Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Frankfurt Kaiserstraße (Roger Fritz, 1981) 7/10

Rolf und Susanne sind jung und unternehmungslustig, und die große Stadt, dort draußen vor dem Kaff auf dem sie wohnen, lockt mit ihrer Lebenslust. Doch Rolf muss zum Barras, und Susanne überwirft sich mit ihrem Vater und verzischt sich nach Frankfurt, zu ihrem Onkel Ossi, der dort gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Tonino ein Blumengeschäft führt. Und zwar genau dort, wo die große Stadt am lebendigsten ist: Mitten im Bahnhofsviertel, in der Kaiserstraße, wo die Welt nur aus Puffs, Kneipen und Spielhallen besteht, aus Zuhältern und Nutten, aus Abzockern und Gestrandeten. Und während Rolf dank seines arroganten Vorgesetzten sogar in den Bau kommt und damit eine Urlaubssperre erhält, erkundet Susanne die große, bunte und leuchtende Stadt: Sie arbeitet in einem Schnellimbiss („Bring mir doch mal eine Bockwurst die so knackig ist wie du.“), zieht mit dem Lieferjungen Benny durch die Discos, und lernt bei einem Überfall von ein paar Punks Jonny kennen. Der besorgt ihr ein Luxusappartement, und Susanne ist viel zu jung um zu erkennen, dass ihr weiterer Lebensweg in diesem Augenblick festgelegt wird, nämlich als Luxusnutte unter Jonnys harter Hand. Doch irgendwann kommt auch Rolf wieder raus und kann seine Susanne besuchen und sie aus den Klauen Jonnys retten, allerdings gab es da noch diese Nacht mit dem Barmädchen Chris …

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Kein Wunder, dass FRANKFURT KAISERSTRASSE damals an den Kinokassen floppte. 1981 war im deutschen Kino sowieso ein schwieriges Jahr: DIETER MEIER versuchte in JETZT UND ALLES New Wave und Noir zu einem Gesamtbild zu vereinen, Carl Schenkel erkundete den Lebensnerv der jungen Generation mit KALT WIE EIS, Adolf Winkelmann zeigte in JEDE MENGE KOHLE, dem zweiten Teil der Ruhrgebietstrilogie, das ungeschönte Leben im Pott, und Wolfgang Petersen ging mit einer neuen Generation Schauspieler auf große Kaperfahrt im Nordatlantik und arbeitete mit DAS BOOT deutsche Geschichte auf.

Zwischen New Wave, Neon, Beton und Vergangenheitsbewältigung konnte die Liebesromanze mit Zuhälter-Background einfach nicht richtig ziehen. Der Zeitgeist war darauf nicht eingerichtet. Oder anders ausgedrückt: Wie hatte sich Lisa-Film die Zielgruppe eigentlich vorgestellt? Im Jahre 1981 zogen Punks und Waver durch Deutschland, die wollten im Kino ganz sicher keine Liebesgeschichte sehen. Und die anderen? Diese Jahre waren Jahre des Auf- und Umbruchs, und FRANKFURT KAISERSTRASSE ist erzählerisch und bildlich ganz klar in den 70ern zu verorten, aus heutiger Sicht konnte das ja nur ins Auge gehen. In der Rangliste der erfolgreichsten Filme 1981 ist der Paradigmenwechsel zwischen den vergangenen Jahren des europäischen Kinos und den kommenden Jahren der US-Blockbuster klar zu erkennen. Aber eines haben die ersten Filme dieser Rangliste gemeinsam: Sie haben mächtige Bilder und packen den Zuschauern bei den Eiern …

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Und heute? Wie wirkt FRANKFURT KAISERSTRASSE heute? Jetzt wird es persönlich, denn prinzipiell ist der Film erstmal eine Zeitreise in die Jugend des Rezensenten. Nicht dass ich in Frankfurt groß geworden bin, aber ich habe genau in dieser Zeit, nur ein wenig jünger als die Protagonisten, das Großstadtleben kennenlernen dürfen. Die Kneipen, die schrägen Typen, das Milieu, diese ständig in der Luft flirrende Mischung aus Laissez-faire und versteckter Aggression, aus gemeinsamem Saufen und eine aufs Maul bekommen. Und da ich ebenfalls aus einer kleineren Stadt kam, kann ich die Reaktionen von Rolf und Michaela absolut nachvollziehen. Die Lichter sind bunt, die Gestalten sind es noch viel mehr, und die Abgründe hinter den Lichtern sind nur zu ahnen und gar zu verführerisch.

Roger Fritz schafft in FRANKFURT KAISERSTRASSE das Kunststück, einer Zeit ein Denkmal zu setzen, die gar nicht klassifiziert werden konnte, weil sie, wie bereits erwähnt, eine Zeit des Umbruchs war. Peter Fratzschers ASPHALTNACHT aus dem Jahr 1980 zeigt diesen Umbruch in Form einer Partnerschaft eines Punks und eines Alt-Rockers. Eigentlich undenkbar, aber ja, das war die Zeit. Roger Fritz wiederum greift ins volle Leben und zeigt ganz normale Menschen in (mehr oder weniger) ganz normalen Situationen. Es gibt keine Spannungskurve in FRANKFURT KAISERSTRASSE, keine Kriminalität, keine Polizei, keinen deutlich herausgearbeiteten Bandenkrieg, sondern ein sommerliches Alltagsleben in den nicht so feinen Ecken einer großen Stadt. Im Vergleich drängen sich mir Filme von Klaus Lemke auf, in denen der Zuschauer gemeinsam mit den Darstellern durch das Leben flaniert, und hier ist es eigentlich nicht anders. Keine großen Katastrophen und keine Gefühle in Cinemascope, sondern eher: Das Leben geht weiter. Benny will einen Kuss? Eine Ohrfeige, und jeder weiß wieder wo er hingehört. Rolf geht fremd? Rolf ist ein patenter Kerl, und nach einem ordentlichen Besäufnis ist die Welt auch wieder halbwegs in Ordnung. Terz mit dem Vater? Na ja, hier nimm das Geld, es soll ja keiner sagen dass ich Dich nicht unterstütze. Keine Hollywood-Emotionen, sondern Alltag in Deutschland, morgens um halb zehn.

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Und deswegen zieht FRANKFURT KAISERSTRASSE eigentlich erst heute so richtig. Als nostalgische Reise in eine Welt, die es so nicht mehr gibt (weil die kleinen und großen Luden längst von Russen und Serben abgelöst wurden, und die sind trotz allem ein paar große Ecken härter als die Zuhälter von damals), als ruhiger und lässiger Trip durch eine sommerliche Großstadt, und als cool erzählte Romanze zwischen zwei Jugendlichen, die damals (wie heute?) wie aus dem Leben gegriffen scheinen. Man muss sich vor der Sichtung nur klar darüber sein, dass FRANKFURT KAISERSTRASSE kein Krimi ist, kein Wave-Noir und kein Exploitationer. Sondern, bereits auch unter den damaligen Begriffen, altmodisches Erzählkino zum Träumen und Spaß haben …

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Maulwurf
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Jade (William Friedkin, 1995) 7/10

Ein Millionär wird gefesselt, nackt und abgeschlachtet gefunden, und der ermittelnde Staatsanwalt Corelli wittert eine Chance, seinen ungeliebten Chef endlich überrunden und selber Chef werden zu können. Schnell wird herausgefunden, dass der Tote Sexfotos des kalifornischen Gouverneurs im Safe hatte. Über diese Spur wird dann ein Haus für gewisse Stunden entdeckt, und dort taucht dann tatsächlich ein Video einer Edelhure auf, die ganz schwer als Mörderin in Frage kommt. Das eine Problem: Diese Edelhure ist Trina, die Frau von Corellis bestem Freund Matt (der nebenbei auch noch ein erstklassiger Rechtsanwalt ist), und Trina ist die Jugendliebe Corellis, der diese Liebe auch nie wirklich aufgegeben hat. Das andere Problem: Auf Corelli werden zunehmend brutalere Mordanschläge verübt. Von Trina?

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Joe Eszterhas war mal eine Zeitlang eine ziemlich große Nummer in Hollywood, sowohl als Drehbuchautor, wie auch als Produzent. BASIC INSTINCT, SHOWGIRLS …Die Richtung ist klar. Der Mann wusste halt, was sich Anfang der 90er-Jahre gut verkaufen ließ, nämlich Filme mit sexueller Grundstimmung, die zwar nichts wirklich Relevantes zeigten, aber eine starke erotische Ausrichtung hatten. JADE, sein letzter größerer Film, geht ebenfalls in diese Richtung. Zwar wird nur ein Body Double von Linda Fiorentino gelegentlich nackt und in aufreizenden Posen gezeigt, aber das ständige Gerede über Sex, die gezeigte Untreue, die dargestellten Spielzeuge und angerissenen Praktiken … Das ganze zugrunde liegende Thema erzeugt eine permanent vor Lust nur so flirrende Stimmung, vor deren Hintergrund sich dann die Mörderhatz abspielt.
Wobei die Frage, wer denn nun eigentlich den Millionär gemetzgert hat, relativ bald in den Hintergrund gerät. Viel beherrschender, und wenn man ehrlich ist auch spannender, ist der Umstand, ob Trina denn nun eine Luxushure ist, oder ob nicht? Ob ihr Mann Bescheid weiß? Und, im prüden Amerika natürlich besonders interessant, auf was für Praktiken sie sich einlässt.

Trina wird als Femme Fatale inszeniert, und Linda Fiorentino gibt (fast) alles, um diese Show zu untermauern. Sie ist cool, sie ist obercool. Sie stakst auf High Heels durch das Bild und lässt Corelli eiskalt auflaufen. Und selbst wenn ihr Mann ihr Vorwürfe ob ihrer offensichtlichen Ausschweifungen macht, behält sie mit ein paar klugen Sätzen noch die Oberhand. Zeigt im richtigen Augenblick etwas Sentiment, und alle Männer fressen ihr wieder aus der Hand. Ja, Trina ist eine Femme Fatale wie aus dem Lehrbuch. Eine, die ihre Ausstrahlung und ihren Körper dazu einsetzt, möglichst viele Vorteile zu haben.

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Die Charakterisierung dieser Frau und die Schauspielkunst Fiorentinos ist es, die JADE aus dem Brei des Mord-in-bester-Gesellschaft-garniert-mit-sexuellem-Gerede-Einerlei heraushebt. Dies, und die Tatsache, dass der Sumpf, in dem Corelli hier stochert, tatsächlich erheblich verderbter ist als in so manch anderem Mainstreamstreifen dieser Zeit. So ziemlich jeder hat hier Dreck am Stecken, und jeder will seine eigenen Schäfchen ins Trockene bringen. Dinge wie Moral und Ehrlichkeit sind Begriffe für angehende Oberstaatsanwälte und Pfadfinder, alle anderen versuchen ihren Vorteil wo nur möglich wahrzunehmen, und zwar um absolut jeden Preis. Diese Verderbtheit reicht bis ganz nach oben, und hinterlässt einen sehr bitteren Nachgeschmack. Friedkin zeigt uns eine Welt, die so hemmungslos verkommen und schmutzig ist, dass dem zuschauenden Wähler nur noch schlecht werden kann. Kein Wunder, dass der Film an der Kinokasse damals gnadenlos floppte: Im Zeitalter des galoppierenden Kapitalismus, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, wollte niemand solche Botschaften sehen. Er hätte sich ja angesprochen fühlen können …
Mir persönlich hat auch der Schluss, der oft als überhastet und klischeehaft beschrieben wird, einen derben Tritt vors Schienbein versetzt, verweigert JADE sich in der allgemein erhältlichen Kinofassung doch tatsächlich einem Happy-End nach geltenden Regeln, und lässt stattdessen alle Hauptfiguren so richtig nett ins Messer laufen. Selbst das sonnendurchflutete San Francisco ist also nur eine tiefschwarze und korrupte Welt, die von Sex, Gewalt und Geld regiert wird. In welcher Reihenfolge auch immer …

In Summe führt dies zu einem ordentlich gemachten und spannendem Noir-Thriller, der zwar viele formale Schwächen hat, und sich vor allem im ersten Teil in seiner Klischeehaftigkeit geradezu lustvoll wälzt, dafür aber mit tollen Schauspielern, erstklassiger (und überhaupt nicht Hollywood-typischer!) Musik und einer stringenten Spannung und Atmosphäre punkten kann. Und wenn ich so darüber nachdenke glaube ich, dass ich mir die US-BD besorgen werde, welche als einzige Veröffentlichung weltweit das richtige 16:9-Format zeigt, und damit die erstklassigen Bilder von Andrzej Bartkowiak erst richtig zur Geltung bringt. Denn so schlecht, wie er oft gemacht wird, ist JADE beileibe nicht. Nur ein klein wenig dunkler als im Mainstream üblich ...

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X – Urban Killer (Luis Marías, 2002) 4/10

Sommerliche Hitze in der Großstadt. Ein Toter in einem Friseursalon. Keine Zeugen. Die verschwundene Tatwaffe: Eine Friseurschere. Der Salon außerhalb der Geschäftszeiten als Homosexuellentreff. Und mittendrin ein Kommissar, der offensichtlich am Tatort war, sich aber an nichts erinnern kann, weil er zur Tatzeit stockbesoffen war. In einem fremden Bett neben einer fremden Frau aufgewacht ist. Und die blutverschmierte Tatwaffe in seinem Auto findet.

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Was man allein aus der Konstellation „Polizist erinnert sich an nichts was zur Tatzeit geschah“ alles hätte herausholen können. Und gar erst aus den Figuren: Ein Kommissar der Schwule nicht ausstehen kann („Die drei Tenöre kann ich auch nicht ausstehen.“). Eltern, die ihren Sohn verleugnen .Gangster, die den Kommissar sehr nachhaltig nach dem Geld fragen, wegen dem der Mord geschah. Zeugen, die den Kommissar zur Tatzeit gesehen haben und ihren Vorteil daraus schlagen möchten …

Das spanische Kino ist reich an ausgesprochen gelungenen und noch gelungeneren Beispielen, wie selbst aus dünnen Plots immens spannende Filme geschmiedet werden können. Wie erstklassige Schauspieler ihre Rollen in sich aufnehmen und aus der Kombination gekonnte Regie – überzeugendes Drehbuch - starker Schauspieler Meisterwerke der Filmthriller werden.

X gehört nicht dazu! Das beginnt bei der billigen Produktion, die auf austauschbare Kulissen und uninteressante Drehorte setzt. Das geht weiter bei Schauspielern, die sich entweder ins Overacting flüchten um ihren Rollen wenigstens ein wenig Farbe mitzugeben (Antonio Dechent, María Adánez), oder einfach nur müde wirken (Hauptdarsteller! Antonio Resines). Das setzt sich bei der dudeligen Musik fort, für die mir in erster Linie der Begriff langweilig einfällt. Und last but not least endet es bei der Inszenierung, die lustlos vor sich hinplätschert, und ebenfalls das Attribut langweilig generiert. Natürlich muss nicht jeder Krimi immer eine Actiongranate sein, beileibe nicht. Aber wenigstens ein wenig Interesse an der eigenen Geschichte erwarte ich seitens der Regie schon. X – URBAN KILLER plätschert so unendlich müde vor sich hin - Die Figuren wecken keine Neugierde, die Story selber wird mit ihren Subplots so mühsam erzählt, und die wenigen lebhaften und interessanten Nebenfiguren wie Tony Zenet als lebhafter Polizist oder Joaquín Notario als cooler Gangster werden rettungslos verschenkt und haben keinerlei Möglichkeit sich zu entfalten.

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Stattdessen versucht die Regie, das fehlende Tempo durch schnelle Schnitte zu simulieren, was dann spätestens bei Dialogen sehr schnell nervt – und eben auch ermüdet. Nach etwa einer Stunde Laufzeit, wenn die Gangster beginnen die Szenerie zu beherrschen und sich mit exzessiv ausgelebter Gewalt versuchen Eindruck zu verschaffen, dann gewinnt auch die Handlung an Tempo, und die Charaktere werden sichtlich nervöser und interessanter. Aber diese Ansätze sind schnell wieder vorbei und das Plätschern beginnt wieder …

Langweilig, vor sich hinplätschernd, lustlos, desinteressiert, mühsam, ermüdend - Keine interessanten Attribute für einen Film, der gerne ein Thriller wäre …
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Maulwurf
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Abrechnung in Shanghai (Josef von Sternberg, 1941) 3/10

Das größte und das verderbteste Spielcasino in Shanghai, das mit dem größten Angebot an Spiel und an Mädchen, wird geführt von der geheimnisvollem „Mama“ Gin Sling. Ihr Haus ist der Treffpunkt vieler lichtscheuer und verschlagener Gestalten. Als Beispiel mag der Spieler Dr. Omar genannt werden, der gerade erst eine junge Amerikanerin, Dixie Pomeroy aus Brooklyn, gekauft hat. Eines Tages betritt Victoria das Haus. Sie nennt sich Poppy Smith und ist auf der Suche nach Abenteuer und Verderbnis: „Die Luft hier riecht unglaublich verworfen.“ meint sie, und atmet tief durch. Sie verliebt sich in Dr. Omar und mutiert binnen kurzer Zeit von einer stolzen und schönen Frau zu einem spiel- und alkoholabhängigen Wrack mit immens hohen Spielschulden.
Was niemand weiß ist, dass Poppy die Tochter von Sir Guy Charteris ist, einem reichen Investor, der gerade das Grundstück gekauft hat auf dem das Casino steht. Er wird das Casino schließen, was Mama Gin Sling natürlich überhaupt nicht passt. Als Gin Sling herausbekommt, dass Charteris ihr Ex-Mann ist, der sie vor vielen Jahren im Elend hat sitzen lassen und ihr Geld gestohlen hat, will sie sich rächen. Die Tochter ist dabei das Mittel zum Zweck.

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Prinzipiell ist ABRECHNUNG IN SHANGHAI ein opulentes Werk über Hochmut und Stolz, über die Sünde und den Abgrund seelischen Verlangens. Oder zumindest könnte er das sein – Die Vorlage war ein Bühnenstück aus dem Jahr 1925, wo das Casino ein Bordell, und Dr. Omar nicht spielsüchtig sondern drogenabhängig war. Die Zensurbehörde der USA, das Hays Office, schnitt und krittelte aber bereits am Drehbuch so viel herum, dass das filmische Endprodukt wie ein kastrierter Kater um die Ecke schleicht, der sich verschämt in den Schatten drückt. Zu vieles in ABRECHNUNG wird nicht einmal angedeutet, wo durch deutliche Verweise viel mehr Druck hätte entstehen können, wo eine Atmosphäre des Untergangs und der Verkommenheit wie eine erstickende Decke über die Akteure hätte liegen können. Irgendwas zwischen DER BLAUE ENGEL und MR. MOTO, so dürfte von Sternberg das wahrscheinlich im Sinn gehabt haben. Denn seine Kulissen sind grandios, der Aufwand, der in der Produktion steckt, ist deutlich zu sehen, die Schauspieler sind hochrangig - und das Ergebnis ist hausbacken und müde …

Schauen wir doch mal auf die zeitgenössische Kritik: Die New York Times schrieb, der Film sei „absolut prätentiös, durchweg schleierhaft und in jeder einzelnen Rolle derartig schlecht gespielt“. Prätentiös ist er, das ist wohl wahr, denn er versucht trotz des Kampfes mit dem Hays Office eine Stimmung abzubilden, die sich einfach nicht einstellen will. Schleierhaft kann ich ebenfalls nachvollziehen, denn viele Vorgänge und Abläufe ergeben sich einfach nicht logisch zwingend. Die Mysterien des exotischen Orients wollen es, dass Mama Gin Sling hinter ihrer starren Maske vieles weiß und alles sieht, oder wie? Schlecht gespielt wiederum kann ich nicht nachvollziehen, die Darsteller sind fast durch die Bank gut, nur Gene Tierney übertreibt es mit ihrem Overacting ziemlich. Die sturzbetrunkene und biestige Teenagerin auf der Bar, die ist einfach nur peinlich, genauso wie der Versuch in Dr. Omars Armen zu landen. Jeder normale Mann würde so eine Zicke einfach nur wegschubsen und sich eine vernünftige Frau suchen. Und erzählt mir bitte nicht, dass die Männer 1941 auf so etwas standen …

Weiter schrieb die New York Times, dass das Ende „lachhaft sei“ – Am Ende des Films sitzen alle beteiligten (und ein paar Unbeteiligte) zusammen, dinieren, und werfen sich hässliche Dinge an den Kopf. Die Szene wirkt irgendwie … künstlich. Prätentiös. Wie aus einem Agatha Christie-Roman. Aus heutiger Sicht tatsächlich ein wenig lachhaft, aber wenn ein zeitgenössischer Kritiker das schon so sah …?

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Variety sah „ein eher langweiliges und nebulöses Orient-Drama“. Nun ja, ABRECHNUNG IN SHANGHAI ist schon sehr deutlich den hochtrabenden Filmen der 30er-Jahre verhaftet, und spätestens mit dem Beginn der 40er ist der Stil Hollywoods eine Ecke nüchterner und kantiger geworden. Die verspielten Szenen im Casino waren da nicht mehr unbedingt zeitgemäß, genauso wenig wie die Szenerie von Luxus und Verschwendung. Vor meinem geistigen Auge zieht DIE SPUR DES FALKEN aus dem gleichen Jahr vorbei, und zwischen diesen beiden Filmen liegen stilistische und narrative Welten. DIE SPUR DES FALKEN ist auch heute noch ein mitreißender und packender Kriminalfilm, der mit genauen Figurenzeichnungen und stimmungsvollen Ambiente so wie einer interessanten und wendungsreichen Geschichte Spannung erzeugt. Und genau da liegt der Hund begraben: ABRECHNUNG IN SHANGHAI bietet genau diese Dinge eben nicht: Die Figuren sind tatsächlich unsympathisch und nebulös (um nicht zu sagen schleierhaft), das Ambiente ist übertrieben, und die Geschichte nicht wirklich interessant und schon gar nicht wendungsreich, sondern eher ziemlich vorhersehbar. Momente wie die Mädchen in ihren Käfigen sind zensurbedingt einfach zu kurz um Atmosphäre zu erzeugen, und der verhangene Blick von Victor Mature reißt es da genauso wenig heraus wie das wunderschöne Gesicht der träumerischen Gene Tierney oder die starre und undurchdringliche Maske von Ona Munson.

Was in Summe dann leider etwas ergibt, was dem Terminus verschwendete Lebenszeit relativ nahe kommt. Schade, denn ohne die Einmischung der Zensurbehörde hätte da sicher ein Klassiker draus werden können. Ein Remake von Paul Verhoeven wäre was …

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Der Linkshänder (Sergio Gobbi, 1984) 7/10

Seit Wochen ist kein Stoff mehr in die Stadt gekommen, und mittlerweile sitzt ganz Paris auf dem Trockenen: Der Rauschgiftnachschub ist weg! Die verschiedenen Banden in den Vorstädten, die normalerweise ihr Geld mit Dealen verdienen, werden langsam immer nervöser, und es reicht ein Funken, um einen Flächenbrand zu entfachen. Dieser Funken heißt Falco – Inspektor Falco vom Drogendezernat sieht endlich seine Chance den Sumpf aufzuräumen, und Paris von dem ganzen Abschaum zu befreien. Er schürt die Ressentiments der Gangs untereinander und provoziert einen Bandenkrieg: Vietnamesen gegen Schwarze, und die Neonazis, die mit Falco gemeinsame Sache machen, gegen alle. Das Sandkorn im Getriebe dieses Plans könnte Inspektor Vincent ein, der Falco nicht ausstehen kann, mit den Vietnamesen gut Freund ist, und mit dem Lockvogel Falcos, der Hure und Kokserin Marisa, eine Liebelei hat. Oder könnte es sein, dass Falco genau diese Beziehungen in sein Kalkül mit einbezogen hat?

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Manchmal ist es schon eigenartig, was die deutschen Filmverleiher aus Filmen machen. Da haben wir zum Beispiel einen ordentlich düsteren und harten Actionstreifen aus Frankreich, der im Original übersetzt DIE ARMBRUST heißt. Damit bezieht er sich auf die weibliche Hauptfigur, die im Wesentlichen zwei Körperteile hat: Einen Arm zum Fixen und eine Brust zum Geldverdienen. Zumindest stelle ich mir das so vor …

Der deutsche Verleih macht aus DIE ARMBRUST erstmal DER LINKSHÄNDER, womit die Bezugsfigur schon mal eine ganz andere ist. Das ist ungefähr so, als wenn Hitchcocks DIE VÖGEL umfirmiert werden würde in “DIE MÖWE JONATHAN”. Weiter stellt man fest, dass ja die Charaktere im Original oft keine Namen bzw. nur Spitznamen haben (etwa Armbrust), und gibt ihnen der Einfachheit halber die Namen der Schauspieler. Aus Armbrust wird Marisa, aus dem Anführer der Schwarzen wird Alex (weil der Schauspieler hat zufällig Alex Descas heißt) ... Mutmaßlich, damit die im Ghettoleben üblichen Beleidigungen nicht so furchtbar politisch inkorrekt daherkommen, so könnte ich mir das vorstellen. Denn wenn ein Vietnamese auf dem Schlachtfeld auf einen verfeindeten Schwarzen trifft, wird der ihn bestimmt nicht mit Vornamen ansprechen. Ist Ghetto-Sprech im Film wirklich erst mit PULP FICTION salonfähig geworden?

DER LINKSHÄNDER also. Die linke Hand wird ja allgemein als etwas Schmutziges angesehen, als etwas Unreines. In DIE LINKE HAND DES GESETZES von Giuseppe Rosati räumt Leonard Mann als Polizist unter dem Gesocks der Großstadt auf, genauso wie Falco in DER LINKSHÄNDER. Zwar wird Vincent ständig als Linkshänder angesprochen (was er ja auch ist), aber Falcos rechte Hand ist gelähmt, er ist also ebenso Linkshänder. Was die deutsche Betitelung des Films nicht gerade verständlicher macht, und bereits während der Sichtung die Frage aufwarf, welcher Linkshänder denn nun wohl die Hauptfigur sein mag.

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Denn eigentlich ist Falco der wesentlich interessante Charakter. Ein mieses und faschistisches Stück Polizist, der seine ganze eigene Idee von Recht und Ordnung hat, und nach vielen Dienstjahren den Krieg auf den Straßen nicht mehr sehen kann. Und es ist ein Krieg: Hier werden Bilder von Paris gezeigt, die eher an die Bronx nach einem Bombenangriff erinnern. Und so künstlich der Kampf der Gangs inszeniert ist, aber es ist und bleibt ein unter Umständen tödlicher Krieg, das zeigen schon die Startbilder vom toten Dealer, der auf einem Schuttplatz abgeladen wird.

Das böse Zauberwort aber fiel bereits: Die Künstlichkeit. Den Franzosen ist in den 80ern nach und nach ihre Fähigkeit abhanden gekommen, geerdete und spannende Actionfilme zu drehen. Belmondo wollte nur noch Komödien, Delon wurde älter und stereotyper, und danach kamen oft nur noch halbherzige Versuche, die Klasse der spannenden Filme der zwei vorhergehenden Jahrzehnte zu kopieren. Werke wie DER BULLE VON PARIS aus dem Jahr 1985 atmen den künstlichen Geist der späten New Wave, haben aber mit echten Bildern der Straße nichts mehr zu tun, und erinnern eher an Plastic Betrand als an The Clash. DER LINKSHÄNDER kann sich durch die Wahl der abgefuckten Schauplätze vor dieser Falle gerade noch retten, aber die einzelnen Szenen wirken oft geradezu herzerweichend in ihrer Märchenhaftigkeit. Die Behausung der Neo-Nazis schaut trotz der herumstehenden Flaschen irgendwie fast gemütlich aus (Wer kann sich noch an FORMEL 1 erinnern, die Videoparade des bayerischen Fernsehens in den 80ern, mit heimeligen Ölfässern und lauschigem Trümmerambiente? Genau so!), und das Fabrikgelände der Vietnamesen könnte auch als schickes Loft oder als Begegnungsstätte für Asien-Fans durchgehen. Nur die Bilder der Straßenzüge, der Häuser, des Ghettos – die knallen in ihrer dreckstarrenden Verfallenheit tatsächlich rein, und zeigen einen Bezug zur Wirklichkeit.

Aber auf der anderen Seite: Wer braucht in einem Actionfilm einen Bezug zur Wirklichkeit? Die 17-jährige Tochter hat sich kürzlich beschwert, dass SKYFALL “voll unrealistisch” sei ... Und eigentlich meckere ich gerade nicht anders, nur mit mehr Worten.

Also versuche ich es mit weniger Worten: Marcel Bozzuffi spielt seine ganze Erfahrung aus und ist definitiv die Hauptfigur die den Film rockt. Daniel Auteuil wirkt oft etwas überfordert, und ist noch Lichtjahre von seinen gigantischen Leistungen in den Filmen von Olivier Marchal entfernt. Marisa Berenson ist die Sympathieträgerin, die restlichen Figuren sind Kanonenfutter, und ansonsten gilt, dass nach etwa 15 Minuten Laufzeit klar ist, wer den Film überleben wird und wer nicht. Die Actionszenen sind solide und in ihrer Härte gut gemacht, die Charaktere sind platitüdenhaft, die Musik passt undsoweiterundsofort ...

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Ein ordentlicher Actioner der ordentlich unterhält, aber niemals wirklich die Sterne vom Firmament holt.
So viele Worte für so wenig Fazit. Geht aber den Personen in DER LINKSHÄNDER ähnlich: Da braucht es nicht viele Worte, da wird ordentlich hingelangt, da werden Messer und Pistolen gezückt und die Fronten sind klar. Und ich mache das jetzt nicht anders: Der Film bekommt das Attribut „Gute Unterhaltung“, bleibt in der Sammlung und wird immer wieder mal angeschaut. Punkt.
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Braveheart (Mel Gibson, 1995) 8/10

Vor kurzem hatte ich das außerordentliche „Vergnügen“, PIRATES OF THE CARRIBEAN 5 – SALAZARS RACHE nebenbei mithören zu müssen. Als ich dann nur wenig später BRAVEHEART gesichtet habe, fiel mir der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Film auf. Mehr noch: Ich sah, was BRAVEHEART zu einem wirklich guten Film macht, und ihn vom sinnbefreiten Blockbuster-Getöse der späten 2010er-Jahre unterscheidet.

SALAZARS RACHE ist atemlos, ist ein unaufhörliches Dauerfeuer aus Aktionen, und wenn mal ausnahmsweise nicht so viel passieren sollte, weil zum Beispiel ein Segelschiff in Fahrt gezeigt wird, dann bläst stattdessen die pompöse und aufgeblasene Musik zum Angriff. Die Dauerbeschallung gibt ein gnadenloses und unaufhörliches Tempo vor, möglicherweise passend für die Generation YouTube, aber mit einer Erzählung in Form eines Films, mit Gefühlen und spannenden und abwechslungsreichen Sinneseindrücken hat das doch eher weniger zu tun.

BRAVEHEART hingegen vertraut auf die Macht seiner exzellenten Bilder. Mel Gibson weiß als Regisseur genau, wie seine Bilder auf das Publikum wirken, und lässt sie stehen, auf dass sie in den Geist den Betrachters eindringen können. Die Bilder erschlagen nicht, sie wirken und beeindrucken. Eindringlich und nachhaltig bleiben sie oft noch tage- oder gar wochenlang im Kopf des Betrachters.
Dazu bildet die Musik eine harmonische Verbindung, untermalt der Score von James Horner nur in den notwendigen Passagen einen pittoresken Hintergrund, vor dem sich die Figuren und die Geschichte ausbreiten können. Mel Gibson vertraut auf seine Bilder, und lässt vor allem in der ersten Hälfte des Films auch nicht viele Dialoge zu. Seine Charaktere, und hier stimmt dieser Begriff tatsächlich einmal, reden nicht mit vielen Worten, und sie müssen auch nicht jede ihrer Handlung mühsam erklären. Die Interaktion findet über Blicke und Handlungen statt, und es fällt gar nicht auf, wie natürlich der Film dabei wirkt. Keine überflüssige Geschwätzigkeit, kein Feuerwerk aus Sinneseindrücken nur um seiner selbst, keine mehrfachen Erklärungen und Erläuterungen. Stattdessen ein Fluss, bestehend ausschließlich aus Bildern und Empfindungen. Ein Film in der Tradition der ganz großen Hollywood-Dramen, die ihre Geschichte auf narrativer, genauso wie auf bildlicher Ebene meisterhaft erzählen konnten, ohne den Zuschauer dabei in einen Zustand der Schockstarre versetzen zu müssen. Und auch wenn der Atem gegen Ende ein wenig arg pathetisch wird, so reiht sich dieses Pathos doch hervorragend ein in eine Reihe mit Filmen wie DOKTOR SCHIWAGO oder LOVE STORY. Klassiker, die genau den gleichen dramatischen Ablauf wie BRAVEHEART zeigen. Sensibilisierendes und hochemotionales Gefühlskino, bei dem auch Tränen fließen dürfen. Zu Herzen gehende Geschichten …

In der zweiten Hälfte scheint Gibson seinen Bildern dann nicht mehr so ganz zu trauen, die Dialoge werden mehr, und die zarte Liebesgeschichte zwischen William Wallace und Prinzessin Isabelle scheint eher den Gepflogenheiten des massentauglichen Kinos geschuldet als der Schlüssigkeit der Geschichte. Als Kontrast fällt aber gleichzeitig auf, was für einen rauen Ton Gibson oft anschlägt. Seine Figuren sind schmutzig und verkommen, die Haare ungepflegt und die Fingernägel dreckig. Interessant, dass die Bösewichter in diesem Film oft die saubere Kleidung tragen, während die Guten meist von einer Schmutzschicht überzogen sind. Trau schau wem …
Aber bezüglich des rauen Tons meine ich vor allem die Kampf- und Actionszenen. Für einen Mainstream-Film, der solch einen gigantischen Erfolg hatte (was bei der Entstehung logischerweise auch beabsichtigt war), sind die Schlachten und Kämpfe ausgesprochen blutig inszeniert. Da werden in Großaufnahme Körperteile durchtrennt und Körper zerstückelt und aufgespießt, dass es nur so eine Pracht ist. Zwar meist nur für ganz kurze Momente, aber vor allem in der Masse dafür wiederum umso intensiver. Gibson zeigt uns die Abgründe des Spätmittelalters in Großaufnahme, und scheut vor kaum einer körperlichen Grausamkeit zurück. Dazu eine ziemlich deftige Portion menschlicher Niedertracht, und fertig ist ein grausam-düsteres Bild einer Zeit, die in den letzten Jahrzehnten stark überromantisiert wurde. Ein überaus realistisch wirkendes Schlachtenepos, das dem Heile Welt-Getue der Mittelaltermärkte fast wohltuend blutig gegenüber gestellt wird.

Aber letzten Endes ist es genau diese Mixtur aus grausamen Bildern, dreckstarrenden Settings und emotional, ja fast zärtlich, dargebrachten Blicken und Gesten, die einen Film zu einem Meisterwerk macht. Diese Mixtur berührt uns, weil sie im wirklichen Leben so ähnlich vorkommt, und obwohl, nein richtiger: Weil(!) sie Hollywood’sch überhöht wird, bahnt sich die Mischung aus Härte und Gefühl, aus dreckigem Äußeren und strahlendem Inneren, den Weg in unser Herz. BRAVEHEART ist ein Film der berührt. Das Schicksal William Wallace‘ lässt die wenigsten kalt, und der Weg bis zu diesem Schicksal spricht die Intelligenz und die Gefühlswelt der Zuschauer an. So werden große Filme gemacht, und nicht durch eine zweistündige Kakophonie um ihrer selbst willen.
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Fango bollente (Vittorio Salerno, 1975) 9/10

Die Ausweitung der Kampfzone. Das Füllen der Leere im Inneren des Selbst. Womit? Mit allem was geht. Bier, Drogen, Weiber. Anderen die Zähne einschlagen und die Rippen brechen - Spaß haben. Die eigene Existenz mit irgendwas füllen, egal wie, bloß dieses vollkommen leere und idiotische Alltagsleben vergessen …

Wenn man voneinander getrennte weiße Mäuse zusammenkommen lässt, dann zerfleischen sich die Mäuse gegenseitig. Dass das mit Menschen genauso gut funktioniert testen Ovidio, Giacomo und Beppe im Turiner Fußballstadion aus. Ergebnis: 40 Verletzte, ein Toter, 3 Schwerverletzte. Danach steht man mit dem geklauten Ferrari im Stau, also was tun? Der nächste Motorradfahrer wird per aufgerissener Tür zum Halten verdammt, und mit dem gekapertem Motorrad kann der Stau umgangen werden.
Im normalen Leben, als Programmierer oder ähnliches, sind die drei Männer Freiwild für ihren autokratischen Chef (Ovidio), der ewige „junge Mann“ für die eigene Mutter (Giacomo) und ein Nervenbündel in einem Haushalt von 50 oder so armen Verwandten aus dem Süden, die keine eigene Bliebe haben oder gerade mal vorbeischauen oder was essen wollen oder einen Schwank aus ihrer Jugend erzählen wollen …

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Da staut sich natürlich jede Menge Frust an: Ovidio ist wenigstens noch verheiratet, doch seine Frau sorgt sich mit vollem Körpereinsatz um den Fortgang ihrer Karriere als Ärztin, da bleibt für ein Eheleben nicht wirklich Platz. Zwischen den Schwanz des Oberarztes und der nächsten Nachtschicht passt Ovidio jedenfalls nicht mehr rein.

Was macht man also, wenn einem ein LKW die Vorfahrt nimmt? Richtig, man prügelt sich mit dem Fahrer und sticht ihm schlussendlich einen Schraubenzieher ins Gedärm. Mag ja sein, dass das rüde Methoden sind, aber das ist so befreiend. So unglaublich befreiend! Man lebt! Man spürt, dass man atmet und lebt und fühlt sich wie ein König. Wie ein Krieger nach einer gewonnen Schlacht. Jeder Fußball-Hooligan und jeder Straßenkämpfer kann das heute, mehr als 40 Jahre nach der Entstehung des Films, bestätigen. Das Leid der anderen vergrößert nur den eigenen Triumph. Da muss noch mehr gehen. Die Nutte zickt rum, und der Zuhälter will Terz machen? Na wartet …

In Italien, und beileibe nicht nur dort, waren die 70er-Jahre eine Zeit der Veränderungen und der Frustration, aber auch der Angst und der Gewalt. Die Industrialisierung schritt damals mit 7-Meilen-Stiefeln voran und hinterließ Menschen, die ihrer Tätigkeit entfremdet waren, die den Konsum von Alkohol und Drogen für ein soziales Leben hielten, und welche die Traditionen ihrer Eltern, und damit die Verbindung zu einer sicher ärmeren, dafür aber ganzheitlichen, Welt komplett verloren hatten (1). Gleichzeitig tobte ein verdeckter Bürgerkrieg zwischen den Alpen und den Pelagischen Inseln, bei dem zwischen 1969 und 1983 mehr als 14.000 Anschläge mit 374 Toten und über 1.170 Verletzten verübt wurden (2). Eine permanente Angst um das eigene Leben hielt die Menschen im Griff, genauso wie der Niedergang der Wirtschaftslage, der Anstieg der Armut und die damit verbundene Ausdehnung der Kriminalität. Eine gängige Methode war es, mit dem Motorrad nah an einer Frau vorbeizufahren und ihr die Handtasche aus der Hand zu reißen, der sogenannte Scippo. Was passierte, wenn die Frau nicht rechtzeitig losließ oder der Riemen der Handtasche sich irgendwo verhedderte, kann man sich in EISKALTE TYPEN AUF HEISSEN ÖFEN anschauen. Schön ist das nicht …

In dieser grauen Zeit, den bleiernen Jahren, haben die Menschen genauso einen Sinn im Leben gesucht wie sie es heute tun, und wie sie es immer gemacht haben. Aber durch den äußeren Druck der Gesellschaft und der Politik, der miesen sozialen Verhältnisse und der Kriminalität, war nicht nur die Bereitschaft höher selber gewalttätig zu werden, sondern diese Bereitschaft brach sich auch schneller Bahn. Die Hemmschwelle zu einem nicht-sozialen Verhalten sank zunehmend. Die Menschen standen unter Druck, und dieser Druck musste entweichen. Und so wie der Druck aus einem Ventil entweicht, so wurde auch schneller mal überreagiert. Erklärt uns zumindest FANGO BOLLENTE. Der LKW-Fahrer greift selber sofort zum Schraubenschlüssel wenn ihm jemand blöd kommt, der Taxifahrer ist selbstverständlich bewaffnet und benutzt die Knarre auch, und die Frau des Abgeordneten ist einer Nummer mit drei knackigen jungen Kerlen sichtlich nicht abgeneigt. Hauptsache, der Druck kann raus. Und so unübersichtlich wie die Kabelwülste im Vorspann, genauso unübersichtlich sind auch die Welt und das moderne Leben geworden. Wie einfach ist es doch dagegen, das Arschloch, das einen gerade nervt, kaltzumachen …

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Der (menschliche) Schlamm kocht (3). Und der Film FANGO BOLLENTE zeigt was dann passiert. Wir folgen Ovidio, Giacomo und Beppe auf ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Bürgerlichkeit, beim Kampf gegen Normalität und Langeweile. Wir ahnen, dass das langsame Abgleiten in den Wahnsinn, zumindest bei Ovidio, zu erstaunlichen Ergebnissen führen wird, und wir schaudern bei den letzten Sätzen des Films, die deutlich in die Zukunft zeigen. In unsere Zeit. Die grausamen Drei sind Angry Young Men, die aber nicht mehr der Arbeiterklasse angehören und gegen das Establishment aufbegehren. Die drei gehören selber zum Establishment und begehren gegen die Sinnlosigkeit auf, die uns die schöne neue Welt scheinbar aufoktroyiert. Angenehmerweise (für uns hier und heute) wurde dann irgendwann das Privatfernsehen erfunden, der legitime Nachfolger der Gladiatorenkämpfe, und der Selbstzerfleischung wurde Einhalt geboten. Das aber nur nebenbei. Wer wissen will wie die Geschichte im wirklichen Leben weitergeht, der wird über HOOLIGANS und FOOTBALL FACTORY dann recht schnell bei ULTRA und bei A.C.A.B.: ALL COPS ARE BASTARDS, und damit auch weder in Italien landen …

Filmisch ist FANGO BOLLENTE in erster Linie dem Genrekino verhaftet. Das bedeutet es gibt jede Menge blutreiche Action, es gibt einiges an Toten, an nackten Frauen, und an ausgelebter Gewalt gegen alles und jeden. Der Rausch der Drei Grausamen wird ausgiebig und nachdrücklich bebildert, aber nicht ohne zu vergessen, dass es eigentlich Vier Grausame sind. Der Kommissar Santagà, der den dreien auf der Spur ist, kennt deren Probleme genau. Er ist ein alter Hase in Sachen Kriminalität, und weiß wie die jungen Männer ticken. Wie sie im Rausch der Gewalt aufgehen. Hat er doch selber einmal im Einsatz diesem Rausch nachgegeben, und darf seitdem sein Leben als Lackel der Polizeistation fristen. Und doch ist er der einzige, der die Verbindungen zwischen den einzelnen Toten spürt, der ahnt worum es tatsächlich geht. Sein Kollege, dem die Fälle zugeschanzt wurden, macht natürlich politische Beweggründe aus. Ist ja auch so einfach im Europa der späten 70er-Jahre, die ungelösten Probleme der Straße auf die Politik zu schieben. Es wird zwar nicht explizit erwähnt, dafür muss man dann zu Jorge Graus etwas früher entstandenem DAS LEICHENHAUS DER LEBENDEN TOTEN schauen, aber es ist klar, dass nur langhaarige Gammler und drogenabhängige Bombenleger für solche Taten verantwortlich sein können. Dass der biedere Mittelstand unter den gleichen Frustrationen leidet wie der, sich politisch unterdrückt fühlende, Student, diese Erkenntnis war damals unbekannt, und ob dieses Wissen heute weiter verbreitet ist möchte ich bezweifeln. Oder warum war AMERICAN PSYCHO so ein Riesenerfolg?

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Denn Ovidio ist der direkte Vorgänger von Patrick Bateman, und Ovidio macht im Prinzip nichts anders als Bateman, nur das er es planloser tut. Somit repräsentiert jener die heutige amerikanisch-kapitalistische Welt mit ihren exzessiven Auswüchsen, während Ovidio im Gegensatz im ganz normalen Leben des europäischen Mittelstandes angesiedelt ist. Die Identifizierung des Zuschauers mit Ovidio fällt darum auch heute nicht schwer, leichter jedenfalls als mit Bateman, der mitunter eher einem Comic entsprungen scheint. Doch es wird an Giacomo liegen, den Wahn in die Welt hinauszutragen, die zufälligen Akte sinnloser Gewalt in eine Ordnung zu bringen, und letzten Endes die Brücke zu schlagen zum Feierabendprügler moderner Ausprägung.

Und der Film? Da schreibt sich der Maulwurf einen Elch, und verliert scheinbar kaum ein Wort über den Film? Der Film ist zutiefst nihilistisch und brachial! Er reiht blutige und brutale Bilder wie eine Perlenkette aneinander, und das betrifft nicht immer nur die physische Gewalt. Auch der ganz alltägliche Umgang der Menschen miteinander, der Chef zum Untergebenen, der Chefarzt zur ambitionierten Ärztin, ein Ehepaar untereinander, all dies sind ebenfalls gewalttätige Akte, welche die Stimmung des Films subtil bekräftigen und ausdrücken. Der Computerkurs, den Kommissar Santagà gezwungen ist zu absolvieren, resümiert die Probleme, von denen der Film spricht, auf bemerkenswerte Weise: Ein Mann redet unverständliches Zeug, eine Menge anderer Männer verstehen kein Wort, wagen es aber nicht dies zu sagen aus Angst vor persönlichen Nachteilen, und am Ende entscheidet der Computer was gut und was schlecht ist. Willkommen in der schönen neuen Welt …

(1) Vgl. Pier Paolo Pasolini: Vom Verschwinden der Glühwürmchen, in: Freibeuterschriften, Berlin 1975
(2) Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschicht ... Kompromiss
(3) Fango Bollente (ital.) = kochender Schlamm
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Beitrag von Maulwurf »

Das Todesrennen der wilden Engel (a.k.a. Die wilden Schläger von Rockers Town) (Maury Dexter, 1969) 6/10

Der Cowboy hat bei einem Wettbewerb ein Pferd gewonnen, doch das Pferd wird ihm gestohlen. Also verfolgt der Cowboy die Übeltäter um sein Pferd zurückzuholen. So weit, so gut. Jetzt ersetzen wir das Wort Pferd durch das Wort Motorrad – und haben die Handlung perfekt beschrieben. Denn nichts anderes ist HELL’S BELLES, als ein reiner Western, der halt zufällig in der Neuzeit spielt. Schlägereien, ein Love Interest, das sich von der Edelzicke zur Edelsozia wandelt, böse Buben die Stück für Stück dezimiert werden, und ein rächender Cowboy mit hohen moralischen Prinzipien: Es darf kein Blut fließen.
En Edelwestern also, der auch aus der goldenen Zeit der 40er-Jahre stammen könnte. Die Guten sind edel und hilfreich, die Bösen böse, und die Frauen hübsch anzuschauen. Der einzige Unterschied ist die schlechte Musik, die zwar rein prinzipiell ein gewisses Zeitkolorit mitbringt, aber durch ihre Weichgespültheit und komische Grundstimmung vieles kaputt macht. Der Kampf zwischen Dan und Gippo etwa, der eine wirklich starke Dramatik hat, verliert durch diesen Unfug-Score gewaltig an Spannung …

Sei es wie es ist: Für alle Westernfans eine hübsche Abwechslung in der Wüste von Arizona, alle anderen sollte das Todesrennen bei aller Unterhaltsamkeit mit etwas Vorsicht genießen.
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Beitrag von Maulwurf »

Les plaisirs fous (Jean Desvilles, 1977) 2/10

Der Geschäftsmann Jacques will es immer und überall machen. Im Bordell, zu Hause, mit seiner Frau, seiner Sekretärin, zusammen mit den Kumpels und deren Frauen … Belangloses und uninspiriertes Gebumse in einfallslosen Positionen und langweiligen Aufnahmen, eingebettet in ein mondän-großbürgerliches Ambiente und unterlegt mit einschläfernder Musik, bedient der Film vor allem männliche Phantasien: Reden, blasen, bumsen, fertig. Kein Vorspiel, keine Erotik, kein Stimmungsaufbau. Noch viel schlimmer: Die Szenen sind praktisch alle nach Schema F aufgebaut und können höchstens(!) nach den teilnehmenden Frauen unterschieden werden. Auffallend ist die originale französische Synchro, die den Darstellern helle Begeisterung unterjubelt. Auch dann, wenn die Darsteller sichtlich gelassen oder gelangweilt sind.
Sollte man sich sparen! Aus der Zeit gibt es erheblich interessanteres und inspirierenderes. Fous ist hier gar nichts, höchstens fatigué

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Beitrag von Maulwurf »

Gangster sterben zweimal (Mino Guerrini, 1968) 5/10

10 Jahre ist Destil im Knast gewesen, und 10 Jahre hat er an seinem Plan gearbeitet. Das Ziel: 3 bis 4 Billionen(!) Lire in Diamanten. Der Plan ist erstklassig und benötigt Fachleute. Fachleute, wie es sie heute nicht mehr gibt. Bantoni hat sich abgesetzt, Hoeg ist tot, und die Salvi-Brüder sind bürgerlich geworden. Also muss man zu Affatato, der früher mal die rechte Hand des Bosses war, und jetzt selber überall mitmischt. Affatato scheint nicht interessiert an dem Geschäft, aber natürlich ist er es sehr wohl. Er hat seine Mittel und Wege, über das Wann und Wo auf dem Laufenden zu bleiben, und zu entscheiden, wann er in den Ablauf eingreifen will. Wer ist noch im Team? Cavaro, in dessen Haus man sich eingeigelt hat. Ludi, der mal eine olympische Goldmedaille im Schießen gewonnen hat, und jetzt drogenabhängig ist. Franca denkt, dass sie in einem Film mitspielen soll, und bekommt einen Nervenzusammenbruch, als sie erfährt dass es um einen Raub geht. Der Chemiker, der sich den anderen gegenüber komplett abkapselt. Sempresi, der überhaupt keine Nerven mehr hat und damit hochgradig angreifbar ist. Und der Passagier, der vor lauter Überheblichkeit und Arroganz kaum laufen kann. Lauter „Fachleute“ halt. Was man für einen Job in der Größenordnung auch unbedingt benötigt …

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Zweimal habe ich GANGSTER STERBEN ZWEIMAL mittlerweile gesehen. Das erste Mal im Kino, im Herbst 2017 beim Norimberga Violenta-Festival, und ich bin dabei eingeschlafen. Möglicherweise die übliche Festivalmüdigkeit, möglicherweise aber auch der Film? Wer weiß … Das zweite Mal gab es den Film auf DVD, und wieder bin ich eingeschlafen. Ein Schelm wer böses denkt: Maulwürfe schlafen zweimal?

Denn eigentlich ist GANGSTER STERBEN ZWEIMAL gar nicht schlecht. Keine mühsamen Vorgeschichten, keine überflüssigen Charakterisierungen von Personen die einem sowieso am Arsch vorbeigehen, kein narratives Brimborium. Es geht um einen Heist, und um nichts anders. Die bösen Gangster sind klar definiert, die guten ebenfalls, Destil versucht die Finanzierung auf die Beine zu stellen und besorgt die Leute, der Coup findet statt, und hinterher wird abgerechnet. Fertig.

So weit, so gut. Wenn da nicht dieser starke Hang zum Arthouse-Kino wäre. Dieser Stilwille, der so viele Einstellungen verzweifelt zu etwas Besonderem machen will macht und eine Atmosphäre gehobener Kunst entwirft. Als Beispiel sei der der gesamte Schlussteil genannt, in dem ein Lamborghini durch die winterlich vernebelte Bergwelt des Trentinos fährt, während Franca im Off darüber philosophiert, dass sie einer Fliege dabei zugesehen hat wie sie versuchte aus der Badewanne zu klettern. Ludi kontert ebenfalls im Off mit seiner verkorksten Jugend, und am Ende zerschießt er die Diamanten, den Ursprung des Bösen - Mutmaßlich um sich von seiner Schuld reinzuwaschen und zu verhindern, dass andere ebenfalls …blablabla. Der an dieser Stelle vergleichbare ELF UHR NACHTS von Jean-Luc Godard bietet dann wenigstens noch Jean-Paul Belmondo und Anna Karina …

Vor allem während der Vorbereitungen zum Job schafft Kameramann Franco Delli Colli es kaum, ohne bedeutungsschwangere Bilder auszukommen. Schöne Bilder, ohne Frage, aber eben symbolisch überfrachtet. Gefühlt jeder Frame hat sichtlich mehrere Bedeutungsebenen, will uns die Nichtigkeit und die Verschachtelung des Lebens und der Seele näher bringen. Dazu erklärt der Free Jazz-ige Soundtrack uns etwas über die Zerrissenheit der Personen, und schafft durch seine Atonalität gleichzeitig einen starken Druck, der dann wahrscheinlich die Last ausdrücken soll, die auf den Charakteren liegt. Oder so. Stellenweise sehr gut und überzeugend, aber irgendwann nervt dat! Im englischsprachigen Raum gibt es dafür den Ausdruck arty-farty: Wenn etwas künstlich zur Kunst erhoben werden soll, was eigentlich ganz banal ist. Filme für Kunststudenten, die hinterher in der Kneipe jede Szene bis zum Gehtnichtmehr diskutieren, analysieren und sezieren. Ich diskutiere auch gerne über Filme, aber ich möchte vom Film auch gerne an den Eiern gepackt werden …

Prinzipiell hat GANGSTER STERBEN ZWEIMAL eine vernünftige Prämisse, die sicher nicht das Nonplusultra des Gangsterfilms ist, sich aber zwischen DIE RECHNUNG GING NICHT AUF und OCEAN’S ELEVEN in der Sammlung allemal gut macht. Der Score mag nervig sein, passt aber an vielen Stellen tatsächlich. Ähnlich wie in Giulio Questis DIE FALLE wird durch das atonale Spektakel auf der Tonspur Atmosphäre erzeugt und gleichzeitig Druck aufgebaut. Der Heist selber wird durch sehr viele sehr schnelle Schnitte erstklassig in Szene gesetzt – Der Stress der Situation ist für den Zuschauer fast körperlich spürbar, und vor allem in den Momenten wo improvisiert werden muss steigt der Adrenalinspiegel merklich. In diesem Stil würde ich mir den ganzen Film wünschen! Aber Mino Guerrini, der in den 60ern cineastische Kleinodien wie DAS DRITTE AUGE und AGENT 3S3 SETZT ALLES AUF EINE KARTE schuf, und in den 70ern dann mit Werken wie ZU BEFEHL, HERR FELDWEBEL oder HERR OBERST HABEN EINE MACKE den Olymp der Quatsch-mit-Soße-Filme ansteuerte, wollte wohl unbedingt den Stil der Zeit treffen. BLOW UP war gerade ein Riesenerfolg, möglicherweise wollte er sich da zeitgeistlich anhängen. Aber stilistisch liegen zwischen BLOW UP und GANGSTER STERBEN ZWEIMAL Welten – Antonioni hatte, bei aller Kunstverliebtheit, tatsächlich den Geist des Swinging London perfekt getroffen, und mit David Hemmings zusätzlich einen Hauptdarsteller der für genügend Erdung sorgte, während bei Guerrini eben alles so schrecklich abgehoben und gewollt wirkt. Künstlich. Es ist halt auch ein deutlicher Unterschied, ob die Hauptfigur ein nervöser und jazzbegeisterter Fotograf ist, oder ein gealterter Gangster …

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Wahrscheinlicher ist aber, dass Guerrini wusste, was gerade bei De Laurentiis passierte. Dort wurde nämlich zu fast der gleichen Zeit mit DIE BANDITEN VON MAILAND ein völlig neues Genre aus der Taufe gehoben. Angedacht als Semi-Documentary, wurde dieser Film zur Blaupause für die frühen Polizeifilme, die nur wenige Jahre später folgten und das Genre des Poliziesco begründeten. Hier waren die Gangster die Hauptfiguren, also wie bei so vielen klassischen US-amerikanischen Noirs Menschen mit mehr als zweifelhaftem Lebenswandel. Verglichen mit dem, ein Jahr zuvor gedrehten, FEUERTANZ von Carlo Lizzani, kommt noch hinzu, dass beides Filme sind, die sich auf tatsächliche Ereignisse beziehen. GANGSTER STERBEN ZWEIMAL ist eine reine Fiktion, und ich werde den Eindruck nicht los, dass Guerrini tatsächlich einen Gangsterfilm auf den Spuren der beiden genannten Filme drehen, dabei aber seinen ganz eigenen Stil kreieren wollte. Erfolgreich war GANGSTER dabei nicht, es wurden gerade mal 83 Millionen Lire eingespielt - DIE BANDITEN VON MAILAND hatten als Vergleich ein Einspielergebnis von 1,7 Milliarden Lire.

Ich weiß, dass ich mit dieser Meinung zu dem Film nicht alleine stehe, ich weiß aber auch, dass auf dem Norimberga Violenta-Festival mindestens ein Zuschauer den Film als persönlichen Höhepunkt des ganzen Wochenendes ansah. Darum ist mir sehr wohl klar, dass meine Ansicht eine Menge Gegenwind entfachen kann, und das sicher auch zu Recht. Denn wie gesagt, GANGSTER STERBEN ZWEIMAL ist nicht schlecht. Die Figuren sind nicht uninteressant, der Überfall ist sehr spannend in Szene gesetzt, und das (Ab-)Leben nach dem Überfall ebenfalls. Es ist halt alles nur so furchtbar auf Kunst gemacht …

Oder bin ich auf dem völlig falschen Dampfer, und der Film hat tatsächlich Eleganz und Stilwillen, und ich kann das nur nicht erkennen? Waren gerade die späten 60er-Jahre nicht eine Zeit des cineastischen Experiments, wo filmisch einiges mehr ging als zu anderen Zeiten? Wenn ich mir Romolo Guerrieris DIE KLETTE aus dem Jahr 1969 anschaue, einen sehr verspielten Hardboiled-Noir mit Franco Nero, dann fällt mir auch hier wieder dieser Stilwille auf, dieses In-jede-Szene-eine-cineastische-Perle-und-eine-Metaebene-einbauen-wollen. Was dann zur Frage führt, warum mir DIE KLETTE sehr gut gefällt, und GANGSTER STERBEN ZWEIMAL mich zum Einschlafen reizt. Liegt der Unterschied an Franco Nero, der einfach knackiger daherkommt als Joseph Cotten? Ist es, weil DIE KLETTE einiges mehr an nackter Haut im Programm mitführt, während GANGSTER in dieser Beziehung doch eher zahm daher kommt? Oder liegt es vielleicht daran, dass der Guerrieri ein paar sehr gut inszenierte Actionsequenzen bietet, sich also von Aufregung zu Aufregung schaukelt , der Guerrini hingegen auf gefühlte Entschleunigung setzt, und „nur“ den Heist und den Showdown als Höhepunkt setzt?

Filme sind eben doch etwas zutiefst persönliches, und ich habe für mich den Zugang zu GANGSTER STERBEN ZWEIMAL noch nicht gefunden. Ob ich ihm allerdings jemals eine weitere Chance gebe, dieses Wissen ist irgendwo in den verschneiten und trüben Bergen des Trentinos begraben …

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Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
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