Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Götterdämmerung – Morgen stirbt Berlin (Joe Coppoletta, 1999) 6/10

Über 45 Tonnen Bomben wurden im zweiten Weltkrieg über Berlin abgeworfen, und nicht alle sind sofort explodiert. Bis heute werden in allen deutschen Städten bei Bauarbeiten immer wieder Bomben gefunden die noch scharf sind. Auf einer Baustelle am Potsdamer Platz explodiert eine davon, und löst damit ein Räderwerk in einer Höllenmaschine aus: Eine Bombe, gekoppelt mit einer unbekannten Anzahl anderer Bomben, die in einem unerbittlichen Countdown abläuft, und in mitten in der City von Berlin eine Sprengkraft von 800 Tonnen TNT auslösen wird. Gelegt wurde dieses Entsetzen gegen Ende des Krieges von einem Nazi-Geheimkommando: Lieber solle Berlin zerstört werden, als in die Hände des Feindes zu fallen. Und jetzt läuft der Zähler, und die Historikerin Sandra, ihr Mann, der Polizeitaucher Alex, und Inspektor Lobenstein vom LKA finden sich in einem erbitterten Kampf gegen die verrinnende Zeit, gegen bornierte Politiker, und gegen alte und neue Nazis, die diese Katastrophe gar nicht so katastrophal finden würden. Unternehmen Ragnarök läuft mit 65 Jahren Verspätung seiner Vollendung entgegen …

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OK, GÖTTERDÄMMERUNG ist voller Löcher, voller Unlogik und mit einigen historischen Verballhornungen versehen. OK, der Film hat definitiv viele Schwächen, Musik aus der Konserve, und Schauspieler, die nicht immer alle auf der Höhe der Zeit sind (die wunderbare Christiane Paul möchte ich hier ganz explizit ausnehmen!!). Ich weiß, dass die Handlung einigermaßen vorhersehbar abläuft, wirkliche Überraschungsmomente rar gesät sind, und die Charaktere so stereotyp sind dass es manchmal fast schmerzt.

Seine TV-Herkunft kann GÖTTERDÄMMERUNG eben auf keinen Fall verleugnen, aber es kann auf der anderen Seite halt auch nicht immer nur höchstbudgetiertes Blockbuster-Kino sein. Manchmal schafft es auch eine kleine Fernsehproduktion, einen angenehmen Abend zu gestalten. Denn eines ist GÖTTERDÄMMERUNG auf jeden Fall: Er ist spannend! Mag sein, dass ich in letzter Zeit zu viel Erzählkino gesehen habe, wo der Schwerpunkt mehr auf Erzählung als auf Spannung lag, aber über sehr lange Strecken hinweg verdient sich der Film das Attribut Thriller auf jeden Fall. Der Beginn ist noch einigermaßen gemächlich, und Regisseur Joe Coppoletta nimmt sich die Zeit seine Hauptfiguren liebevoll einzuführen. Das hat dann in nachfolgenden Szenen durchaus auch mal den Effekt, dass man als erfahrener Zuschauer genau weiß, wann der allerletzte Abschied kommt, und einer der Protagonisten als nächstes einem fiesen Killer oder einer noch fieseren Bombe zum Opfer fallen wird.

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Reingelegt! Einige Male spielt Coppoletta geschickt mit den Erwartungshaltungen des Zuschauers und dreht damit gewaltig an der Spannungsschraube. Und nicht immer ist glasklar, dass alle Hauptfiguren den Film sicher überleben werden. Der Tod begleitet das Drehbuch über weite Strecken als treuer Freund im Hintergrund …
Doch ausgerechnet zum Ende hin schwächelt das Drehbuch, und das Showdown ist gut gemacht, aber irgendwie ein klein wenig gegen die Wand gefahren. Kniffig, gut ausgedacht, aber die 90 Minuten davor seltsam konterkarierend.

Insgesamt aber auf jeden Fall solide Fernsehunterhaltung, die mit ihrer Schnitzeljagd nach dem großen Unbekannten gut unterhält und viel Freude bereitet. Und die Gastauftritte von Reiner Schöne und Eva Habermann gleichen dann so manches Fettnäpfchen locker wieder aus …
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Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Zwei blaue Vergissmeinnicht (Helmuth M. Backhaus, 1963) 4/10

Zu Beginn der 60er-Jahre waren leichte Musikfilme recht erfolgreich und konnten sich eine Zeitlang dem Trend der schließenden Kinos tatsächlich entgegenstemmen. Im Kern dieser Filme ging es dabei meist um eine Gruppe von Menschen die amouröse Verwicklungen erlebt, gerne auch mal garniert mit einem unwesentlichen Kriminalfall, und dabei wird viel gesungen und getanzt. Kennt man bis heute, und wird (heute) auch meistens mit ganzem Herzen gehasst.
Den Maßstab dazu, gerade auch in Sachen Erfolg, legte Franz Marischka mit seinen SCHLAGERPARADE-Filmen 1960 und 1961, denen er dann 1962 SO TOLL WIE ANNO DAZUMAL und 1963 ALLOTRIA IN ZELL AM SEE folgen ließ. Alles Filme, die flott daherkommen, deren Humor sich auch heute noch nicht komplett abgenutzt hat, bei denen das Verhältnis von Inhalt und Verpackung stimmt, die Schauspieler erstklassig sind und die Musik spritzig ist und zündet.

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Flott, erstklassig, lustig, wendungsreich, spritzig – Die Attribute, welche die Marischka-Filme dieser Zeit perfekt beschreiben. Aber auch diejenigen Attribute, die ZWEI BLAUE VERGISSMEINNICHT erfolgreich unterdrückt. Die Gags sind müde, die Schauspieler sind größtenteils der zweiten und dritten Reihe zuzuordnen und haben eine entsprechende Wirkung, die Musik ist farblos und die Handlung sprunghaft und macht nicht mal dann Spaß, wenn man sie nur als Abfolge von Sketchen versteht.

Auffällig ist vor allem, dass die Schauspieler nicht wirken. Margitta Scherr wirkt vollkommen blass und verschenkt als Gangster-Hascherl, während die eigentliche weibliche Hauptrolle Gitta Winter zwar sympathisch und lebendig daherkommt, aber kein männliches Pendant neben sich hat, um gekonnt Bälle hin- und herzuspielen. Denn Rex Gildo wird zwar als supernetter Schwiegersohn von Nebenan eingeführt, wandelt sich aber innerhalb kürzester Zeit zum eifersüchtigen Arschloch, und verspielt alle Sympathien die er zu Beginn neben dem etwas nervigen Gunnar Möller noch bekommen konnte. Selbst Chris Howland, in Bezug auf Komik und guten Schlager sonst immer eine Bank, wirkt hier durch die wenige Screentime eher verschenkt, ja er hat gar nicht erst die Möglichkeit den Film in ruhigeres bzw. heitereres Wasser zu lenken. Die schwedische Saxophonistin Ingela Brander last but not least wäre eine tolle weibliche Hauptrolle gewesen – Da kocht der Bildschirm, wenn sich die süße Musikerin als Mischung aus Vivi Bach (sexy) und Peter Kraus (rockig) entpuppt und gemeinsam mit Gunnar Möller am Schlagzeug einen Beat-Schuppen aufmischt. Aber auch hier versagt die Regie und erkennt nicht, welches Potential in dieser Dame gesteckt hätte, weswegen ihre Szenen wie Wassertropfen in der Wüste verdunsten …
Bleibt Frank Cramer als Gangster Nelken-Frank. Er allein rettet den Film vor dem völligen Untergang. Nelken-Frank ist süffisant, ist charmant, ist brutal … Er ist das Abbild eines kleinen Gauners mit Köpfchen, der auf dem Sprung nach oben ist und seine Chancen nutzen kann, aber durch einen leicht vertrottelten britischen Detektiv leider daran gehindert wird. Bei aller Gelacktheit gehören ihm unsere Sympathien, denn die andern Charaktere sind leider fast alle doof, und der Wettkampf mit Rex Gildo um die gleiche Frau wird, zumindest von den Sympathiewerten her, locker vom Bösewicht gewonnen.

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Die Handlung? Habe ich bisher weggelassen, denn die besteht im Wesentlichen aus einer unlogischen Abfolge von Episödchen, die nicht immer zusammenhängend sind, manche Drehbuchideen von Seite 3 auf Seite 4 schon wieder vergessen haben, und die in der Inszenierung einfach ebenfalls verschenkt werden. Die Liebeleien wirken uninteressant und aufgesetzt, und die verschiedenen Happy-Ends sind auch nicht wirklich nachvollziehbar. Und um der Chronistenpflicht Genüge zu tun: Rein prinzipiell geht es um einen Privatdetektivsgehilfen, der mit seiner Kollegin eine Kreuzfahrt von Jugoslawien nach Italien macht. Mit an Bord sind die radelnden Studenten Rolf und Ronny, deren Love Interest Heidi, eine spießbürgerliche Familie aus Deutschland sowie der Drogen- und Falschgeldschmuggler Nelken-Frank mitsamt Liebchen. Es kommt zu Irrungen und Wirrungen, zu Verwicklungen rund um die Liebe, und zu kriminaltechnisch hochdramatischen Ereignissen. Die neue Schiffsköchin Selma bezirzt den Kapitän, Rex Gildo singt sich eins, und am Schluss siegt das Gute.

Und so uninspiriert sich das jetzt liest, so uninspiriert sieht es leider auch aus. Das Drehbuch ist mau, und es liegt einzig an den Schauspielern, wenigstens ein paar Lacher abzustauben, aber für eine beschwingte Musikkomödie ist das einfach zu wenig. Da schau ich mir lieber noch mal SO LIEBT UND KÜSST MAN IN TIROL vom Marischka an, der hat nämlich alles das, was Regisseur Backhaus hier erreichen wollte und meilenweit daran vorbeigesegelt ist: Witz, Schwung, flotte Melodien, tolle Schauspieler, Leichtigkeit und Liebe zum Detail. Wenn das einzig Positive, dass man über einen Film sagen kann, ist, dass die Laufzeit mit 78 Minuten nicht allzu viel Lebenszeit verschwendet, dann sagt das wohl so einiges aus …

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Mansion of the Living Dead (Jess Franco, 1982) 8/10

In Jess Francos Meisterwerk ENTFESSELTE BEGIERDE dürfen wir die Vampirin Irina von Karnstein auf einem kleinen Stück ihres Lebens begleiten, ihren nie versiegenden Hunger nach Blut und nach Sperma erahnen, und ihr Leid, dass sie die Männer die sie liebt alle töten muss, miterleben. ENTFESSELTE BEGIERDE ist eine lyrische und zutiefst gotische Ode an die Liebe und an das Sterben. Eine sinnliche Hingabe an eine Lusterfüllung, die nur im Tod ihre wahre Erfüllung findet.

In MANSION finden wir Irina wieder. Ihre Wiedergeburt findet in Form einer Oben-Ohne-Bedienung mit dem Namen Candy statt (Wer lacht da?), die mit ihren Freundinnen Mabel, Lita und Caty in die Ferien fährt, um mal so richtig auszuspannen und vögeln zu können. Aber wo sind die Männer? Das Hotel ist leer, einzig der kühl-reservierte Hoteldirektor und ein grotesk-vertrottelter Gärtner sind vor Ort, sonst ist alles wie ausgestorben. Die Mädchen trösten sich damit, dass alle am Strand sein werden, aber auch der ist etwas später menschenleer. Nein, nicht ganz: Ein Hackebeil wird aus dem Hotel auf die oben-ohne sonnenbadenden Schönheiten geworfen. Und der Wind heult …

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Der Hoteldirektor mit dem bemerkenswerten Namen Carlos Savonarola hat jeweils zwei Mädchen ein Zimmer gegeben, allerdings in gegenüberliegenden Flügeln des Hotels. Dadurch wird das Verschwinden von Lita zuerst gar nicht bemerkt, und auch dass Mabel, die noch eine heiße Affäre mit dem gar nicht mehr so frigiden Direktor hatte, plötzlich nicht mehr da ist, fällt nicht weiter auf. Und der Wind heult …

Auf der Suche nach ihren Freundinnen findet Candy in einem Hotelzimmer eine an der Wand angekettete Frau, Olivia. Diese Frau wird offensichtlich von Savonarola mit Essen versorgt, Sex wird ihr allerdings weitestgehend vorenthalten, obwohl Olivia außer Strümpfen nichts anhat, und sie offensichtlich eher wie eine Sex-Sklavin gehalten wird. Olivia erzählt Candy, dass Savonarola Mitglied einer Art Sekte ist, die in einem nahegelegenen Kloster haust und dort junge Mädchen opfert. Während der Wind heult schnappt sich Candy Savonarola und fährt mit ihm zum Kloster. Savonarola ist von Candy allerdings schwer beeindruckt, und bittet seine Brüder, die wohl so etwas sind wie die Reste einstiger Katharer, Candy nicht zu opfern. Candy entpuppt sich als Reinkarnation von Irina, die einst in irgendeiner Beziehung zu diesem Orden stand, und nun vergöttert wird. Vergöttert und vergewaltigt, denn alle Brüder benutzen Candy/Irina und beten dann um Vergebung, dass sie während des Aktes Lust empfunden haben. Und der Wind heult …

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Ein Traum. Ein böser Traum. Einer, in dem man lange und leere Korridore hinabgeht, und nicht weiß was passieren kann. Einer von der Sorte, die unheilschwanger und sinister daherkommen, und von ihrer Stimmung leben. Man wacht auf, noch ganz in dieser seltsamen Zwischenwelt gefangen, eigentlich auch immer noch diese monströse Leere spürend, und beginnt den Tag mit einem träumerischen Nichts im Kopf. Dieses somnambule Schweben, dieses Vakuum zwischen dem Hier und dem Dort, dem setzt Franco mit MANSION ein filmisches Denkmal. Der Film ist im Reich zwischen Traum und Wirklichkeit anzusiedeln, und wie ein langsames Hinübergleiten von einem Traum in eine Realität, so gleiten wir mit Candy/Irina durch Unfassbares.

Ein Traum. Ihr kennt das, wenn man im Traum läuft und läuft und läuft, und nirgendwo ankommt, obwohl man immer erschöpfter wird. Die Zeit hat überhaupt keinen Bezug mehr, und das einzige was zählt sind das Vorwärtsbewegen und die seltsamen Erlebnisse. So auch in MANSION: Lita läuft am Hotel entlang und scheint nirgendwo anzukommen. Irgendwann ist sie in der Wüste, aber auch dort ist nichts außer dem Wind und der Einöde, bis sie ans Kloster kommt. Mabel, die halbnackt durch die Hotelkorridore mäandert und dabei von Savonarola entdeckt wird, hat während ihrer Wanderschaft ein Erlebnis, nämlich Sex mit dem Direktor, welcher völlig abrupt mit den Worten „Es ist ja schon 4 Uhr, ich muss mich um eine kranke Frau kümmern“ beendet wird – Savonarola sucht das Weite und Mabel erwacht wie aus einem Traum.

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Candy hat dann die weiteste Strecke zu laufen. Vollkommen nackt, bar jeder Verhüllung (und das hat jeder schon einmal geträumt, plötzlich nackt da zu stehen) erforscht sie die Gänge des zunehmend labyrinthartigen Hotels, um dann Olivia zu finden. Sie unterhält sich mit Olivia lange, eine sehr ausufernde, und für Franco untypisch intensive Gesprächsszene, in der aber Candy nicht einmal daran denkt, Olivia zu befreien. Olivia fragt auch gar nicht danach – Die Rollen sind klar verteilt, und an dem Status wird nicht gerüttelt. Candy ist die Fragende, die Wissensuchende, Olivia ist die Wissende, die Liebende, die ihre Weisheit teilt, und ein bitteres Schicksal durchlebt: Mit dem Verzehr von Rattengift wird sie ihren eigenen Untergang zelebrieren.

Auch die Zeit vergeht wie im Traum. Ob ein Tag vergeht oder ob es mehrere sind, das ist nicht relevant. Gestern wie heute, heute wie gestern. Alles ist dasselbe! heißt es in Renato Polsellis BLACK MAGIC RITES, und genauso wie bei Polselli sind Zeit und Raum auch bei Franco nicht relevant, werden durcheinandergeworfen wie Sandkörner in einem Sturm. Wie in einem Traum wird eine Erlebnisspanne durcheilt, werden peinliche oder schreckliche oder merkwürdige Abenteuer erlebt, die manchmal ineinander übergehen, manchmal aber auch abrupt enden und ein neues Abenteuer beginnen. Auch die Komik, die in Träumen so oft grotesk wirkt, ist im Film träumerisch. Die Mädchen haben einige clowneske Szenen, über die man kaum wirklich kichern kann, geschweige denn darüber zu lachen. Die Grimassen vor allem von Lina Romay sind überzogen und idiotisch – Eben wie in einem Traum. Und während der Wind heult, und eine Atmosphäre des Fröstelns erzeugt und Einsamkeit und Tristesse in den Kopf des Betrachters pflanzt, passieren auf dem Bildschirm Dinge, die bar jeder menschenwürdigen Logik ineinandergreifen und ein Räderwerk darstellen, das von Morpheus persönlich dirigiert zu werden scheint. Oder von seinem drogenabhängigen Assistenten …

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Es ist vollkommen klar, dass diese Handlung, so man diesen Zustand so nennen möchte, den Mainstream-Zuschauer vor den Kopf stößt und vollkommen ratlos zurücklässt. Der Bezug auf Armando de Ossorios Leichen-Klassiker aus den 70er-Jahren wird durch die Katharersekte ja noch halbwegs erklärt, allerdings bezieht sich Franco in Wirklichkeit nicht auf de Ossorio, sondern auf Motive aus dem schauerromantischen Werk Die grünen Augen des spanischen Romanciers Gustavo Adolfo Bécquer. Und plötzlich ergibt vieles einen Sinn, denn Bécquer bezieht sich in seinen Erzählungen, ähnlich wie zum Beispiel E.T.A. Hoffmann, tatsächlich auf merkwürdige Begebenheiten zwischen Tag und Nacht, zwischen Licht und Schatten, und zwischen Leben und Tod. Franco schafft es, die Atmosphäre einer dunkelromantischen Erzählung in die Neuzeit zu transferieren, mit Sex anzureichern, mit billigen Karnevalsmasken zu garnieren, und dabei den Spirit der Erzählung nicht zu verraten.

So wie Béquers Geschichten wie Träume wirken, die, typisch für die spanische Romantik jener Zeit, in mehreren Rückblenden verschachtelt erzählt werden, so ist auch MANSION OF THE LIVING DEAD nichts anderes als die Darstellung von Träumen mit filmischen Mitteln. Die Verschachtelung der Vorlage wird dadurch übernommen, dass es im Film, sobald die Mädchen erst einmal im Hotel angekommen sind, keinen Anfang und kein Ende mehr hat. Die einzelnen Episoden könnten auch in einer anderen Reihenfolge montiert sein, und das Ergebnis wäre das gleiche. So wie in einem Traum einzelne Vorgänge nicht immer nach menschlicher Logik zwingend sein müssen, so sind auch die einzelnen Sequenzen des Films nicht immer logisch aufeinander aufgebaut, ergeben aber im Zusammenhang eine erotisch-makaber aufgeladene Stimmung, die den geneigten(!) Betrachter unweigerlich mit sich zieht.

Und oft genug wundert man sich nach dem Aufwachen, warum man im Traum eigentlich solche Angst hatte. Selbst diesen Effekt kann Franco hier erzeugen, in dem er absolute lachhafte Karnevalsmasken für die Mönche verwendet. Eigentlich der einzige wirkliche Wermutstropfen an diesem Film, der mit Gefühlen und Stimmungen so schwelgerisch umgeht, und dabei doch so viel Verwirrung erzeugt. So merkwürdig MANSION auch auf den ersten Blick wirkt, so geschlossen ist er doch als Zyklus in sich. Eines von Francos Meisterwerken, in seiner Schönheit und seinem Ablauf vergleichbar mit den großen Filmen von Jean Rollin oder Renato Polselli – Nur zugegeben ein paar Ecken billiger …

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Maulwurf
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Die Piraten! – Ein Haufen merkwürdiger Typen (Peter Lord & Jeff Newitt, 2012) 9/10

Na gut, Fernsehabend mit der Familie. Wenn es denn sein muss ... Irgendetwas familientaugliches aus diesem Jahrtausend, mit furchtbar lustigem Haha Humor und jeder Menge Explosionen, schnellen Schnitten, einer unnötigen Liebesgeschichte und viel politischer Korrektheit. So in etwa waren meine Erwartungen an diesen Abend. Den Jess Franco der Woche hatte ich ja am gleichen Tag schon gesehen, also tun wir doch der Familie etwas Gutes.

Und was war das Ergebnis? Ich bin abgegangen wie Schmidts Katze. Allein schon beim Soundtrack (The Clash! The Beat!! Tenpole Tudor!!!) bin ich auf dem Sofa wie wild rumgehüpft, und ärgere mich fast, dass ich diese Leih-BD wieder zurückgeben muss. Praktisch jedes Bild ist so vollgestopft mit Kleinigkeiten zum Staunen, mit einer schier wahnwitzigen Liebe zum Detail vollgepackt mit kleinen Gags und Inside-Jokes, dass man sich stundenlang durch die Standbilder wühlen könnte. Charmant werden Filmzitate vom ELEFANTENMENSCH bis zu JAMES BOND eingestreut, und der Humor mag vielleicht ab und an etwas mit dem Holzhammer daherkommen, aber er funktioniert. Ich musste zwar keine Tränen lachen, aber ich war fast die ganze Zeit mindestens am Kichern, und da nach Louis de Funès meiner Meinung nach außer WALLACE & GROMIT einfach nichts wirklich Komisches mehr kam, ist dies ein ganz großes Kompliment.

Natürlich sind die Aardman’schen Knetmännchen um einiges knuffiger als die Pixar-Animationen aus dem Computer, und allein das schräge Grinsen der Figuren, das immer so herzallerliebst eben an WALLCE & GROMIT erinnert, reicht schon aus um den Charakteren die Herzen zufliegen zu lassen. Was dann aber auch noch an schrägen Ideen dazu kommt (allein die Mischung aus LINK DER BUTLER und Edgar Allan Poes MURDERS IN THE RUE MORGUE rockt die Hütte ungemein, genauso wie die schwertschwingende Königin Victoria oder der charmante Verweis auf FROM DUSK TILL DAWN wenn Cutlass Liz die Kneipe betritt – Im Original natürlich von Salma Hayek gesprochen) ist einfach so überwältigend, dass relativ bald die Superlative ausgehen. Es gibt da diese Szene gegen Ende, in der viele Figuren gleichzeitig in einen Raum strömen, und einer dabei ganz furchtbar humpelt (ein Holzbein, ein Gipsfuß). Die Szene ist vielleicht eine Sekunde lang, und es ist gerade mal zu ahnen dass da auch gerempelt wird. Die Szene springt wieder zurück zum Piratenkapitän, und im Hintergrund ist ganz leise eine Entschuldigung zu hören – Da ist der Pirat mit den merkwürdigen Rundungen (auch so ein liebevolles Detail) wohl dem andern Piraten auf den Gipsfuß getreten. Das meine ich mit liebevollem und überwältigendem Detailreichtum. Dass nicht auf jeden Gag extra hingewiesen werden muss, sondern die Witze auch mal im Off stattfinden können. Damit bleibt der Film auch bei der x-ten Sichtung lebendig und frisch – Und lustig.

Dass die Rollenbezeichnungen im Abspann schwerstens an DIE RITTER DER KOKOSNUSS erinnern kann kein Zufall sein, und ansonsten ist PIRATEN! einfach ein Füllhorn an absurden und aberwitzigen Ideen. Genial!!
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Jack Says (Simon Phillips & Lee Warren, 2008) 5/10

Jack wacht blutverschmiert neben einer Leiche auf. Er stellt fest, dass er nicht weiß wer er ist, und dass er auch nicht weiß wo er ist oder was überhaupt passiert ist. In ersterem Fall hilft ihm sein eigener Führerschein weiter, bei letzterem könnte ihm vielleicht die Polizei weiterhelfen, die mit Tatütata gerade auf dem Weg ist, aber aus nachvollziehbaren Gründen macht Jack lieber die Fliege. Er hat ein Polaroid bei sich von zwei großen und schönen Frauenbrüsten, sowie eine dazugehörige Adresse in Paris. Jack hat nichts zu verlieren, also macht er sich auf den Weg zu den Brüsten. Wer immer am anderen Ende des Bildes auch auf ihn warten mag, es ist einen Versuch wert, und es ist im Ausland, weit weg vom hiesigen Gesetz.
An dem Londoner Ende der Geschichte jedenfalls steht die Polizei, die Jacks Fingerabdrücke an der Leiche des Guv`ners findet. Und der Guv’ner war der Herrscher der Londoner Unterwelt. Niemand, den man mal eben so schnell umlegt. Ungestraft. Mit einem Schuss in den Rücken.

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Manchmal ist das mit den Filmen gar nicht so einfach. Man erwartet einen englischen Gangsterfilm mit einem toughen Helden und Blutlachen so groß wie dem Ärmelkanal, und was bekommt man? Jack. Man erwartet eine dunkle und gewalttätige Geschichte aus der Welt bösartiger Mobster und eiskalter Totschläger, und was bekommt man? Jack.

JACK SAYS ist der erste Teil einer Trilogie um Jack Adleth, einem kleinen und unbedeutenden schottischen Gangster in der großen weiten Welt Londons (und Paris‘), der ein unglaubliches Talent hat, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Und den seine beiden Leidenschaften, Frauen und kämpfen, ein ums andere Mal mächtig in die Scheiße reiten.

Die Geschichte ist dabei oft recht verworren, und die Video-Optik mit vielen Rückblenden zieht den Zuschauer nicht unbedingt in ihren Bann. Die Schauspieler sind erstklassig, aber die Motivation der Charaktere nachzuvollziehen ist so manches Mal nicht wirklich einfach. Warum mischt Jack sich in den Streit zwischen Madame X und dem Messenger ein? Ja, er mag es nicht wenn Frauen in Not sind, aber diese Einmischung bringt den Hauptplot überhaupt erst ins Rollen bringt, und dafür sind die Beweggründe schon ziemlich dünn. Etwas arg dünn für den stellenweise sehr rauen Rest der Story … Oder: Warum verteidigt Detective Edwards Jack so vehement? Nun ja, da habe ich so eine Theorie, die durch das Ende des Films gefüttert, und durch den Klappentext des Nachfolgers, JACK SAID, spoilermäßig bestätigt wird. Jack ist unter Umständen nicht so ganz der, für den er sich ausgibt. Und möglicherweise muss man alle drei Filme, außer den beiden genannten noch den Abschlussfilm UNION JACK, der ursprünglich mal JACK FALLS hätte heißen sollen, möglicherweise also muss man alle drei Filme sehen, um den großen Handlungsbogen zu verstehen.

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Denn wenn man mal ehrlich ist, dann ist zumindest der Subplot um Natalie und den Guv’ner, welcher ja eigentlich klassisches englisches Film-Gangsterleben darstellt, nach dem Ende von JACK SAYS noch recht unausgegoren, und hängt ziemlich in der Luft. Da kommt also sicher noch was nach. Was bedeuten würde, dass Teil 1 die Charaktere einführt, ihnen Eigenarten gibt, mit teilweise recht blutigen Bildern ausschmückt, und dann den Zuschauer frohen Mutes auf Teil 2 vertröstet. Wo es dann auch vermutlich durch den, dann bereits bekannten Charakter Jacks, die oben erwähnten Blutlachen geben wird.

Von daher einfach mal abwarten und nicht so viel Unfug schreiben. Denn wie Jack immer sagt: Talk is cheap – Alles reden nutzt nichts …

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Jack Said (Lee Basannavar & Michael Tchoubouroff, 2009) 6/10

Teil 2 der Jack-Trilogie: Nach den Ereignissen in Paris, die im ersten Teil JACK SAYS geschildert wurden, hat Jack nun Nathalie gefangen genommen. Sie sitzt auf einem Stuhl in der Mitte einer Lagerhalle, gefesselt und geknebelt, und Jack erzählt ihr (und damit natürlich auch uns), warum sie dort sitzt. Jack wird als Undercover-Cop in den Film eingeführt, der die Gang des Guv’ners infiltrieren soll, und sich mittlerweile mit einem von dessen Leuten, Nathan angefreundet hat. Die Tochter des Guv’ners, Nathalie, hasst Nathan, wobei Nathalie alles und jeden hasst. Nathalie ist der wandelnde Tod, denn sie will die Führung von übernehmen. Sie will Boss werden, und jeder Tote auf ihrem Weg ist für sei ein Grund zur Freude. Nathan hat Nathalie aber etwas gestohlen, und darum macht Nathalie Jagd auf ihn, und Nathan muss untertauchen. Er gibt seine geliebte Schwester Erin zur Obhut an Jack, und Jack und Erin verlieben sich ganz furchtbar ineinander. Nathalie rekrutiert derweil Jack für ihre Geschäfte, und auch die Liebelei mit Erin bleibt ihr nicht verborgen – Ein Ansatzpunkt, den harten und unnahbaren Jack in die Knie zu zwingen, denn Männer werden weicher als Wachs, wenn es um das Leben ihrer Geliebten geht. Als Nathan aus dem Exil zurückkommt macht Nathalie Nägel mit Köpfen: Nathan muss sterben, Jack muss sterben, Erin muss sterben. Jetzt will sie sich im Bleihagel zur Königin krönen!

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Eine Rückblende also zu den Ereignissen vor dem ersten Teil, und all die losen Fäden des ersten Teils werden schlüssig aufgerollt und erklärt. Warum der Guv’ner tot ist, und warum er von seiner eigenen Tochter erschossen wurde. Warum Jack der Sündenbock ist, und sogar das Foto in Jacks Jackentasche, das im ersten Teil der Auslöser für den Trip nach Paris war, hat eine sinnvolle Rolle. Vorkenntnisse des ersten Teils sind sicher hilfreich, ohne diese Kenntnisse rumpelt es doch manchmal erheblich. Aber mit dem Wissen um den ersten Teil ist JACK SAID ein bitterböser und brutaler Gangsterfilm geworden, der sich mit wenigen Worten charakterisieren lässt: Hochgradig psychopathischer Abschaum sorgt dafür, dass anderer, nicht ganz so psychopathischer, Abschaum blutend am Boden liegt. Die Stimmung in JACK SAID ist so brutal und eisig wie ich es selten selbst in britischen Gangsterfilmen gesehen habe. Die Romanze zwischen Jack und Erin wirkt fast wie eine Parodie auf das Leben, das Jack gezwungen ist zu führen, und in dem das Abtrennen von Fingern mit einer Machete fast noch als Gnadenakt erscheint, weil ja die arme Sau ohne Hand noch weiterleben darf.

JACK SAID zeigt eine tiefschwarze Welt mit nur ganz wenigen Farbspritzern, und die sind eh meistens Blutrot. Und so, wie am Ende von JACK SAYS klar wurde, dass Jack nicht nur ein kleiner Gangster ist sondern tatsächlich ein verdeckter Ermittler, so wird auch am Ende von JACK SAID ein Cliffhanger zum dritten Teil UNION JACK gesponnen (der ursprünglich JACK FALLS hätte heißen sollen), und die Fäden von Nathalie und dem Guv’ner sind erheblich weitergesponnen als man es ursprünglich gedacht hätte. Die Erzählung ist zwar oft etwas umständlich, und es kommt auch trotz des hohen Actionanteils zu gelegentlichen Hängern, aber dafür wurden die Fehler des ersten Teils nicht mehr wiederholt: Die Figuren sind klarer skizziert, die Optik ist nicht mehr so furchtbar künstlich und schaut nicht mehr wie ein billiges Video aus, sondern bietet im Gegenteil einige ganz starke Momente, und allein Ashlie Walker als Nathalie rockt den Film in jeder Beziehung. Al Pacinos Scarface in weiblich, mit Riesentitten und einem ebenso gigantischen Appetit auf Macht und Blut. Spannend: Ashlie Walker ist nicht nur Schauspielerin, sondern auch ein Personal Coach. Hm, sich nach dem Genuss dieses Films von Nathalie coachen lassen? Wie mache ich Karriere über den abgetrennten Schädel meines Chefs hinweg? Ich weiß nicht …

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Letzten Endes hat zwar JACK SAID immer noch seine Schwächen, ist aber um einiges stärker als der Vorgänger, und macht vor allem auch Lust auf den Abschluss der Trilogie. Wer gewillt ist, sich durch den ersten Teil durchzubeißen, wird hier auf jeden Fall mit einer bitteren und blutigen Moritat belohnt. Fortsetzung folgt …

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Gushing Prayer (Masao Adachi, 1971) 2/10

Die 15-jährige Yasuko und ihre Freunde wollen wissen wie Sex gespürt werden kann. Mit dem Körper? Oder mit dem Kopf? Ist Sex abschaltbar? Wie kann man den Sex besiegen? Yasuko ist im vierten Monat schwanger, möglicherweise von ihrem Lehrer, und aus dieser Situation sind solche Fragen entstanden. Yasuko schläft mit ihren Freunden, auch mit allen gleichzeitig, aber sie sagt, dass sie dabei nichts spürt. Was allerdings auch daran liegen könnte, dass sie während des Aktes ständig laut gefragt wird, ob sie etwas empfinde …
Also möchten die Freunde, dass sie für Geld mit Fremden schläft, aber auch dabei sie spürt nichts. Wird vielleicht zuviel Geld verlangt, was natürlich das Empfinden beeinflusst? Während die für die Prostitution geforderte Geldsumme permanent sinkt, Yasuko es am Ende sogar für ein Essen im Lokal mit dem Koch treibt, während ihre Freunde daneben desinteressiert weiteressen, taucht entsprechend die Frage auf: Haben sie den Sex jetzt besiegt? Yasuko weiß nicht so recht, wie es weitergehen soll. Sie verlässt ihre Freunde und entscheidet sich dafür, das Kind nicht abzutreiben. Koichi, der eigentlich in sie verliebt ist, auch wenn er das Gefühl als solches nicht definieren kann, sucht Yasuko und möchte sie heiraten. Yasuko aber erklärt, dass das Experiment gescheitert ist, und dass sie als Mutter nichts tauge. Dass sie verloren hat. Und was macht man als japanischer Teenager wenn man verliert?

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GUSHING PRAYER ist mal wieder so ein typisches Schicksal eines Vielguckers: Die (wenigen) Besprechungen im Internet sind gut und kehren das intellektuelle Moment heraus, die Neugierde ist groß - und das Resultat enttäuscht dann am Ende auf ganzer Linie. Klassisches Kopfkino der Spätsechziger/Frühsiebziger, in dem philosophische Fragen, die niemanden wirklich interessieren, mit statischen Bildern und jazziger Musik durchgekaut werden, und das dann aufgrund von Lebenslauf des Regisseurs, verwendeter graphischer Ideen und dem inflationären Gebrauch von Tabubegriffen sowie nackter Haut als Provokation interpretiert wird. Ob das dann bereits vor 50 Jahren außerhalb elitärer Kunststudentenzirkel interessiert hat kann ich allerdings nicht sagen.

Aber vermutlich übersteigen Filme wie GUSHING PRAYER den intellektuellen Horizont eines kleinen Maulwurfs, der sich bei der Sichtung einfach nur furchtbar gelangweilt hat. Unsympathische Menschen, die dumme Sätze sagen, unfreundlich zueinander sind, und sich gegenseitig zu Dingen zwingen, die sie freiwillig auch haben könnten, nur um herauszubekommen was ein Gefühl ist und wie es sich auswirkt. Und das ganze auf einem Niveau von eben 15-jährigen Teenagern, deren größtes Problem 1971 genauso wie 2021darin besteht, was dies oder das wohl für ein Gefühl sein mag, weil halt Selbstanalyse und Reflexion von Gefühlen in dem Alter oft noch nicht so ausgeprägt sind, von der Erfahrung ganz zu schweigen. Heutzutage wäre das Äquivalent dann wahrscheinlich irgendeine groteske Internet Challenge um herauszubekommen, wie sich Schmerz anfühlt. 1967 hat man sich halt offensichtlich gegenseitig zum Sex mit Fremden gezwungen …

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Auf der anderen Seite, wenn man sich dann doch mal traut von der intellektuellen Seite her zu kommen, dann kann man als Zuschauer staunen ob der Gefühlskälte und des Desinteresses der damaligen japanischen Generation. Keine Spur von Neugierde oder überschäumender Lebenslust, wie sie gerade in diesen Jahren im Westen so oft zu sehen (bzw. zu spüren) war. In der sowieso sehr repressiven japanischen Gesellschaft ist die Zurschaustellung von Gefühlen nicht gerne gesehen, und die Regeln der kleinen Freundesgruppe sind letzten Endes nichts anderes als die logische Fortführung dieser gesellschaftlichen Haltung: Niemals und auf keinen Fall Gefühle zuzulassen, auch nicht und gerade nicht beim Sex, neben dem Hass dem gefühlsintensivsten Erlebnis eines Menschendaseins. Trotzdem ist das hier gezeigte Ennui der Figuren geradezu schmerzlich spürbar, und erschreckt bis ins Innerste, gerade auch aus heutiger Sicht. Gezeigt wird eine Generation gefühlskalter und lebensüberdrüssiger junger Leute, deren einziger Weg wahrscheinlich in den Freitod oder in die Extremisierung führen kann.

So mag GUSHING PRAYER als Filmdokument einer Aufbruchs- oder auch Depressionsstimmung in der japanischen Jugend 1971 tatsächlich spannend und provokant sein, aber als Narration unter filmischen Gesichtspunkten erachte ich das eher als dröge und nichtssagend. Doch wie gesagt, wahrscheinlich segle ich intellektuell einfach unter dem Horizont, kann ja sein …

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Inflatable Sex Doll of the Wastelands (Atsushi Yamatoya, 1967) 8/10

Ein Western. Männer die wie Cowboys auftreten. Die Handschuhe ohne Finger tragen, um die Waffe besser im Griff zu haben. Die, bevor sie einer Frau den Hintern versohlen und sie fast ertränken, noch mal ihren Hut geraderücken. Männer, die einen tödlichen Hass aufeinander haben, und in einer Stadt aufeinander treffen, um diesen Hass zu einem Ende zu bringen. Und es ist gleich, ob diese Stadt Tombstone heißt oder Tokio. Das Duell zwischen den Kontrahenten findet pünktlich um 3 Uhr im Saloon statt, und man hört geradezu die Uhr ticken in ihrem unerbittlichen Lauf, zusammen mit der sich Spieluhr deren Melodie erbarmungslos ihrem Ende entgegenklingt. Wenn Ko und Sho (Jack und John? Jeff und Hank? Tim und Slim?) das erste Mal im Saloon aufeinandertreffen werden noch Worte ausgetauscht. Man trinkt etwas (Whisky, was sonst?), man droht sich, man verabredet sich zum Sterben, während im Kino ein paar Straßen weiter EINE FLUT VON DOLLARS läuft. Ein Western.

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Ein Gangsterfilm. Ein Killer kommt in die Stadt um eine alte Rechnung zu begleichen und um einen Auftrag auszuführen. Und so, wie der Gangsterfilm sowieso nur die Übertragung der Westernmythen in die moderne Großstadt ist, so ist INFLATABLE SEX DOLL auch nichts anderes als die Weiterführung ebendieser alten Geschichten mit modernen Mitteln. Es wird telefoniert, es gibt geheimnisvolle Gegensprechanlagen, die Mädchen werden mit Drogen abgefüllt, und die Pistolen sind keine Revolver mehr sondern moderne Pythons. Gegenüber dem Western bietet der Gangsterfilm aber oft mehr Twists und mehr verschachtele Ebenen. INFLATABLE SEX DOLL trägt dem Rechnung, indem hier nichts so ist wie es scheint. Ist Naka nur ein Immobilienmakler, der Yakuzas in die Quere gekommen ist? Ist Ko wirklich ein böser Gangster der Frauen quält? Ist Sho allen Ernstes ein aufrechter Rächer? Ist Mina tatsächlich nur die dumme Hure, die Sho in eine Falle locken soll? Oder ist das alles vielleicht ganz anders? Ein Gangsterfilm, gedreht in wunderschönem Schmuddel-Schwarzweiss, um die Nähe zu den großen amerikanischen Gangsterepen noch zu betonen. Und deren Hard-Boiled-Aussage zu überhöhen und in ihr Gegenteil zu verkehren. Und über das Pflaster auf Kos Nase hat Polanski dann später sogar einen ganzen Film gedreht. Ein Gangsterfilm.

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Nouvelle Vague. Die Dekonstruktion überlieferter filmischer Traditionen und das Aufbrechen althergebrachter narrativer Elemente. Wenn Sho erzählt was er erlebt hat, dann sehen wir dies als schnell erzählte kleine Rückblende in dahingehuschten Szenen. In Momenten wie leichten Pinselstrichen. Das gleiche gilt für Kos Erzählungen, aber trotzdem wissen wir nie, welche dieser Geschichten denn richtig ist. Rashomon ist unter die Gangster gefallen, und er verwirrt den Zuschauer mit seiner Vielzahl angebotener Möglichkeiten. Das Stilmittel, das Quentin Tarantino 30 Jahre später so viel Aufmerksamkeit sicherte, nämlich eine Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Lösungen zu erzählen, mögliche(!) Entwicklungen einer Handlung bereits zu bebildern, hier ist es bereits vorhanden. Treibender Free Jazz untermalt leere Menschen in einer leeren Umgebung, die sich wie Ameisen bewegen und die zerstörerische Dinge tun. An anderen, aber auch an sich. Es gibt kein Morgen, nur das Heute. Und das ist mit Tod gefüllt. Assoziative Bilder werden von fremden Geräuschen überlagert. Die Western-Atmosphäre des Gangsterfilms mischt sich mit dem nervösen Saxophon der Tonspur und der Sexpuppe im Bild. Was davon ist Wirklichkeit? Das Klingeln des Telefons? Novuelle Vague.

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INFLATABLE SEX DOLL ist ein Western, der mit den Mitteln der Nouvelle Vague einen Gangsterfilm mit leicht erotischem Unterton erzählt. Zwar tauchen immer wieder Ansichten nackter Frauen auf, dies aber eher beiläufig und oft artifiziell. Die Frauen sind hier eher die Sexpuppen aus dem Titel, die nur zur Belustigung und zum Gebrauch da sind. Sae, das entführte Mädchen, dämmert beispielsweise in Katatonie dahin und wacht nur auf, wenn die Kamera läuft und sie missbraucht werden soll. Wie eine Schauspielerin. Oder wie eine Sexpuppe. Entsprechend werden am Ende des Films Huren gezeigt, die wie Schaufensterpuppen in ihren Zimmern liegen, und dem Blick der Kamera genauso ausgeliefert sind wie dem Gebrauch der Männer, und der Unterschied zwischen dem künstlichen und dem lebendigen Objekt verschwimmt zunehmend. In dieser Gesellschaft haben die Frauen keinen Stellenwert, das wird uns erzählt, und doch sind die wenigen Frauen in INFLATABLE SEX DOLL diejenigen Charaktere, die die Handlung überhaupt erst in Gang bringen oder entscheidend beeinflussen, während die Männer sich zum Affen machen und wie die Filmhelden aus den amerikanischen Filmen sich gegenseitig töten wollen. Sich lächerlich machen in einer Welt, die dem aufgesetzten Gehabe und der Künstlichkeit verpflichtet ist. Vielleicht müssen deswegen auch die Frauen künstlich sein: Damit sie nicht die Spiele der Männer stören können …

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INFLATABLE SEX DOLL ist ein ganz frühes Beispiel eines Pinku Eiga, wenngleich von der erotischen Seite her auch äußerst zurückhaltend, der so vollgestopft ist mit Referenzen in beide Richtungen der Zeit, dass einem fast schwindlig werden kann. So viele Ideen wurden später von italienischen und amerikanischen Regisseuren aufgegriffen. So viele Ideen von Regisseuren wie Akira Kurosawa (die Platzierungen der Figuren in der Geschichte), José Bénazéraf (die Musik) oder Sejiun Suzuki (der Stil) werden hier verarbeitet und zu etwas Neuem und sehr spannendem transformiert. Ein Genrefilm mit intellektuellem Anspruch. Ein Arthouse-Film mit Gewalt, Sex und Thrill. Ein Film wie er Spaß macht auf mehr …
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Utsushimi (Sion Sono, 2000) 6/10

Ein Film über den Körper im wahren Leben. Oder über leere Körper …

Mockumentaries sind in, also Filme, die so tun als ob sie Dokumentationen wäre, in Wirklichkeit aber Spielfilme sind. Klassischerweise natürlich Found Footage-Filme à la BLAIR WITCH PROJECT oder [REC], aber natürlich auch Klassiker wie MANN BEISST HUND. Oder der unglaubliche und sträflichst vergessene STRAFPARK von Peter Watson.

UTSUSHIMI nun handelt in erster Linie von einem Mann und einer Frau, was ja für einen Film schon mal ganz gute Voraussetzungen sind. Ein Hund kommt auch vor, Hachiko, eine japanische Legende, und der Inbegriff für Treue schlechthin. Hachiko war in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts ein Hund, der sein Herrchen, einen Universitätsprofessor, jeden Tag am Bahnhof abholte. Als der Professor während einer Vorlesung starb, kam Hachiko weiterhin jeden Tag pünktlich zum Bahnhof, und zwar bis zu seinem eigenen Tod zehn Jahre später. Treue. Aber vielleicht auch … Leere?

Die Frau, eine sehr junge Frau, eher ein Mädchen, sucht nach ihrem Schwarm, und sie wartet an Hachikos Denkmal auf den Mann. Wenn der Mann nicht kommt, dann nimmt die Frau eben das Denkmal ins Huckepack, schleppt es durch halb Tokio bis zu ihrem Schwarm, dem Koch eines Schnellimbisses, und will sich von diesem entjungfern lassen. Eine große Menschenmenge sammelt sich wegen dieser Aktion an, und da kann der Koch nicht so schnell nein sagen. Und außerdem, eine Frau die freiwillig mit ihm, und ganz ohne Verpflichtungen?

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Hachiko und die Menge werden zurückgelassen, und man rennt durch Tokio auf der Suche nach einem Ort für das Schäferstündchen. Rennen tun die beiden deswegen, weil das Mädchen immer rennt. Running is Sex. Wenn sie rennt fühlt sie sich wohl, fühlt sie sich als Mensch. Das Mädchen hat eine andere Geschwindigkeit in ihrem Leben, und der Mann, japsend und fluchend hinterher stolpernd, muss das mit pfeifenden Lungen ebenfalls erkennen. In seinem Appartement schaffen sie es dann endlich miteinander … Nein, nicht ganz. Das Mädchen ist aufgeregt, ist verwirrt, ist hibbelig, tut so als ob sie auf das Klo muss, geht aber stattdessen auf die Straße, und schreibt in den Staub auf dem Briefkasten was jetzt gleich passieren wird. Sie ist ja sooooooooooo gespannt …

Dann endlich ist es soweit. Es ist … eigen. Anders. Das Mädchen hüpft auf dem Mann herum wie ein Flummi, schlägt ihn dabei, quietscht ganz furchtbar, und irgendwann fallen die beiden durch die Scheibe einer Türe. Das Mädchen fällt das Dach herunter und läuft fort. Sie ist sehr glücklich, sie ist überglücklich, und wenn sie glücklich ist, dann rennt sie …

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Der Mann ist allerdings nicht so glücklich. Seine eigene Freundin reizt ihn gar nicht mehr, und er erkennt, dass er sich verliebt hat. Verliebt in das Mädchen mit der anderen Zeit. Er beginnt ebenfalls zu rennen, und auch wenn es ihm zu Beginn noch schwer fällt, wird er doch irgendwann ausdauernder. Er rennt durch Tokio um das Mädchen zu finden. Und er findet sie auch! Sie ist verliebt in einen anderen Mann und rennt gerade zu diesem Mann, einem Läufer, um ihn zu heiraten. Der Koch ist traurig. Wütend. Zornig. Er gerät in Rage und … bleibt stehen!

Nein, ich sage jetzt nicht, dass dies die ersten 30 Minuten sind, es ist schon weitgehend die Beschreibung des ganzen Films. Und all diese Rennerei, die Hektik, die Schreie, der versuchte und vollzogene Sex, all dies wird hautnah begleitet von einem kleinen Kamerateam. Eine Dokumentation über ein junges Mädchen, das mit dem Denkmal von Hachiko im Schlepptau ihren Liebhaber sucht und von diesem entjungfert werden will, auch wenn der noch gar nichts von seinem Glück weiß. Eine klassische Doku an einem Wochentag abends in einem Privatsender – Nichtssagend, grell, bunt, ein ganz klein wenig, erotisch, frech, unerheblich, billig.

Aber Sion Sono zeigt noch mehr. Er zeigt die Schauspieler, wie sie sich auf ihre Rollen in dieser Dokumentation vorbereiten! Sono durchbricht die vierte Wand, aber nicht die zum Zuschauer, sondern die zum Aufnahmeteam. Parallel zur Doku werden die Schauspieler beim Proben gezeigt, und irgendwann parallelisieren sich für kurze Zeit sogar die geprobten und die „real“ gesprochenen Texte. Wirkliches und künstliches Leben sind nicht mehr auseinanderzuhalten, denn auch wenn Sion Sono selber bei den Proben mitarbeitet, schließlich ist er der Regisseur, so wissen wir als Zuschauer ja doch, dass es sich bei den Schauspielern um Schauspieler handelt. Die irgendwann etwas anderes darstellen sollen.

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Parallel dazu werden Proben eines Tanztheaters gezeigt, und ähnlich wie bei Carlos Sauras CARMEN überlappen sich auch hier Probe und Realität, werden die tänzerischen Auseinandersetzungen zu Diskursen zwischen den Personen. Zwischen den Körpern, denn UTSUSHIMI ist ein Film über Körper. Nicht nur über die leeren Körper, die quietschend durch Tokio rennen und nach Liebe schreien, sondern auch über elastische Körper, die ihre Beziehungen und ihre Gefühle (von denen sie nämlich voll sind) durch Tanz und Kunst ausdrücken können. Genauso wie die nackten Frauenkörper, die von einem Fotografen arrangiert und fotografiert werden, um am Ende in einer Galerie ausgestellt und von bekleideten Körpern angeschaut zu werden, und nur dadurch einen Sinn erhalten. Hübsch ist auch der Moment, wenn sich der Mann bei der Flucht aus einem Taxi das Bein bricht, und der Special Effects-Künstler während des folgenden Dialogs weiterhin Blutfontänen aus der Dose auf das Taxi sprüht, obwohl schon längst alles vorbei ist. Hauptsache es fließt Blut. Körper-Saft …

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Auch Vasen sind Körper, genauso wie Kaffeetassen, und auch diese Körper sind es Sono wert betrachtet zu werden. Genauso wie ein Modemacher betrachtet wird, also jemand der Körper einkleidet, und der oft genug in der Meinung der Menschen aus hohlen Körpern reale Körper macht. Beziehungsweise hohle Körper ummantelt, auf dass sie gefüllt wirken. Kleider machen Leute nennt man das dann …
Aber das Hauptaugenmerk des Films liegt auf dem Mädchen und dem Mann. Auf diesen beiden, und auf der Fake-Reportage. Sono arbeitet hier mit allem Aussagemitteln, die so eine Mockumentary hat: Plötzliche Helligkeitsveränderungen durch schnelle Schwenks, viele und schnelle Schnitte, unscharfe Zooms, das gekünstelte Gehabe der Personen, die „Handlung“ wird auch mal durch die Personen verdeckt und die Kamera ist nicht immer auf der Höhe, nicht anders also als in einer „richtigen“ Dokumentation auf einem Privatsender … Ich weiß nicht, wie der Zustand des japanischen Privatfernsehen in den 90ern war, aber der heutige Zeitgeist des westlichen TVs wird meines Erachtens ziemlich gut getroffen. Eine hohle und künstliche Welt voller hohler und künstlicher … Körper. Die nur zur Zerstreuung und Unterhaltung dient, und einzig den Auftrag hat, ein wenig Nacktheit und viel Blödheit zu zeigen. Und manchmal auch anders herum. Das einzige was fehlt ist ein Off-Sprecher, der den Blödsinn dann auch noch erklären muss, aber vielleicht war das damals in Japan nicht üblich.

Spannend auch die Szenen, in denen das Mädchen das Denkmal durch Tokio zieht, begleitet von einem großen Mob Neugieriger. Erst als sie schreiend erklärt, dass sie „es“ tun will mit ihrem Liebsten, und dass sie eben auf dem Weg ist zu ihrem Mann, da sind alle begeistert, und aus den Neugierigen werden Jünger. Werden begeisterte Fans, die das Mädchen unter Tanzen und Singen zu dem Schnellimbiss geleiten und dort gespannt darauf warten was passieren wird. Erschreckend, wie sehr das allem den gängigen Fernsehformaten ähnelt, und entlarvend, wie einfach es ist, etwas zu erzeugen, was nicht so ist wie es scheint. Die Schauspielerin, die ihre Rolle lernt und später das Mädchen spielen wird, wirkt so dunkel und ernst. Konzentriert spricht sie ihren Text, geht voll in ihrer vorbereitenden Arbeit auf, um dann als Schauspielerin so dumm und quietschig zu wirken. Dem Rezipienten fallen Analogien ein zu Sylvester Stallone, der CLIFFHANGER gedreht hat obwohl er unter extremer Höhenangst leidet, oder Clint Eastwood, der in den Sergio Leone-Filmen immer an einem Zigarillo nuckelte, obwohl er Zeit seines Lebens überzeugter Nichtraucher war. Ob die Geissens wohl im Strassberg-Institut gelernt haben?

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Nach dem Erstellen von Screenshots des Films lagen die Bilder von UTSUSHIMI zufällig neben den Bildern von Roger Vadims VICE AND VIRTUE. Was für ein Gegensatz! Hier die kühl durchkomponierten Schwarzweiss-Bilder der Vivisektion einer Beziehung und einer Historie, dort die wilden und fast anarchistischen Wackelshots einer Handkamera, die sich auf den Spuren von rennenden und vögelnden Menschen quer durch eine Großstadt bewegt. Faszinierend, was Film alles sein kann …

Doch ähnlich wie beim kürzlich gesehenen ANTIPORNO stellte sich für mich während des Zuschauens irgendwann einmal die Frage nach dem Sinn des Films. Filme von Sono kratzen irgendwie an der Schale des Filmemachens, oder vielmehr an der Haut des Filmeschauers, und sie stellen so manches in Frage, was man als Filmfan eigentlich als gegeben voraussetzt. Aber ganz ehrlich: Über weite Strecken hat UTSUSHIMI tatsächlich gefesselt, und die fast zwei Stunden sind viel schneller vergangen als ursprünglich gedacht. Mit UTSUSHIMI bricht Sion Sono den engen Rahmen des Drehens eines Spielfilms auf und erweitert ihn um Dinge, die normalerweise gar nicht dazu gehören, wodurch etwas ganz Eigenes erschaffen wird. UTSUSHIMI ist sehr anstrengend und hochgradig irritierend, aber auch ausgesprochen lohnend …

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Beitrag von Maulwurf »

Hazard (Sion Sono, 2005) 7/10

Sion Sono dreht seine Filme manchmal anscheinend so, wie früher mal irgendwann der Punk erfunden wurde: Einer schreit 1, 2, 3, 4… und alle legen los. Ob es dabei perfekt ist, oder künstlerisch wertvoll? Scheißegal, es soll Spaß machen, und irgendwas wird dabei schon rauskommen. So ist zumindest mein Eindruck von HAZARD (und auch von anderen Filmen Sonos), und es wirkt wie damals in den 70ern, als die italienischen Filmcrews eine Kamera auf die Straße stellten, Action riefen und los ging es. HAZARD funktioniert genauso. An den Passanten im Hintergrund kann man das gut ablesen – Da steht eine Kamera, einer schreit Action, und vor der Kamera wird improvisiert, einem grob strukturierten Drehbuch gefolgt oder auch nicht, es wird die Sau rausgelassen und jede Menge Spaß produziert, und am Ende kommt dabei etwas raus, was echtem Leben verdammt ähnelt. Und zwar hautnahes und ungekünsteltes Leben, wie Sono es in UTSUSHIMI schon gezeigt hat – Mit der Wackelkamera auf den Spuren freilebender Menschen in einer künstlichen und für sie gemachten Umwelt. Klaus Lemke hat das zwar vor 50 Jahren schon gemacht, aber deswegen ist diese Art Guerillafilm heute immer noch genauso gut.

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Der junge Japaner Shin unternimmt einen spontanen Trip nach New York, weil Japan ja schläfrig und ruhelos zugleich macht, und Shin sich in Tokio so schrecklich eingeschlossen fühlt. In New York, der Stadt mit der höchsten Verbrechensrate der Welt, staunt er und ist glücklich und voller Hoffnung, bis ihm sein Rucksack und seine gesamte Habe gestohlen werden. Ziemlich schnell ist er am unteren Ende der Nahrungskette angelangt, aber er lernt zwei junge Halbjapaner kennen, Lee und Takeda, und mit denen freundet er sich schnell an. „Sich schnell anfreunden“ heißt, dass Lee Shin mitnimmt in sein Loft, ihm alles zeigt, ihm den Schlüssel hinwirft, und mit den Worten Mi casa es tu casa wieder verschwindet. Lee erkennt in Shin einen Gleichgesinnten, der zwar noch in der westlichen Welt ankommen muss, aber der die Anlagen dazu hat, bei Lees Lebensstil mitzuhalten.
Lee ist durchgeknallt. Ist er das? Lee ist halt anders. Lee tanzt oben ohne am Times Square die Passanten an. Lee schreit und singt und tanzt und LEBT. Lee weigert sich für Lebensmittel etwas zu zahlen, stattdessen wird die Pumpgun gezückt um ein Brötchen und etwas Milch zu bekommen. Lee hat einen gut gehenden Eisvertrieb, bei dem Takeda mit dem Eiswagen durch die Straßen fährt und Eis verkauft. Seine „Speed“-Balls sind ziemlich beliebt, vor allem bei denjenigen die dafür viel Geld zu zahlen bereit sind. Takeda wiederum ist selbstbewusst und durchgeknallt und offensiv, nur Nancy kann er nicht anreden. Nancy ist eine Kellnerin in einem Restaurant, und Takeda ist schwer verliebt, kann sich aber seiner Angebeteten, die ihn nicht einmal kennt, nicht nähern. Dafür hat er zuviel Angst und Lampenfieber. Der Augenblick, in dem Takeda mit einem Strauß Blumen vor Nancy steht, ihr versucht seine Liebe zu gestehen, während sie versucht herauszubekommen was er denn eigentlich von ihr will (Einen Platz im Restaurant? Eine Reservierung für eine Party? Sollen die Blumen auf einem bestimmten Tisch stehen?), diese Szene ist in all ihrer Sprachlosigkeit und ihrem babylonischen Sprachgewirr die absolute Negierung jeder klassischen Screwball-Comedy: Hier werden nicht geschliffene Dialoge durchexerziert, hier wird echtes Leben gezeigt, mit echter Sprache und echten Menschen. Kino kann so schön sein …

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Auf jeden Fall ziehen die drei Freunde, und es sind richtig gute und dicke Freunde, durch New York. Sie reißen Mädels auf, verkaufen ihren Stoff, haben Spaß, überfallen kleine Geschäfte und ärgern die Cops. Lebe heute und lebe so, als ob es Dein letzter Tag wäre. No Future, aber jede Menge Fun. Und Weisheit! Lee lehrt Shin Englisch mithilfe von Walt Whitman:

I SIT AND LOOK OUT.

I sit and look out upon all the sorrows of the world, and upon all
oppression and shame,
I hear secret convulsive sobs from young men at anguish with
themselves, remorseful after deeds done,
I see in low life the mother misused by her children, dying,
neglected, gaunt, desperate,
I see the wife misused by her husband, I see the treacherous
seducer of young women,
I mark the ranklings of jealousy and unrequited love attempted to
be hid, I see these sights on the earth,
I see the workings of battle, pestilence, tyranny, I see martyrs and
prisoners,
I observe a famine at sea, I observe the sailors casting lots who
shall be kill'd to preserve the lives of the rest,
I observe the slights and degradations cast by arrogant persons
upon laborers, the poor, and upon negroes, and the like;
All these—all the meanness and agony without end I sitting look
out upon,
See, hear, and am silent.

(1)

Das ist das Lieblingsgedicht Lees, damit bringt er Shin englisch bei. Und wenn ich so nach Gedichten von Whitman google dann allen mir zwei Dinge immer wieder auf: Die Liebe zur Natur und die zur Freiheit. Kein Wunder, dass Lee den großen amerikanischen Dichter verehrt: Lee ist ein von Grund auf freier Mensch, der dem alten Punkgesetz folgt nur das zu tun wozu er Lust hat. Dabei bleibt er gleichzeitig im Geiste ein ewiges Kind, dass nur dem Spaß und dem Chaos verpflichtet ist. Umso verstörender wirkt der Einbruch des korrupten Polizisten Mike in diese eigentlich heile Welt. Wenn Mike Lee zusammenschlägt und in eine große Wasserpfütze taucht und dort festhält, dann scheint für einen Augenblick die Welt fast stillzustehen, so schmerzhaft sind diese Szenen. Wobei das Ende der Beziehung zu Mike ja dann schon fast wieder etwas Spielerisches hat …

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Die Handkamera folgt den Dreien also bei ihren täglichen Geschäften. Beim Date im strömenden Regen genauso wie bei den Problemen mit Mike, der ihnen einen guten Teil ihres Geldes abnimmt. Als Shin bemerkt, dass sie alles haben außer Feinden, überfallen die Drei daraufhin im LONG RIDERS-Outfit, also helle lange Staubmäntel mit schwarzem Kragen, Cowboystiefel und Stetsons, eine Gruppe vietnamesischer Drogenhändler, damit auch endlich mal Feinde vorhanden sind. OK, die Situation wird etwas anders aufgelöst als gedacht, und tatsächlich ist sie sehr spannend und lustig. So wie der ganze Film - HAZARD ist anarchisch und wild, er ist ziemlich durchgeknallt und zumindest der gealterte Maulwurf sehnt sich in seine Jugend zurück, wo er spontan in eine große Stadt gezogen ist um dort Abenteuer zu erleben, auch wenn es damals nicht New York war sondern London. Aber aus der Sicht von heute ist dieser Film, der zu Beginn der 90er spielt, eine Zeitreise in eine Welt, in der noch vieles möglich war, was heute in den Krallen von Kapitalismus, Digitalisierung und Sicherheitsdenken verschwunden ist.

Und wenn Shin am Ende des Films wieder in Tokio ankommt, dann hat er, genauso wie Elijah Wood am Ende von HOOLIGANS, etwas gelernt. Er kann sein Leben in die eigene Hand nehmen, kann sich selber dorthin bewegen wo er sein möchte, und kann seine Position verteidigen. Aus dem verträumten und verhuschten Shin wird der starke und selbstbewusste Shin, und der Zuschauer möchte am liebsten zuschauen, wie Shin es jetzt schafft, mit dem Penny den er von Lee bekommen hat, diesen nachzuholen nach Tokio. Die Geschichte im Film hört auf, aber das Leben geht weiter, und ich glaube dass es das ist, was uns Sion Sono sagen möchte. Oder in den Worten von Walt Whitman:

Glück, nicht an einem anderen Ort, sondern an diesem Ort …
Nicht in einer zukünftigen Stunde, sondern in dieser Stunde.


(1) https://whitmanarchive.org/published/LG/1891/poems/129

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