „Die verrückten 90er – Das Turbo-Jahrzehnt der Deutschen“ unterbrach WDR-Redakteur Heiko Schäfer die Chronologie seiner Reihe: Waren auf „Die verrückten 80er“ noch die „Die verrückten 70er“ gefolgt, musste man auf „Die verrückten 60er“ bis ins Jahr 2021 warten, denn zunächst nahmen er und sein Team sich die 1990er vor. Der Film wurde im Jahre 2017 erstausgestrahlt. Mit stärkerem lokalen Bezug vertiefte der WDR das Thema zwei Jahre später innerhalb der zehnteiligen Dokureihe „Unser Land in den 90ern“, während ZDF Info den Dreiteiler „Die 90er – Jahrzehnt der Chancen“ sendete. Vorausgegangen war Schäfer die NDR-Doku „Einfach krass! Die coolen 90er“ aus dem Jahre 2016, deren Ausstrahlung auch unter anderen Titeln wiederholt wurde (und mir leider noch unbekannt ist, die aber starke Inhaltliche Parallelen zur Melanie Didiers WDR-Doku „Jung in den 90ern – Gameboy, Girlies, Glücksgefühle“ bis hin zu den kommentierten Studiogästen aufzuweisen scheint).

Konzeptionell bleibt Schäfer sich treu, scheint sich mir diesmal lediglich noch strenger an die Chronologie des Jahrzehnts zu halten: Vermischtes Unterhaltsames und Wissenswertes aus Politik und Gesellschaft, Popkultur und Boulevard, Sport, Wirtschaft etc. wird zu einem bunten Panoptikum geschnürt und in Form zahlreicher Originalaufnahmen, wie sie in den 1990ern über die Mattscheiben flimmerten, unterschiedlichen prominenten Gästen gezeigt, die diese, unterstützt von Off-Stimme Susanne Hampl, kommentieren. Bei diesen handelt es sich diesmal um die Humoristin Tahnee Schaffarczyk sowie die Humoristen Torsten Sträter und Abdelkarim, die Musikerinnen und Musiker Marusha, Sabrina Setlur, Bürger Lars Dietrich, Sebastian Krumbiegel und Bastian Campmann, die Moderatorin Anna Planken und ihre männlichen Kollegen Dieter Könnes und Daniel Aßmann.

Nach einer popkulturellen und politischen Collage als Prolog steigt man mit dem Jahr 1990 ein, weil man sich weiterhin nicht an der eigentlichen Dekade, die von 1991 bis zum Jahr 2000 reicht, orientiert. Es werden folgende Themen angerissen:

1990:
• Mode: Plateauschuhe (furchtbar)
• Attentat auf Lafontaine
• Attentat auf Schäuble
• Währungsunion
• Frank Rijkards Attacken gegen Rudi Völler während der Herrenfußball-WM in Italien
• Die Popper- und Neo-Hippie-Selbstdarstellung „Loveparade“
• Golfkrieg
Game Boy
• Diddl-Maus (obwohl sie erst 1991 erstmals auftauchte)

1991:
• Noch einmal Golfkrieg, in Farbe auf CNN (kritisch kommentiert von Sträter)
• Ötzi-Fund
• Naziterror in Hoyerswerda
• Internet und World Wide Web
• Mode (1991 noch sehr ‘80er)
• Trend zu Einkindfamilien und damit zu Spielkonsolen (steile These)
My Little Pony (eigentlich ein ‘80er-Phänomen)

1992:
• Die EG wird zur EU
• Doping in der Leichtathletik
• Herrenfußball-EM in Schweden mit Dänemark statt Jugoslawien
Supersoakers
• Autotelefon und Mobiltelefonie
• Naziterror in Rostock
Super-NES
• Bill Clinton wird neuer US-Präsident
• Trennung von Prinz Charles und Lady Di

1993:
• Attentat auf Monica Seles
• Mode: Schlabberlook und Tierfellmuster, bunte Sakkos, Raver-Kitsch
• Naziterror Mölln (obwohl ‘92) als Überleitung zum Naziterror in Solingen (sehr gut: die Namen der Todesopfer werden genannt)
• Neue fünfstellige Postleitzahlen
• Bundesverdienstkreuz für die Ohoven
• Höchster Rheinpegelstand, dämliche Gaffer

1994:
• Eiskunstlauf: Tonya Harding versus Nancy Kerrigan (auch ein Zeichen für die neue Verrohung der damaligen Zeit)
Daily Talks
• Kult-Kaufhauserpresser „Dagobert“
• Herrenfußball-WM in den USA und Stefan Raabs Böörti-Songs
• Die Fähre Estonia sinkt, rund 900 Tote
• Tattoos und Arschgeweihe

1995:
• Mode: bauchnabelfrei und gepierct
• Christos Reichstagsverhüllung
• Noch einmal Mobilfunk
• Balkankrieg (wird endlich aufgegriffen)
Windows 95 (*würg*)

1996:
• Feuerkatastrophe im Düsseldorfer Flughafen
Golden Goal und Herrenfußball-EM-Titel in England
• Neue Damenfrisuren
• Rio Reisers Tod inkl. Kurzporträt
• Abschaffung des Sonntagsbackverbots
• Telekom-Aktien (lol)
• DVD
• Flachbildfernseher

1997:
• Klonschaf Dolly
• Vergewaltigung in der Ehe wird strafbar, die CDU ist dagegen und boykottiert die Abstimmung
• Das Tamagotchi
• Lady Dis Unfalltod
• Mercedes‘ A-Klasse versagt beim Elchtest

1998:
• US-Präsident Bill Clintons Lewinsky-Affäre (Stichwort Oral Office)
• Herrenfußball-WM in Frankreich…
• …und der dortige Hooligan-Terror
• Viagra
• Die Schröder-Bundesregierung

1999:
Alando wird von eBay gekauft, die Gründer rufen ihre Jamba-Handy-Klingeltonscheiße ins Leben
• Literaturnobelpreis für Günther Grass
iMacs in der TV-Sendung „Computer-Club“
• Angst vorm Jahreswechsel

Diese Doku will kein nostalgischer Feelgood-Film sein und spart auch unangenehme Themen wie Kriege, Attentate und Plateauschuhe nicht aus. Klar, um den Golfkrieg und den Neonazi-Terror (Stichwort „Baseballschlägerjahre“) kommt keine Doku über das Jahrzehnt herum, manches aber wird sicherlich gern ausgespart. Dass jedoch heutzutage beim allgemeinen Entsetzen über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, darüber, dass wieder ein Krieg in Europa Realität geworden ist, der mit der Zerschlagung Jugoslawien nach Ende des Kalten Kriegs einhergehende Balkankrieg gern vergessen wird, nun… dazu trägt vielleicht auch bei, wie nebensächlich jene humanitäre, politische und moralische Vollkatastrophe auch in Schäfers Film behandelt wird – beinahe, als habe es sich um ein singuläres Ereignis im Jahre 1995 gehandelt. Die Massenarbeitslosigkeit der 1990er und der massive Sozialabbau spätestens gegen Ende des Jahrzehnts finden hingegen erst gar keine Erwähnung.

Bei einer ja dennoch gegebenen derartigen Fülle an Themen darf (und wird) natürlich auch niemand mit Tiefgang rechnen; und kritische Worte zu Ereignissen und Phänomenen, zu denen es mindestens zwei Meinungen geben kann, überlässt man den prominenten Kommentatorinnen und Kommentatoren. In Kombination mit dem Off-Kommentar und den alten TV-Ausschnitten sorgen diese sowohl für einen recht hohen Unterhaltungswert als auch für eine persönliche Note, wobei sich insbesondere Torsten Sträter hervortut und zu fast allem die richtigen Worte findet, während die anderen größtenteils Gefälliges, das nicht aneckt, von sich geben. Überrascht war ich, dass man das Phänomen der täglichen (Nach-)Mittagstalkshows, die irgendwann in inflationären Ausmaßen gesendet wurden und die Trash-TV-Initialzündung darstellten, in einem Anflug öffentlich-rechtlicher Selbstkritik speziell anhand Pastor Jürgen Fliege aufgriff, der meines Erachtens stellvertretend für die Verflachung der Öffentlich-Rechtlichen seinerzeit steht. Erwartungsgemäß wird aber auch dies nicht vertieft.

Abseits politischer Themen geht es eher boulevardesk zu, dennoch vermisse ich zahlreiche Themengebiete wie die neuen Popularitätswerte von Top-Models, den die ‘80er in den Schatten stellenden Konsum-, Marken und Körperwahn, den MTV- und Viva-Boom, den Siegeszug von Daily Soaps, musikalische Trends wie Grunge, Gitarrenmusik-/Hip-Hop-Crossover, Eurodance, den Boygroup-Hype, das Punk-Revival (inkl. der legendären Chaostage 1995), die Wiederentdeckung des deutschen Schlagers (z.B. Guildo Horn) oder auch Kurt Cobains und Falcos Tod, wie Henry Maske und RTL den Boxsport gesellschaftsfähig machten, den Boom von Extremsportarten und die Kino-Höhepunkt des Jahrzehnts. Einiges davon findet sich aber in den eingangs erwähnten weiteren abendfüllenden ‘90er-Dokus.

Unterlegt werden die einzelnen Abschnitte mit damaliger zeitgenössischer Musik, wobei man es mit der Chronologie nicht so genau nimmt und Chers Autotune-Hit „Believe“ beispielsweise bereits 1993 integriert. Die Perspektive ist insgesamt eher west- denn gesamtdeutsch, was indirekt zeigt, wie abgehängt die neuen Bundesländer damals waren. Als Rundumschlag für Freundinnen und Freunde solcher Formate sicherlich sehenswert und unterhaltsam, aber nur leidlich als generationenübergreifendes Dekadenporträt und – wie üblich – nur bedingt zur Vermittlung über das Mindestmaß hinausgehender Informationen geeignet.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Contaminator

„Venedig ist nun eine tote Stadt…“

Der italienische Filmemacher Bruno Mattei („Die Hölle der lebenden Toten“) gilt nicht nur als Genre- und Exploitation-Filmer, sondern auch als einer derjenigen, die dem italienischen Kino ab einem gewissen Zeitpunkt den Ruf eingehandelt haben, mehr oder minder dreiste Low-Budget-Plagiate erfolgreicher US-Vorbilder hervorzubringen. Eine seiner letzten solchen Arbeiten, die es ins Kino schafften, ist der 1989 veröffentlichte „Contaminator“, der sich mit seinen Plakaten und seinem Originaltitel „Terminator II“ noch vor Veröffentlichung der offiziellen „Terminator“-Fortsetzung unverhohlen an James Camerons Action-Kracher anlehnt, inhaltlich aber stärker auf ein anderes Erfolgsprodukt James Camerons referenziert: „Aliens – Die Rückkehr“. Das Drehbuch stammt von niemand Geringerem als Claudio Fragasso, ganz genau, dem Regisseur von „Troll 2“.

„Es war so was wie ein Monster!“

Venedig, wie wir es kennen, war einmal: In einer dystopischen Zukunft ist es zu einer überschwemmten und verseuchten entvölkerten Geisterstadt verkommen, in deren Kanalisation es rumort. Dort treiben nämlich fiese Mutanten ihr Unwesen, die es auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Tubular Corporation abgesehen haben, sobald diese sich in ihre Gefilde trauen. Doch bei Tubular lernt man dazu und entsendet die nächste Wissenschaftlerin (Haven Tyler) zusammen mit der „Megaforce“-Spezialeinheit (Ähnlichkeiten zum US-Sci-Fi-Actioner „Megaforce“ sind sicherlich nicht rein zufällig) und ihrem Sicherheitsexperten Samuel Fuller (Christopher Ahrens, „Magic Ivory – Im Vorhof zur Hölle“) in den Untergrund, um herauszufinden, was genau sich unter Tage eigentlich abspielt und wie man dem Herr werden könnte. Doch Fuller entpuppt sich als Cyborg und die Motive des Unternehmens sich als wenig ehrenhaft…

„Mit diesem Höllenspuk will ich nichts mehr zu tun haben!“

In Matteis Sause führt ein Off-Sprecher ein, bevor wir die Elite-Gurkentruppe (mit denen hat’s Mattei ja irgendwie, vgl. „Die Hölle der lebenden Toten“) kennenlernen. Deren Mitglieder pöbeln sich erst einmal kräftig gegenseitig an. Aus den überwiegend gesichtslosen Soldaten stechen ein blonder David-Lee-Roth/Shawn-Michaels-Verschnitt namens Caine (Cortland Reilly) sowie die schwarze Koster (Geretta Geretta, „The Riffs III – Die Ratten von Manhattan“) hervor, die‘s auf den Italiener Franzini (Fausto Lombardi, „Horror-Sex im Nachtexpress“) abgesehen hat. Eigentlich ist man aber auf der Suche nach Paul Drake (Clive Riche, „Dellamorte Dellamore“), einem der Wissenschaftler, der eigenartigerweise während eines Mutantenangriffs seinen eigenen Kollegen erwürgt hat. Nach etwas schon früh eingesetzter Balleraction findet man den Delinquenten auch. Er schreit ohrenbetäubend laut, schnappt sich Soldat Price (Richard Ross, „Airhawk“) als Geisel und entkommt mit ihr. Ist Drake dem Wahnsinn anheimgefallen? Oder beginnt er selbst zu mutieren? Wir wissen es nicht und werden es auch nie erfahren, denn der Film vergisst ihn schlicht.

„Es ist wie eine Floppy-Disk!“ (Sci-Fi der Marke Mattei)

Price findet sich in einer Art Spinnennetz wieder; die Kreaturen werden in Point-of-View-Perspektive eingeführt und entpuppen sich als nur spärlich zum Einsatz kommende Men in suits. Die „Megaforce“ ist hauptsächlich damit beschäftigt, durch die Katakomben zu rennen, was den Film etwas langatmig macht. Immerhin wird das Ensemble erweitert, als man irgendwann ein Mädchen namens Samantha (Dominica Coulson) aufliest, die verängstigte Tochter eines der toten Wissenschaftler. Man kommt irgendwelchen Gen-Experimenten auf die Spur, Fuller überrascht die anderen damit, ein Cyborg zu sein, es stellt sich heraus, dass es sich um biologische Waffenentwicklung dreht und es droht die totale Zerstörung.

Nein, das ist nicht gespoilert, denn „Contaminator“ entwickelt seinen Reiz gewiss nicht aus etwaiger klassischer Spannung, die kaum vorhanden ist – wie es generell arg am Dramaturgischen hapert –, sondern aus der Verquickung von „Aliens“- und „Terminator“-Motiven in billig und mehr so semi geschauspielert. Über weitere Strecken ist der Film leider eher eintönig, mehr Kreaturenspektakel wäre ebenso wünschenswert gewesen wie ein schmissiger futuristischer Synthie-Soundtrack oder über die Gummimasken hinausgehende krude Schauwerte. Leider finden sich zudem kaum noch verdiente Cinecittà-Recken in der Darstellerriege, was den Film vielleicht noch etwas unterhaltsamer gemacht hätte. Das völlig unvermittelte Zeitreise-Ende ist abgefahren, surreal, gaga und pseudosozialkritisch – und besiegelt einen Film, der derart dreist plagiiert und mit seltsamen eigenen Ideen mixt, dass er die Lacher und die WTF-Momente auf seiner Seite hat.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Tatort: Tod im Häcksler

„Sie sollten mal eine Weile ausspannen!“

Wenngleich sie bereits Ende des vorausgegangenen Jahrzehnts als neue Ludwigshafener „Tatort“-Kommissarin eingeführt wurde, zählt auch die von Ulrike Folkerts verkörperte Figur der Lena Odenthal als eine, die sich in den 1990ern als Konstante innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe etablierte. Ihr dritter Fall, „Tod im Häcksler“, wurde von Nico Hofmann („Quarantäne“) nach einem Drehbuch, das er zusammen mit Stefan Dähnert verfasste, inszeniert und am 13. Oktober 1991 erstausgestrahlt. Es blieb Hofmanns einzige „Tatort“-Regiearbeit.

„Dann ist das hier so was wie 'ne Strafkolonie...“

Als eine Gruppe Kinder im Wald die Kleidung des vor zwei Jahren spurlos verschwundenen rumänischen Aussiedlers Höreth findet, wird aus dem Vermissten- ein Mordverdachtsfall, der bei der Ludwigshafener Kommissarin Lena Odenthal landet. Sie macht sich auf den Weg ins pfälzische Dorf Zarten, wo der Fund stattfand, vor zwei Jahren ein Staudammbau im Gespräch war und Höreths Frau Dana (Monica Bleibtreu, „Der Joker“) lebt. Die Mordkommission glaubt, dass Lena die Ermittlungen guttun und sie dort etwas zur Ruhe kommen würde, und tatsächlich lässt es sich zunächst ganz gut an. Der sympathische junge Dorfpolizist Stefan Tries (Ben Becker, „Eine Liebe in Deutschland“) arbeitet ausgesprochen gern mit ihr zusammen und hat ein Auge auf sie geworfen. Die Ermittlungen jedoch geraten rasch ins Stocken, denn die Dorfgemeinschaft schweigt derart auffällig, als habe sie etwas zu verbergen, und ein Leichnam wird auch nicht gefunden. Als Lena schließlich selbst in Gefahr gerät, ist’s mit der Dorfidylle dahin…

„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Passen Sie auf sich auf!“

Nicht nur der Auftakt ist wie in einem Horrorfilm inszeniert: Ein paar Jungs trinken Bier und lesen Playboys am Lagerfeuer im Wald. Beim Pinkeln findet einer eine Tüte mit den Klamotten des Vermissten, dessen Frau gerade singend Wäsche aufgehängt hat und vorm Fernseher eingeschlafen ist. Die Rotzlöffel wecken sie, indem einer von ihnen ihren Mann in dessen Klamotten spielend ans Fenster klopft. Lena wiederum hat Ärger auf der Wache. Als der Fall bei ihr landet, muss sie das (fiktionale) pfälzische Kaff erst einmal auf der Landkarte suchen. Sie fährt schließlich mit ihrem Polizei-VW-Käfer hin, der prima ins Dorf passt, in dem die Zeit schon vor Langem stehengeblieben zu sein scheint. Auf der Fahrt gerät sie in eine Schafherde, vom alten Oberbullen des Dorfs muss sie sich markige Sprüche anhören und als sie mit Stefan zu Dana Höreth fährt, fahren sie versehentlich ein Huhn halbtot, das daraufhin im titelgebenden Häcksler landet.

Die Dorfbewohnerinnen und -bewohner glotzen doof ins Polizeiauto und begleiten Lenas Aufenthalt mit permanenten kritischen Blicken. Regisseur Hofmann inszeniert vermehrt skurrile Dorfszenen, die das Landvolk wie exotische Eingeborene wirken lassen. Lena macht seltsame Beobachtungen, stößt auf besagte Mauer des Schweigens und wird bald unsanft abzuhauen aufgefordert. Stefan hingegen ist von Lena und ihrer Arbeit fasziniert und will das Dorf mittelfristig verlassen. Mit seinen Abwanderungswünschen ist er, wie sich herausstellen wird, im Dorf nicht allein… Zunächst aber landet er mit Lena im Bett, denn der Kommissarin wird hier ein Sexualleben mit unverbindlichem Sex zugestanden, was 1991 im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen sicherlich noch keine Selbstverständlichkeit war. Weniger schön für die beiden ist ein Brandanschlag auf sie, mit dem die offen konfrontative Gewaltspirale, seitdem die Polizei den Fall neu aufrollt und aus anderer Perspektive betrachtet, ihren Anfang nimmt. Jener Fall erweist sich als recht undurchsichtig und die Narration präsentiert verschiedene Motive und Verdächtige: Hat es etwas mit dem einst geplanten Staudamm zu tun, für den das Dorf hätte plattgemacht werden müssen? Oder hängt der 45-jährige Sprengler (Rudolf Kowalski, „Tatort: Kopflos“) mit drin, der ein Verhältnis mit Mechthild Höreth (Patrizia Schwöbel, „Löwengrube“), der minderjährigen Tochter, hat? Und was ist eigentlich mit Dana, die ihrerseits mit dem Bauern Hunzinger (Hans-Joachim Grubel, „Der Schnüffler“) klüngelt und das Bett teilt?

Am Ende zieht die zuvor nicht sonderlich ausgeprägte Spannung kräftig an und es geht, so viel sei verraten, in Richtung Lynchjustiz inklusive an Backwood-Terror gemahnender Szenen. Eine der Besonderheiten dieses „Tatorts“ ist der überraschend konsequente Abgesang auf eine etwaige Dorfidylle. Hier hat man es zwar wie gewohnt mit einer verschworenen Gemeinschaft zu tun, die jedoch nicht ihr Dorf schützen, erhalten und gegen äußere Einflüsse verteidigen will, sondern die Schnauze vom Dorfleben gestrichen voll hat. Dies hinderte Hofmann und sein Team indes nicht daran, Zurückgeblieben- und moralische Verkommenheit der Provinzlerinnen und Provinzler derart zu überzeichnen, dass sich trotz der Fiktionalität Zartens (gedreht wurde anscheinend hauptsächlich in Rathskirchen) regionaler Protest regte und gar zum „Gegenstand einer Debatte im Landtag Rheinland-Pfalz wegen diskriminierender Darstellung der Region als ,Zerrbild eines pfälzisch Sibiriens‘“ (Wikipedia) wurde.

Dieses unvergessene Kuriosum zog im Jahre 2019 die Dokumentation „Die Geschichte des Häckslers – Ein Tatort und seine Folgen“ nach sich, im selben Jahr erhielt der Fall mit „Die Pfalz von oben“ gar eine Fortsetzung. Davon unabhängig ist „Tod im Häcksler“ ein manch amüsanten Momenten zum Trotz beunruhigend und bedrohlich wirkender Provinzkrimi, der über weite Strecken mit seiner von Nikolaus Glownas Musik befeuerten Atmosphäre besticht. Aus den verschiedenen Verdachtsverästelungen hätte man aber mehr machen können, sie wirken lange vernachlässigt und dann etwas überhastet abgespult.
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Gattaca

„Reinlichkeit kommt gleich nach Gottesfürchtigkeit.“

Das Regiedebüt des neuseeländischen „The Truman Show“-Autors Andrew Niccol ist der US-amerikanisch produzierte dystopische Science-Fiction-Film „Gattaca“, der ebenfalls von Niccol geschrieben wurde, mehr Sozialdrama denn Weltraumschlacht ist und im Jahre 1997 in die Kinos kam.

„Wir haben Diskriminierung zu einem automatischen Prozess entwickelt.“

Der Film spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft: Retortenmenschen, die aus „fehlerfreien“ Genträgern zusammengesetzt werden, beherrschen die Welt, der natürliche Weg des Kinderkriegens ist verpönt – er gilt als zu fehleranfällig und unperfektionistisch. Wer kein solch genmanipulierter Mensch ist, gehört qua Gesetz der unteren Gesellschaftsschicht, den „Invaliden“, an und darf lediglich niedere Arbeiten verrichten. Ein solcher ist Vincent Freeman (Ethan Hawke, „Voll das Leben – Reality Bites“), der als Reinigungskraft für die Gattaca Aerospace Corporation arbeitet, tatsächlich stark kurzsichtig ist und einen Herzfehler hat, weshalb man ihm eine Lebenserwartung von lediglich 30 Jahren prophezeite. Sein jüngerer Bruder Anton (Loren Dean, „1492 – Die Eroberung des Paradieses“) hingegen entstammt dem Reagenzglas und zählt zur Gen-Elite. Dennoch setzt Vincent alles daran, seinen Traum zu verwirklichen: Mit dem ersten bemannten Raumschiff der Gattaca zum Saturnmond Titan zu fliegen. Zu diesem Zwecke kontaktiert er einen Identitätshändler, der ihm die Identität Jeromes (Jude Law, „Shopping“) verkauft – einem Gen-Elitisten, der seit einem Suizidversuch aber auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Jerome versorgt Vincent mit Urin- und Blutproben, Fingerabdrücken und ähnlichen genetische Spuren aufweisenden Körperprodukten. So steigt Vincent innerhalb der Gattaca-Hierarchie bis zum Weltraumfahrtanwärter auf – bis ein Mord geschieht und Vincent aufgrund einer versehentlich hinterlassenen eigenen Wimper unter Verdacht gerät…

„Wir müssen uns sofort betrinken!“

Zwei Texttafeln versorgen zu Beginn mit den wichtigsten Informationen, dann fallen Fingernägel, Haare und Hautschuppen in Großaufnahme zu Boden (deren Bedeutung ich bereits in der Inhaltsangabe umrissen habe). Vincent berichtet in seiner Identität als Jerome aus dem Off, Rückblenden zeigen Szenen seines Lebens – beginnend mit seiner Geburt. Die Retrospektive endet, als sein Flug kurz bevorsteht. Wir lernen eine überaus sterile Welt in futuristisch-brutalistischer Architektur kennen. Der Film nimmt sich viel Zeit, um in diese Dystopie einzuführen, sie fühlbar zu machen, und wirkt dabei zeitweise entspannt und schwermütig zugleich. Vincent datet die Mitarbeiterin Irene Cassini (Uma Thurman, „Jennifer 8“), gemeinsam besucht man das Konzert eine zwölffingrigen Pianisten – ja, in dieser Welt ist alles auf maximale Effektivität durchkonzipiert. Streichermusik unterlegt die in seltsam gelbem Sepia-Licht erscheinenden Bilder, die bisweilen einen befremdlichen 20er-Jahre-Look aufweisen.

„Eine geborgte Leiter?“

Spannung bezieht „Gattaca“ aus der Frage, ob Vincent noch vorm Flug, vor der Erfüllung seines Traums, enttarnt werden wird. Ungemütlich wird es nämlich immer dann, wenn der Detective (Alan Arkin, „Edward mit den Scherenhänden“) ihm zu nahe zu kommen droht. Dieser ist es dann auch, der in dieser antiseptischen Realität etwas aus der Reihe fällt. Die Schlinge zieht sich immer weiter um Vincent zu, wofür die Handlung zuweilen etwas überkonstruiert wirkt – was schließlich eine überraschende Wendung im Finale auf die Spitze treibt. In dieser spielt sein Bruder Anton eine entscheidende Rolle, deren Motivation in dieser harschen Konsequenz aber eher uneindeutig bleibt. Das Ende ist fürwahr bewegend, wenn auch recht dick aufgetragen.

„Gattaca“ ist dennoch ein weitestgehend geglückter, kritischer Kommentar zu Optimierungs- und Gesundheitswahn und stellt nachdenklich stimmende Fragen zu den aus der Genforschung resultierenden, immer größer werdenden Eingriffsmöglichkeiten. Er zeigt die sozialen Verwerfungen auf, die ein solch faschistoider Gen-Elitismus mit sich brächte, ist mit seiner Sympathiebekundung für den „Invaliden“ Vincent ein wichtiges filmgewordenes humanistisches Statement und sensibilisiert nicht zuletzt dafür, welche Spuren man eigentlich überall hinterlässt. Über die eigentliche Mission, das Venusprojekt, erfährt man hingegen gar nichts – weil es dem Protagonisten darum im Kern auch gar nicht geht.
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Kopfüber in die Nacht

„Ich wünsch' dir 'n schönen Tag!“

Nach den von einem fürchterlichen, tödlichen Unfall überschatteten Dreharbeiten zum „Twilight Zone“-Spielfilm und seinem Musikvideo zu Michael Jacksons „Thriller“ drehte US-Regisseur John Landis „Kopfüber in die Nacht“. Die Actionkrimikomödie kam Anfang des Jahres 1985 in die Kinos.

„Wo laufen wir hin?“ – „Na, erst mal weg!“

Der in Los Angeles lebende Ed Okin (Jeff Goldblum, „Die Körperfresser kommen“) leidet unter Schlafstörungen und hadert mit seiner Ehe. Auch sein Job als Ingenieur leidet darunter. Nachdem er seine Frau (Stacey Pickren, „Runaway Train“) im gemeinsamen Zuhause beim Fremdgehen erwischt hat, springt er ins Auto und fährt Richtung Flughafen, noch kein festes Ziel vor Augen – Hauptsache weg. Im dortigen Parkhaus überfallen persische Mafiosi ein Paar: Den Mann bringen sie um, die Frau (Michelle Pfeiffer, „Scarface“) kann sich losreißen und fliehen – zu Ed ins Auto. Sie stellt sich ihm als Diana vor und er fährt sie nach Hollywood, wo sie lebt. Doch der Spuk ist noch lange nicht vorbei: Stets die Verfolger an den Fersen, beginnt eine sich über eineinhalb Tage ziehende Verfolgungsjagd quer durch L.A., während der Ed Diana näher kennenlernt und zu beschützen versucht…

„Ich muss Ordnung in dieses Chaos bringen!“

Noch vor Martin Scorseses nicht ganz unähnlichem „Die Zeit nach Mitternacht“ erschienen, setzt sich „Kopfüber in die Nacht“ zwischen die Stühle eines ernstzunehmenden, bedrohlichen Actionkrimis, einer komödiantischen Parodie eines solchen und eines Porträts L.A.s und seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Der Titelsong ist ein cooler, poppiger Bluesrocker von niemand Geringerem als Blues-Legende B.B. King, das über den Film verteilt wiederkehrende Musik-Thema ist 80s as fuck und als ersten Eindruck L.A.s platziert Landis den Stau im morgendlichen Berufsverkehr. Die Wohnung, in die Ed seinen unverhofften Schützling bringt, ist die ihres Bruder Charlie (Bruce McGill, „Ich glaub’, mich tritt ein Pferd“) und vollgestopft mit Elvis-Devotionalien. Charlie kreuzt dann auch bald in Elvis-Montur und herumschimpfend auf. Da Eds Auto abgeschleppt wurde, schnappts man sich Charlies herrlich protzigen Cadillac. Während der Film mit derartigen Skurrilitäten und der damit verbundenen Coolness (sowie mit ein paar kurzen Nacktszenen) unterhält, generiert er Spannung aus der Frage, wer genau und aus welchen Gründen hinter Diana her ist.

Bis sie sich Ed offenbart, lässt sich die überraschend langsam erzählte Handlung einige Zeit. Smaragdschmuggel ist dann das Stichwort, und es geht umso turbulenter weiter. Colin Morris (David Bowie, „Der Mann, der vom Himmel fiel“) vom FBI hält Ed für ein Mitglied des iranischen Geheimdiensts, was seine Situation nicht vereinfacht, und er erfährt zusammen mit dem Filmpublikum nach und nach immer mehr über diese Frau, die eine Spur der Zerstörung hinter sich herzieht. „Kopfüber in die Nacht“ steckt voller Reminiszenzen ans Actionkino, im Fernsehgerät in einer Wohnung läuft allerdings mit „Abbott und Costello treffen Frankenstein“ eine Horrorklassiker-Persiflage, deren Humor sich mit Landis‘ decken dürfte. Wobei, „Kopfüber…“ ist zwar eine Komödie, aber keine zum befreiten Loslachen. Vielmehr verfügt sie auch über einige Härten und gegen Ende gibt’s ein kräftiges Geballere und weitere Tote. Die ganze Story ist eigentlich ein ziemlicher Humbug und könnte auch fesselnder erzählt sein. Eventuell hat sich Landis etwas zu sehr darauf konzentriert, möglichst viele Gastauftritte von Kollegen wie David Cronenberg, Don Siegel, Jim Henson, Rick Baker, Jack Arnold und weiteren inklusive seiner Selbst unterzubringen und dabei die Dramaturgie innerhalb der immerhin 115 Minuten Laufzeit außer Acht gelassen.

Über die Cameos hinaus punktet der Film aber zweifelsohne auch mit seinem ‘80er-Stadttrip-Flair, einer erfrischenden, aufgeweckten, jungen Michelle Pfeiffer, hochkarätig besetzten Nebenrollen und einem beeindruckenden Ami-Schlitten nach dem anderen. Goldblum muss in erster Linie ungläubig und übermüdet aus der Wäsche gucken, was in dieser Kombination auch schon mal sediert wirkt. Obschon ich über weite Strecken etwas unterwältigt war, handelt es sich doch eigentlich um einen ausgesprochen netten Film – insbesondere mit seiner scheinbar finalen Pointe, die anschließend ein unnötiges Hyper-Happy-End leider konterkariert.
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Tatort: Ein Fall für Ehrlicher

Mehr als ehrlich

„Ich liebe die Frauen, das ist krankhaft bei mir!“

Nach dem Anschluss der DDR an Staatsgebiet der BRD wurde das DDR-Fernsehen aufgelöst. Dessen Nachfolger wurde der MDR, der nun auch seinen eigenen „Tatort“-Ableger erhielt: Der renommierte DDR-Schauspieler und ehemalige Kabarettist Peter Sodann („Jugend ohne Gott“) schlüpfte in die Rolle des Dresdner Kriminalhauptkommissars Bruno Ehrlicher und bildete zusammen mit seinem Kollegen, dem wesentlich jüngeren Unterkommissar Kain (Bernd Michael Lade, „Karniggels“) das erste ostdeutsche Ermittler-Duo der öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Das Debüt „Ein Fall für Ehrlicher“ wurde vom erfahrenen DDR-Krimiregisseur Hans-Werner Honert (u.a. „Polizeiruf 110“) geschrieben, im Jahre 1991 inszeniert und am 19. Januar 1992 erstausgestrahlt.

„Ich habe 20 Jahre auf Ihrem Stuhl gesessen. Ich begreife Sie. Ob Sie mich begreifen, das weiß ich nicht.“

Der Dresdner Kriminalhauptkommissar Bruno Ehrlicher liegt gerade einem Sexualverbrecher auf der Lauer, als er die Aktion auf einem Schrottplatz bei Starkregen abbrechen muss. Zunächst scheint es ins Bild zu passen, dass die Jugendliche Katja Beck (Claudia Stanislau, „Trutz“) plötzlich spurlos verschwunden ist – ausgerechnet kurz bevor ihre Mutter Anne (Rita Feldmeier, „Liane“) den Polen Daniel Tuskiewitsch (Aleksander Trabczynski, „Korczak“) ehelichen will. Pikanterweise hielt sich Katja kurz vor ihrem Verschwinden in dessen Bootshaus auf…

„Das gab's schon öfter im Kino...“

Die eröffnende verdeckte Ermittlung, für die Ehrlicher eine Kollegin als Prostituierte verkleidet ausgerechnet auf einem Schrottplatz dem Starkregen aussetzt, wirkt etwas befremdlich, doch im weiteren Verlauf entpuppt sich Ehrlicher als der Typ besonnener Denker, ein bescheidener Pragmatiker im Knittermantel und mit Ledertasche, menschlich zudem, mehr oder weniger ein einfacher Mann wie du (sofern du ein einfacher Mann bist) und ich. Seine Frau (Monika Pietsch, „Die Schauspielerin“) betreibt eine Kneipe neben dem Blauen Wunder, Dresdens bekanntester Elbbrücke, und mit seinem Sohn (Thomas Rudnick, „Der Bruch“) liegt er im Clinch, weil dieser die Veranda radikal renovieren will. Alles muss neu in dieser Nachwendezeit, und vielleicht hadert Ehrlicher damit nicht nur in Bezug auf seine Veranda ein bisschen. Als ehemaliger Volkspolizist der DDR muss er gegenüber dem Münchener Kommissar im Ruhestand Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer), der ihm nach der Bundesrepublikanisierung als Dienststellenleiter vor die Nase gesetzt wurde, Rechenschaft ablegen, soll er doch lernen, wie die Verbrecherjagd in der BRD funktioniert. Eine kleine Demütigung, entsprechend leicht trotzig reagiert er auf leicht arrogante Belehrungen Veigls, der vor seinem Ruhestand als langjähriger Münchner „Tatort“-Kommissar in Erscheinung getreten war.

„Es kotzt einen alles an!“

Die Gespräche zwischen den beiden nutzt Autor und Regisseur Honert aber nicht etwa für Krawall, sondern für einen letztlich konstruktiven Ost-West-Austausch. Mit dieser Konstellation greift er ein Stück deutsch-deutsche, damals neue Realität auf, ebenso mit den Bildern der zahlreichen Baustellen in Dresden. Auch das karge Polizeirevier sieht noch aus wie eine. Auf einer Infotafel wurde aus „VP-Amt“ durch einen weißen Aufkleber kurzerhand „P-Amt“. Auf den Straßen sind noch zahlreiche DDR-Karossen unterwegs; ganz so, wie es damals eben war. Dazu zählt auch die grassierende Ausländerfeindlichkeit, die der polnische Bräutigam und Tatverdächtige zu spüren bekommt. „Ein Fall für Ehrlicher“ fängt Zeitgeschichte ein. Zugleich will er aber auch ein Kriminalfall sein. Ist aber eigentlich gar keiner, vielmehr mäandert er irgendwo zwischen Zeitgeist- und Gesellschaftsporträt, Sozialdrama und Familientragödie.

„Das Recht ist für alle.“

Nach der Eröffnungssequenz auf dem Schrottplatz lernen wir Katja kennen, eine optisch äußerst erfreuliche Erscheinung, die ihren Stiefvater in spe im Bootshaus besucht und sich direkt die regennassen Kleider vom Leib reißt, um ihn splitterfasernackt zu verführen zu versuchen. Von Letzterem bekommen wir nicht wirklich etwas mit; ihr Auftritt beschert diesem Ost-„Tatort“ jedoch eine über FKK-Klischees hinausgehende Erotiknote, womit er sein Publikum erst einmal am Haken hat. Was mit Katja geschehen ist, ist die große Frage, die anschließend im Raum steht. Das Brautpaar rätselt und die Polizei ermittelt, befragt u.a. einen irren Vergewaltiger, den sie gerade gefasst hat. Parallel dazu hören wir ausländerfeindliches Gebrüll von einer der vielen Baustellen – es ist die, auf der Tuskiewitsch arbeitet, und es gilt ihm. Ungefähr zu Hälfte stellt sich heraus, dass er, mittlerweile verhaftet, eine gemeinsame Nacht mit Katja hatte. Plötzlich steht ein Vergewaltigungsvorwurf im Raum, den der Parolenpöbler erhebt, welcher sich zudem als Katjas Freund Uli (Volker Ranisch, „Heute sterben immer nur die andern“) vorstellt.

Wirklich schlau wird man aus alldem lange Zeit nicht, erhält durch die jüngsten Entwicklungen aber zumindest Anhaltspunkte. Zudem taucht in der zweiten Hälfte auch noch Katjas Vater (Detlef Heintze, „Die Reise nach Sundevit“) auf, der auf Wendegewinner macht und damit zu einem weiteren Exponat dieses (im positiven Sinne) Nachwendezeit-Museums wird. Einen Toten gibt es die meiste gar nicht, doch dann plötzlich gleich zwei an der Zahl. Eine Rückblende am Ende zeigt, was passiert ist – und verdeutlicht, auch ohne dass es ausgesprochen werden würde, dass die Polizei in diesem „Fall“ im Prinzip völlig nutzlos ist.

Ob dieser Umstand die Ohnmacht ehemaliger DDR-Ordnungshüter ob des für sie neuen Chaos andeuten soll, sei dahingestellt. So oder so ist „Ein Fall für Ehrlicher“ eine etwas arg melodramatische Angelegenheit geworden, worauf die musikalische Untermalung mit ihrer prägnanten, minimalistischen Flötenmelodie und dem melancholischen Klaviergeklimper eventuell bereits von Beginn an hindeutete. Die Opfer können einem leidtun und ebenso Ehrlicher, der als sympathische neue Kommissarsfigur zurückgenommen und famos zugleich vom noch viel sympathischeren Peter Sodann verkörpert wird. Willkommen im „Tatort“, Ehrlicher, und willkommen im tiefsten Ostdeutschland, verehrtes Publikum!
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Josefine Mutzenbacher

„Sie sind eine verkappte Sozialistin!“

Die Erstverfilmung des berüchtigten, anonym veröffentlichten Erotikromans „Josefine Mutzenbacher“ aus dem Jahre 1906 durch den in erster Linie als Drehbuchautor in Erscheinung getretenen Wiener Regisseur Kurt Nachmann („Die nackte Gräfin“) datiert aufs Jahr 1970 und ist ein Resultat der damals nach der sexuellen Revolution gelockerten Bestimmungen in Bezug auf nackte Tatsachen und die Darstellung von Sexualität im Film.

„Josephine ist die lebende Anklage gegen die Lüge dieser Zeit...“

Die US-amerikanische Lady J. (Kai Fischer, „Das Wirtshaus im Spessart“) stattet dem Ministerialrat Marbach (Bert Fortell, „Blitzmädels an die Front“) einen Besuch ab, nachdem dieser das puritanisch-spießige Buch „Sitte und Moral“ veröffentlicht hat. J.s Moralvorstellungen kollidieren mit denen Marbachs, weshalb sie ihn in ein Hotel des Wiener Milieus führt. Sie erteilt ihm eine Lehrstunde in Sachen sexueller und sozialer Realität sowie gesellschaftlicher Doppelmoral, indem sie ihm die Lebensgeschichte der Wiener Prostituierten Josefine Mutzenbacher erzählt. Diese war als heranwachsendes Vorstadtmädchen vom eigenen Vater (Uli Steigberg, „Er kann’s nicht lassen“) missbraucht worden, stieg aber zur begehrten Wiener Dirne auf. Irgendwann geht Marbach ein Licht auf: Er hat die Mutzenbacher die ganze Zeit vor sich. Ein Umdenken setzt ein und er hat genügend Stoff für sein nächstes Buch zusammen, in dessen Mittelpunkt Josefine Mutzenbacher stehen wird…

Nachmanns gewieft um eine Rahmenhandlung ergänzte Verfilmung beginnt mit einem von ihm höchstpersönlich gesungenen Lied über Mutzenbacher. Ambiente, Kulissen, Kostüme und eine Kutschfahrt durch den Ort stimmen auf den Zeitpunkt der Handlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Mutzenbachers Leben wird in Form vieler kurzer, immer wieder von der Rahmenhandlung (oder weiteren Gesangseinlagen) unterbrochenen Episoden erzählt. Softsexszenen werden zum Teil mittels absichtlich voyeuristisch wirkender Wackelkamera eingefangen, die wie Point-of-View-Perspektiven Mutzenbachers wirken sollen. Diese wird nicht mehr von Fischer, sondern von Erotik-Aktrice Christine Schuberth („Heißes Pflaster Köln“) gespielt. So sorgfältig hier in Sachen Ausstattung auch gearbeitet wurde und so spielfreudig das Ensemble auch agiert, so harmlos, unspektakulär und eher langweilig fallen vor allem aus heutiger Sicht die Szenen aus, in denen es ans Eingemachte geht.

Einen gewissen Kontrast bilden die in diesem Zuge ebenfalls visualisierten Missbrauchserfahrungen mit ihrem Vater oder auch jenem Pfaffen, der während ihrer Beichte noch im Backfischalter über sie herfällt. Diese gehen einher mit Sozialkritik und Spitzen gegen die doppelmoralistische Oberschicht, wagen aber (wie auch vermutlich die mir unbekannte Literaturvorlage) nicht den nächsten Schritt, aus Missbrauch und widrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen resultierende Prostitution entsprechend kritisch zu betrachten. Damit ist auch die Handlung nicht frei von einer gewissen Doppelmoral, wenngleich von vornherein deutlich sein sollte, dass es sich eben in erster Linie um einen erotischen Unterhaltungsfilm handeln soll. Dass die finale Wendung lange vorhersehbar ist, tut dem wiederum kaum einen Abbruch, denn auf Spannung ist die Dramaturgie natürlich ebenso wenig ausgelegt.

Eine der Episoden fällt mir albernen Animationen und Luftschlangen weiter ab, während in anderen Momenten mit Jump Cuts und Freeze Frames Gestaltungswille bewiesen wird und die Kameraarbeit überzeugt. Als sich ein paar Kinder auf Ösisch über Sex unterhalten, wären Untertitel angebracht gewesen, denn man verseht kein Wort. Alles in allem in Nachmanns Film ein höchstens netter Versuch, der sich weder in die eine noch in die andere Richtung sonderlich viel traut. In den nächsten zwei Jahren folgten zwei Fortsetzungen, bevor Hans Billian eine Pornovariante des Stoffs realisierte.
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Josefine Mutzenbacher 2. Teil – Meine 365 Liebhaber

„Mein kleiner steifer Hamburger… (*stöhn*)"

Regisseur Kurt Nachmanns erste von zwei Fortsetzungen der „Josefine Mutzenbacher“-Erotik-Literaturverfilmung erschien im Jahre 1971, also ein Jahr nach dem ersten Teil. Da im Netz kaum etwas über sie zu finden ist, gehe ich etwas ausführlicher auf die Handlung ein. Gleich vorweg: Ich habe keinen Schimmer, inwieweit diese noch mit der literarischen Vorlage zu tun hat, denn die habe ich nie gelesen:

Der Film beginnt mit einem Lied über die Wiener Prostituierte Josefine Mutzenbacher und endet auch damit, bildet also eine Klammer um die die Handlung. Adrian Kuddenbruck (Tonio von der Meden, „Schulmädchen-Report“) kommt aus Hamburg nach Wien zur „guten Wiener Gesellschaft“, sprich: in den Puff, wo er unversehens den weiblichen Reizen verfällt. Als er zum klassischen Pistolenduell unter freiem Himmel herausgefordert wird, geht etwas schief und er wird ungeplant beinahe tödlich getroffen. Die Prostituierten Zenzi (Renate Kasché, „Die nackte Gräfin“) und Josefine (Christine Schuberth, „Pudelnackt in Oberbayern“) finden den Schwerstverletzten und nehmen ihn kurzerhand mit, um ihn zu verstecken – aus der Point-of-View-Perspektive Adrians gefilmt, seinem Zustand entsprechend verschwommen und rotierend gen Himmel. Die beiden Dirnen organisieren ärztliche Hilfe und medizinische Versorgung für den Unglücklichen und Zenzi singt ein Lied für den Herrn Doktor. Der Inspektor hat die beiden Damen auf dem Kieker, doch Josefine geilt ihn auf und verführt ihn. Um Adrian aufzupäppeln, erzählt sie ihm Geschichten aus ihrem Leben. Diese sind, wie im Vorgänger, einzelne Episoden, die das bisher Gezeigte zur Rahmenhandlung machen.

„Den spürt man bis in' Magen!“

Josefine erzählt von ihrem Besuch bei einer Gouvernante (Helga Machaty, „Das Grauen kam aus dem Nebel“), während diese sich selbst befriedigte und sich dabei einen Liebhaber imaginierte. Sie erzählt von ihrer Schulzeit, als ihr ein Lehrer unter den Rock spannte und ihr dies so gut gefiel, dass sie ihm ihren Hintern präsentierte und zum Diktatschreiben auf seinen Schoß musste. Angeblich sei dies ihre Entjungferung gewesen. Der Film zeigt dies nicht etwa in Bewegtbildern, sondern in Form eines einzelnen Standbilds. Sie erzählt immer weiter, von ihrer Freundin Melanie (Doris Arden, „Graf Porno und seine Mädchen“) nun, die sie beim vermeintlichen Sex mit Leopold zusehen ließ – sie schauspielerte nur, von einem Sexualpartner keine Spur. Und von einem alten Weltenbummler, über den sie sich lustig machte. Als er im Zuge eines Rollenspiels einen Sultan mimte, der ihr den Hintern versohlt, beobachtete dies jemand und glaubte, ihr zur Hilfe eilen zu müssen. Dieser überwältigte den falschen Sultan und begattete Josefine anstelle seiner.

Er entpuppte sich als Fleischer Xanderl (Kurt Bülau, „Wir hau'n die Pauker in die Pfanne“), mit dem sie daraufhin länger zu tun hatte. In einem gutbesuchten Wirtshaus erlaubte sie sich zusammen mit anderen Damen einen Scherz, indem sie zusammen unterm Tisch verschwanden und so taten, als würden sie die speisenden Herrn oral befriedigen, um die anderen Gäste zu verarschen. Tatsächlich wurde die Stimmung aber immer ausgelassener, die Damen immer freizügiger, und schließlich wurde gevögelt und österreichisches Liedgut geschmettert. Eine Zwischensequenz zeigt im Anschluss Männer in albernen Uniformen auf Holzpferden, die man alle nur unterhalb der Gürtellinie sieht. Dann geht’s „normal“ weiter: Josefine wird dem Herrn Oberst (Otto Falvay, „Eine Nacht im Separee“) als Geburtstagsgeschenk übermittelt. Dieser könne angeblich dreimal pro Nacht. Josefine versucht, ihn anzumachen, aber er raucht erst mal seine Pfeife. Sie bestaunt diese und die mitlauschenden Soldaten denken, es ginge um sein bestes Stück. Eine halbe Stunde vor Filmende dann die erste als solche zu bezeichnende Erotikszene: Josefine räkelt sich auf dem Bett. Sie reibt sich am Bettzeug und stöhnt, die akustisch Spannenden halten’s für Sex. Diesen schauspielert sie jedoch nur, um die anderen Glauben zu machen, der Oberst habe sie tatsächlich dreimal durchgenommen.

Ach ja, Adrian gibt’s ja auch noch. Der amüsiert sich mehr als die Zuschauer dieses Films, ihm geht’s immer besser. Josefines Zuhälter Franz (Achim Hammer, „Ich – Ein Groupie“) tritt auf den Plan und will Geld. Adrian zieht ins Hotel Sacher, doch Franz glaubt, Josefine spiele ein falsches Spiel mit ihm und will ihr ans Leder – doch der Inspektor beschützt sie. Als Adrian vollständig genesen ist, will er Josefine wiedersehen und sucht daher das Bordell auf. Er will aus ihr eine Comtesse machen, um die „gute Wiener Gesellschaft“ zu düpieren, doch alle Huren stürzen sich auf ihn. Es gibt noch ein bisschen angezogenes Gefummel zu sehen, bis Adrian am Schluss einsehen muss, dass er Josefine nicht für sich behalten kann.

Puh, das war zumindest zeitweise ein härteres Brot. Die Kamera fängt wiederholt Gegenstände in Großaufnahme ein, zudem hatte man seinerzeit offenbar Spaß an superhektischen Schnitten. Diese nerven ebenso die Musik, die zu großen Teilen aus Ösi-Folklore zum Abgewöhnen besteht. Wie unfassbar naiv die junge Josefine in ihren visualisierten Rückblenden gezeichnet wird, ist etwas problematisch und arg unrealistisch zugleich, passt aber zu den pubertären Doppeldeutigkeiten, mit denen die Dialoge arbeiten („steif“, höhö, „Vögeln“ – ich brech‘ ab!). All das macht in Summe eine alberne, anzügliche Kostümklamotte aus dieser Fortsetzung, die immerhin ein wenig die vermögende Oberschicht und deren Dekadenz aufs Korn nimmt, mit seinen überaus keuschen, in erster Linie von Andeutungen geprägten Sexszenen aber sein Versprechen, ein Erotikfilm zu sein, kaum einlöst. Und wären zahlreiche Produktionen der damaligen Ära nicht noch deutlich mieser, würde ich glatt noch einen Punkt weniger zücken.
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Tatort: Herz der Dunkelheit

„Das sind doch deine Freunde!“

Nach 18 Fällen verabschiedet sich Karin Hanczewski in ihrer Rolle als Hauptkommissarin Karin Gorniak von ihrem Vorgesetzten Schnabel (Martin Brambach) und ihrer Kollegin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) und damit vom Dresdner „Tatort“. Diese Trennung inszeniert hat die erfahrene Krimi- und „Tatort“-Regisseurin Claudia Garde, die diesen Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe bereits im Frühjahr 2023 gedreht hat und zusammen mit Ben von Rönne auch das Drehbuch verfasste. Die Erstausstrahlung erfolgte 2. Februar 2025.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wahnsinnig unsympathisch bist?“

Der Biologie-Leistungskurs eines Abiturjahrgangs feiert eine Privatparty bei Maya Wolff (Katharina Hirschberg, „Bibi & Tina – Einfach anders“), deren Eltern verreist sind. Diese sind offenbar recht wohlhabend, denn ihr üppiges Grundstück umfasst u.a. ein Poolhaus. Die Jugendlichen klinken sich Drogen ein und tanzen zu lauter Musik. Als der adipöse Außenseiter Marlin (Max Wolter, „Wer ohne Schuld ist“) seinen Freund Janusz (Louis Wagenbrenner, „Hammerharte Jungs“) halbtot oder tot auf der Poolhaus-Toilette vorfindet, ruft er die 110 an. Als die Partygäste Kevin (Filip Schnack, „Cassandra“) und Khaleb (Leander Lesotho, „Nackt über Berlin“) dies mitbekommen, beenden sie den Anruf und wollen verhindern, dass Marlin erneut Kontakt mit der Polente aufnimmt. Als er vor ihnen wegläuft, rennen sie hinterher – und treiben ihn damit versehentlich vor einen Lastwagen, der ihn überrollt. Einen Tag später erliegt Marlin seinen schweren Verletzungen. Als die Polizei von den Jugendlichen wissen will, was genau passiert ist, scheinen diese entweder nichts zu wissen oder nichts sagen zu wollen. Janusz jedenfalls ist spurlos verschwunden. Er habe die Feier schon früh verlassen, heißt es. Für die Kommissarinnen Gorniak und Winkler gilt es nun, herauszufinden, wo Janusz steckt und was mit ihm geschehen ist. Pikanterweise handelt es sich bei einem der Partygäste um Romy (Charlotte Krause, „Manta Manta – Zwoter Teil“), die Tochter Paul Brahms‘ (Hannes Wegener, „Levi Strauss und der Stoff der Träume“) – Gorniaks neuem Freund…

„Wenn Sie Privates und Berufliches nicht trennen können, sind Sie raus.“

Garde und ihr Team arbeiten mit vielen interessanten Versatzstücken. Zunächst einmal wäre da der stete, aber relativ kleine Informationsvorsprung der Zuschauerschaft gegenüber der Polizei. Man hat gesehen, dass Marlin Janusz gesehen hat, weiß aber nicht, wo er hin und was mit ihm geschehen ist. Man erfährt, dass Jule (Ginggan Maya Hörbe, „Counterpart“) etwas weiß, was sie vielleicht besser nicht wissen sollte, aber nicht, was. Dann ist da die Gruppendynamik innerhalb der Jugendlichen, bei der etwas im Argen liegt. Und dies wiederum wird nach und nach in Rückblenden zur Partynacht aufgedröselt. Diese Partystimmung und Rausch visualisierenden Einblicke sind bereits während der Einzelvernehmungen der Jugendlichen elementarer Bestandteil dieses „Tatorts“, der darüber hinaus einmal mehr eine persönliche Involvierung einer der Ermittlerinnen fokussiert, wenn auch diesmal, um Gorniaks Ausscheiden zu initiieren.

„Du setzt alles aufs Spiel!“

Dass Gorniak weiß, dass Romy sie anlügt, verlangt ihr einen schwierigen Spagat ab und führt zu Interessenskonflikten, die sie zugunsten der Wahrheitsfindung auflöst und dabei auf wenig entschuldbare Weise ihre Kompetenzen überschreitet. So nervig die Figur Romy auch ist, in erster Linie wird – ob so intendiert oder auch nicht – herübergebracht: Trau nie einem Bullen. Dem gegenüber steht die irritierend positiv konnotierte Figur Jules, die selbst einmal Polizistin werden will, dabei überheblich wirkt und sich schon mal in Denunziation übt. Wichtige Ermittlungsergebnisse liefert aber auch das Auswerten von Smartphones inklusive Wiederherstellung eines gelöschten Messenger-Videos (was die Polizei interessanterweise erfolgreich veranlassen kann), Spurenmikroskopie und die Videoüberwachung des Straßenverkehrs – ein aus bürgerrechtlicher und moralischer Sicht mehr als nur ein wenig Magengrummeln verursachendes Potpourri aus Kompetenzüberschreitung, Eindringen in die Privatsphäre, Denunziation und öffentlicher Überwachung also.

Erfreulicher aber zugleich auch ziemlich ernüchternd sind da die Einblicke in die Gefühlswelt der Jugendlichen, die einerseits zu Charthits der 1980er und ‘90er statt aktuellem Mainstream feiern, andererseits aber moderne Kommunikations- und Medienaustauschmittel als Waffe im Kampf um Gefühle nutzen und eine Hierarchie aufweisen, in der Janusz ganz oben steht bzw. stand. Dass es ihm zum Verhängnis geworden sein könnte, dass er diesen Status ausnutzte, vielleicht gar eine Art Tyrannenmord im Raum steht, ist der vielleicht reizvollste Aspekt dieses Falls, der andererseits mit der Nonchalance und Gefühlskälte der zwar nicht porträtierten, aber zumindest skizzierten Generation erschrickt – und nachdenklich stimmt.

6,5 von 10 Wildschweinbissen dafür, und:
Auf Wiedersehen, Karin Hanczewski!
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Sex Education [Staffel 4]

Die Geschichte der O

„Ich schick‘ Dickpics überall rum, was ist schon dabei?“

Sexualkunde, die finale Staffel: Mit den sieben knapp einstündigen Episoden und dem Finale in Spielfilmlänge der vierten Staffel verabschiedet sich die zuletzt immer soapiger gewordene Dramödie mit Aufklärungsanspruch „Sex Education“ von ihren Zuschauerinnen und Zuschauer sowie allen dazwischen und außerhalb beim US-Video-on-Demand- bzw. Streaming-Anbieter Netflix. Am 21. September 2023 wurde die Staffel bereitgestellt, bei der Dominic Leclerc, Michelle Savill und Alyssa McClelland die Regie führten. Jede Episode wurde von einer anderen Person geschrieben, Serienerfinderin Laurie Nunn schrieb den Staffelauftakt.

„Nicht alles ist Therapie, Otis!“

Im Vorfeld war bereits bekanntgeworden, welche Figuren für eine vierte Staffel nicht mehr zur Verfügung standen. Dafür bekommt man es nicht nur mit einer Vielzahl neuer Rollen zu tun, sondern auch mit einem geänderten Umfeld: Die Moordale Secondary School wurde von Amts wegen geschlossen; wer weiterhin zur Schule geht, tut dies am Cavendish College – und dort weht ein anderer Wind. Nein, nicht etwa ein strengerer, sondern ein wesentlich liberalerer. Man legt dort Wert auf Fortschrittlichkeit und Diversität sowie möglichst viel Selbstverwaltung durch die Schülerinnen und Schüler. Otis (Asa Butterfield, „Der Junge im gestreiften Pyjama“) möchte dort seine Sexualtherapiestunden fortführen, sieht sich jedoch mit einer Konkurrentin, die sich geheimnisvoll (warum auch immer, thematisiert wird dies nie) nur O (Thaddea Graham, „Us“) nennt, konfrontiert: Sie ist als Beraterin an der Schule längst etabliert. Otis‘ mehr oder weniger feste Freundin Maeve (Emma Mackey, „Badger Lane“) hat es von Kanada in die USA verschlagen, um dort Schriftstellerei zu studieren. Doch beiden fällt die räumliche Distanz zueinander schwer – und der beliebte Autor Mr. Molloy (Dan Levy, „Geistervilla“), an dessen Kurs Maeve teilnimmt, zeigt sich nicht sonderlich angetan von Maeves Talent.

„Komm, lass uns zusammen beten!“

Der homosexuelle Eric (Ncuti Gatwa, „Stonemouth – Stadt ohne Gewissen“) ist von der neuen Schule begeistert, gibt dort doch eine ausgesprochen sympathische Clique, die aus dem transsexuellen Liebespaar Abbi (Anthony Lexa) und Roman (Felix Mufti) sowie deren schwerhöriger Freundin Aisha (Alexandra James) besteht, den Ton an und steht ganz oben in der Hierarchie. Aimee (Aimee Lou Wood, „Die wundersame Welt des Louis Wain“) hat den sexuellen Übergriff noch nicht verarbeitet, lässt sich von Rollstuhlfahrer Isaac (George Robinson, „Dalgliesh“) aber in die Kunst einführen und entdeckt die Fotografie als ihr Ventil, während sich auch etwas mehr als reine Freundschaft zwischen den beiden entwickelt. Jackson (Kedar Williams-Stirling, „Wolfblood – Verwandlung bei Vollmond“) entdeckt ein Geschwulst an seinem Hoden und will von seinen beiden Müttern (Sharon Duncan-Brewster, „Eine Hochzeit zu dritt“ und Hannah Waddingham, „Game of Thrones“) endlich wissen, wer sein leiblicher Vater ist. Seine beste Freundin Viv (Chinenye Ezeudu, „Ich schweige für dich“) lacht sich in Mitschüler Beau (Reda Elazouar, „Voyagers“) einen krankhaft misstrauischen, eifersüchtigen und übergriffigen Psycho an. Eric wiederum sieht sich selbst als gläubiger Christ, hadert aber damit, sich in seiner Gemeinde taufen zu lassen, da er deren Homophobie fürchtet. Die transsexuelle Cal (Dua Saleh) durchlebt seit ihrer Testosterontherapie eine zweite Pubertät und kommt damit nur schwer klar.

Die tussige Ruby (Mimi Keene, „EastEnders“), die ihre soziale Herkunft mit ihrem überschminkten und arroganten Auftreten kaschiert, muss feststellen, dass an dieser Schule andere Maßstäbe gelten, die nun sie zur Außenseiterin machen. Sie unterstützt Otis bei der Wahl zum Schulsexualtherapeuten, weil sie mit O noch eine alte Rechnung zu begleichen hat. Der ehemalige Schulleiter der Moordale, Michael Groff (Alistair Petrie, „Rogue One: A Star Wars Story“), hat eine Anstellung an der neuen Schule gefunden, kommt seit der Trennung von seiner Frau Maureen (Samantha Spiro, „From Hell“) privat aber auf keinen grünen Zweig mehr und plagt sich mit Erektionsproblemen. Sein bisexueller Sohn Adam (Connor Swindells, „Keepers – Die Leuchtturmwärter“) hat die Trennung von Eric gerade so verkraftet und beginnt eine Ausbildung auf einer Farm.

Und die eigentliche Sex-Therapeutin, Otis‘ Mutter Jean (Gillian Anderson, „Akte X“)? Diese ist überfordert mit ihrer Rolle als unverhofft noch einmal alleinerziehende Mutter der kleinen Joy gewordene Mitvierzigerin, die zudem wieder in ihrem Beruf arbeiten möchte – genauer: beim Radio, für das Produzentin Celia (Hannah Gadsby, „Please Like Me“) Personal für eine Call-in-Therapiestunde sucht. Otis guckt sich das eine Weile mit an und holt dann eigenmächtig Hilfe in Person Joannas (Lisa McGrillis, „Last Night in Soho“), Jeans jüngerer Schwester, herbei, die kurzerhand einzieht und Jean unterstützt – aber auch ihr unstetes Privatleben und unaufgearbeitete geschwisterliche Konflikte mitbringt…

Eine Menge los also wieder. Alles beginnt mit einer witzig gemachten Rückblende, in der Jean vorliest, was bisher geschah, und dabei mitunter selbst erstaunt ist. Erstes aufgegriffenes Thema ist der gegenseitige Versand persönlicher Nacktbilder anhand Otis‘ und Maeves Fernbeziehung. Maeve findet nichts dabei, doch Otis ziert sich. Eric ermutigt ihn, es ihr gleichzutun. Ich will gewiss kein Spielverderber sein, aber vielleicht wäre es educational, wenigstens ein bisschen, kurz, so ganz am Rande, darauf hinzuweisen, welche Risiken es birgt, derart vertrauliches Material per von Oligarchen und Arschlöchern wie Musk und Zuckerberg betriebenen Diensten durchs Internet zu jagen. Es dauert nicht lange, bis mich die Serie aufs Glatteis führt: Die neue Schule entpuppt sich als derart superwoke, öko und hyperkorrekt sowie modern ausgestattet, dass ich davon ausgehe, dies werde im weiteren Verlaufe aufs Korn genommen und gezeigt, dass es sich hinter der Fassade um ein scheißautoritäres oder sektenartiges Bildungsinstitut handelt. Doch dem ist nicht so, alle Übertreibungen sind offenbar ernstgemeint und Kritik an der Schule wird im weiteren Verlaufe lediglich daran geübt, dass sie nicht barrierefrei genug für Rollifahrer Isaac ist. Für Lacher sorgt die erste Episode mit dem entbrennenden Konkurrenzkampf zwischen Otis und O, in dessen Zuge Otis versehentlich seine Dickpics auf einen Bigscreen projiziert. Der Fokus liegt jedoch auf den Schwierigkeiten einer Fernbeziehung, als Fazit empfiehlt die Episode Telefonsex miteinander und Selbstbefriedigung.

Episode 2 thematisiert Prostatastimulation sowie den Leidensdruck, den trans- und homosexuelle Christinnen und Christen in intoleranten Gemeinden verspüren (und diese Serie macht es möglich, beides in einem Satz unterzubringen). Am Beginn von Erics Auseinandersetzung mit dem Thema steht der Druck, den seine Mutter auf ihn ausübt. Ferner plagt sich Otis mit Eifersucht auf Maeves durchtrainierten neuen Kumpel Tyrone (Imani Yahshua) – unnötigerweise, denn dieser ist schwul. Ruby sucht Anschluss und macht nun auch auf woke, Jean ist während ihrer ersten Radiosendung fahrig, die Wiederannäherung Michaels an seine Familie gestaltet sich schwierig und Otis therapiert Roman, der ein 17-jähriger Schüler sein soll, aber bereits großflächig tätowiert ist. Ja nee, is‘ klar… Positiv anzumerken ist aber, dass neben Dua Saleh als Cal auch die beiden neuen transsexuellen Rollen von tatsächlichen Transsexuellen gespielt werden. Und bei beiden ist die Transition offenbar derart gut gelungen, dass ich dies zunächst gar nicht bemerkte.

Die dritte Episode etabliert einen Handlungsstrang, der bis zum Schluss nicht an Bedeutung verlieren wird: Eine Rückblende zeigt, wie Ruby als Kind von ihren Eltern in ein Ferienlager gesteckt wurde, woraus hervorgeht, dass sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft gemobbt wurde. Sie findet dort eine Freundin, von der sie glaubt, ihr vertrauen zu können, die sie aber nach einem Malheur Rubys verrät und dem Gespött der Mitschülerinnen ausliefert. Bei dieser Person handelt es sich um niemand Geringere als O. Adam nimmt Fahrstunden bei seinem Vater, wodurch sie wieder miteinander zu reden beginnen, Joanna hat ein Rendezvous und Isaac führt die in dieser Staffel noch einmal besonders schräge Aimee an die Kunst heran, womit die Serie auf nachvollziehbare Weise transportiert, welch heilsame Wirkung es haben kann, eine persönliche, individuelle künstlerische Ausdrucksform zu finden. Etwas zu lachen gibt’s beim Videodreh für Otis‘ Wahlkampf, den Ruby federführend in die Hand genommen hat. Im Mittelpunkt steht aber Rubys traumatisierende Grundschulzeit, es werden jedoch auch viele weitere kleine Geschichten (weiter-)erzählt – womit besonders diese Episode etwas überladen wirkt. Dass Maeve zurück nach Hause kommt, sorgt einerseits für Freude bei Otis, birgt aber auch weitere Dramatik.

Diese verursacht nicht nur Maeve bzw. Otis‘ Umgang mit ihr und Ruby, sondern vor allem Maeves Mutter, die mit einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert wird. Als sie sie mit ihrem Bruder Sean (Edward Bluemel, „Killing Eve“) besuchen will, erfährt sie, dass sie bereits verstorben ist. Diese Episode nimmt sich mehr Zeit und presst nicht sämtliche Handlungsstränge zusammen, wodurch sie auch die nötige Sensibilität für den Umgang mit dem Tod aufbringt. Kuriosum der Episode ist’s, dass Jean für ihre Radiosendung eine Co-Therapeutin an die Seite gesetzt bekommt: O.

Leider rutscht die Staffel mit Episode 5 vollends ins Unrealistische ab, als ein Kinobesuch, bei dem sich alle Welt plötzlich einen uralten Schwarzweiß-Schinken ansieht (?!), zur Farce gerät. Zudem tut man so, als müsse Otis es Maeve unbedingt sagen, dass er während ihrer Abwesenheit einmal versehentlich mit Ruby in deren Bett eingeschlafen ist – in voller Montur und ohne, dass irgendetwas passiert wäre. Welch ein Blödsinn. Die Debatte zwischen Otis und O vor Schulpublikum bleibt hinter den Erwartungen zurück und ist geprägt von persönlichen Anschuldigungen.

Phantastische Elemente führt die sechste Episode ein, indem Eric religiöse Träume und Visionen hat, was hart an der Kitschgrenze kratzt. Auch Jackson wird von surrealen Visionen geplagt. Fragen wirft zudem auf, weshalb zur Hölle ein Video existiert, das O als Kind Ruby drangsalierend zeigt und plötzlich ohne weitere Erklärung aus dem Hut gezaubert wird. Und weshalb suggeriert die Serie, dass sich eine 17-Jährige für etwas rechtfertigen müsse, was sie als dummes Kind getan hat, und ist damit enorm nachtragend? Herbeigezaubert wird auch eine sexuelle Störung Otis‘, der beim Sex an irgendein Kindheitstrauma mit seiner Mutter denken muss. Der Fokus wird jedoch auf die Trauerfeier für Maeves und Seans Mutter gerichtet, die ebenfalls zwischen Farce und Kitsch changiert. Der Geschwisterkonflikt zwischen Jean und Joanna droht sich zuzuspitzen, als sich derjenige, mit dem Joanna sich nun trifft, als Jeans Ex und Vater der kleinen Joy entpuppt. Ja, bei der Dramaturgie hilft auch der Zufall kräftig mit und erinnert verstärkt an Seifenopern der nervigen Sorte.

Episode 7 beginnt mit einer Rückblende in Jeans und Joannas Kindheit, die Einblicke in die Entstehung der eigenartigen Beziehung der beiden zueinander gewährt. Im weiteren Verlauf werden sie sich böse in die Haare kriegen. Wieder greift man in die Zauberkiste und holt einen dritten sich zur Wahl stellenden Sexualtherapeuten hervor, womit die Handlung immer beliebiger wirkt. Das Plädoyer für Barrierefreiheit auf Grundlage des defekten Fahrstuhls, der Isaac vor unlösbare Probleme stellt, wird damit vermengt, mehr Rücksicht auf Schwerhörige oder Taube zu nehmen. So gut das alles gemeint ist und so sehr diese Episode zum friedlichen Protest und zivilen Ungehorsam aufruft, umso schwülstiger und kitschiger wird „Sex Education“ leider auf seinem Weg zum Finale. Um doch noch einmal tiefgehende Gefühle zu präsentieren und die Zuschauerschaft emotional zu packen, treffen Maeve und Otis Entscheidungen, was ihre Beziehung betrifft, und erhalten eine schöne, romantische Sexszene – die im Gegensatz zu den meisten anderen dieser Serie tatsächlich ohne Klamotten stattfindet. Für gewöhnlich suggeriert „Sex Education“, man behalte beim Koitus seine Kleidung an. Das eigentlich todtraurige Ende ist filmisch gut gemacht.

Das extralange Finale rückt eine Nebenhandlung in den Fokus, indem sie sich auf die Suche nach dem/der verschwundenen Cal konzentriert. Mit Absagen an die homophobe Kirche und an toxische Positivität (endlich!) punktet man noch einmal, bevor ein vollumfängliches Happy End den Reigen schließt: Alle finden immer die richtigen Worte und ändern sich zum Positiven, womit „Sex Education“ endgültig im herbeifantasierten Blümchen-Bienchen-Lala-Wunderland angekommen ist.

Diese vierte Staffel ist eine überaus ambivalente Angelegenheit. Auf der einen Seite haben wir gut weiterentwickelte vertraute und nicht uninteressante neue Figuren, mittels derer die Serie jedoch ein deutlich überdurchschnittliches Gewicht auf Transsexuelle legt. Mit O ist sogar erstmals eine asexuelle Figur dabei. Die Serie ist weiterhin superb geschauspielert und ihre sexpositive Ausrichtung in diesen immer prüder werdenden Zeiten nach wie vor erfrischend. Um Unaufdringlichkeit bemüht, aber auch ohne Rücksicht auf Realismus, ist die Handlung ein unmissverständliches Plädoyer für Diversität und Akzeptanz, Offenheit, Body Positivity und Solidarität sowie gegen falsche Angst vor Therapien und Vorsorgeuntersuchungen, gegen Rassismus, Ableismus und Klassismus. Das bedeutet aber auch, salopp formuliert: Adipöse haben keinerlei Problem, Sexualpartner zu finden und der Gelähmte bekommt die heißeste Blondine. Eine schöne Scheinwelt, in die sich „Sex Education“ da hineinmanövriert hat und ganz Seifenoper-typisch auch nicht davor zurückschreckt, Figuren wie Jeans Schwester zu erfinden, von denen vorher nie die Rede gewesen ist, um die Handlung irgendwie voranzubringen.

Licht und Schatten halten sich in dieser letzten Staffel die Waage – und die übertrieben lauten Musikeinlagen nerven wie Sau.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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