Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Oxford Murders (Alex de la Inglesia, 2008) 8/10

Der amerikanische Student Martin reist nach Oxford, um sein Idol, den Philosophieprofessor Seldon zu treffen. Stattdessen trifft er auf eine Leiche, und muss gemeinsam mit dem zynischen und verbitterten Seldon einen Serienmörder stoppen, der seine Morde (fast) perfekt tarnt, und sie in einer altgriechischen Symbolabfolge chiffriert.

Dass es so etwas heutzutage überhaupt noch gibt! Ein Krimi, der sich nicht in Atemlosigkeit und Schießereien erschöpft, sondern seine Zuschauer fordern will. Ihnen Denkarbeit und Aufmerksamkeit abfordert, und sie im Gegenzug mit einer Kaskade an Philosophie und Mathematik überhäuft. Keine Buddy-Action-lustig-Komödie nach Reißbrett, sondern ein richtiger Krimi zum Mitraten. Mit vielen hell- und dunkelroten Heringen, und mit Verzierungen an Stellen, wo, nach heutigem Verständnis, eher ein Erklärbär für die Zusammenfassung der letzten 20 Minuten stehen müsste. Stattdessen dreht und windet sich die Handlung wie ein mittelalterliches Ornament, mit Schnörkeln, Arabesken und Blättern, und jede Ausschmückung offenbart ein neues Detail europäischer Philosophie, jede Arabeske einen winzig-rasanten Einblick in die Geschichte von Mathematik und Logik. Folgerichtig hat es in diesem wortreichen Whodunit, dessen Auflösung in bester Agatha Christie-Tradition als Wortgefecht daherkommt, auch eine herzallerliebste, wenn auch gut versteckte, Reminiszenz an IM NAMEN DER ROSE. Wie passend für einen Krimi, der zwar in der Neuzeit spielt, sich aber inmitten der klassischen und geschichtsbewussten Mauern von Oxford entfaltet und tatsächlich ebenso bis zurück zu den alten Griechen reicht.

OXFORD MURDERS ist ein Film in der allerbesten europäischen Giallo-Tradition: Ein artifizielles Verwirrspiel um einen Mörder, eine wunderschöne nackte Frau, Philosophie, Mathematik und Logik als ständig vexierende Basis einer Handlung, die wie ein Irrlicht von Ort zu Ort springt, und dabei ein ungemeines Wohlgefühl auslöst. Allein dieses Ende, die tatsächliche Auflösung, und diese unglaubliche Schlusseinstellung – Dinge, die US-amerikanische Regisseure nicht einmal hinbekommen würden, wenn man sie dazu zwänge …

Wer Gialli mag sollte hier unbedingt einmal zugreifen, und wer intelligente(!) Krimis mag, die ihre Zuschauer ernstnehmen und sie intellektuell fordern, für den ist OXFORD MURDERS ein Muss.
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Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Kind 44 (Daniel Espinosa, 2015) 7/10

Die Sowjetunion im Jahr 1953: Vermeintliche Verräter werden gejagt, mutmaßliche ausländische Spione erschossen, und mögliche Kollaborateure gefoltert. Menschen werden aus ihren Wohnungen und von ihren Arbeitsplätzen abgeholt und verschwinden auf Nimmerwiedersehen, während die Propaganda der Regierung hohle Phrasen plärrt und Menschen auf der Straße nach Lebensmitteln anstehen. Doch was es in der Sowjetunion des Jahres 1953 definitiv nicht gibt ist Mord. Es gibt keinen Mord im Paradies! Der kleine Junge des Polizisten Alexei Andreyev ist einem Unfall zum Opfer gefallen, so hat sein Freund und Kollege Leo Demidov ihm den Untersuchungsbericht vorzulesen. Doch Demidov beginnt trotz gegenteiliger Order Nachforschungen anzustellen, und stellt schnell fest, dass es noch weitere tote Jungen gegeben hat, die alle nach der gleichen Methode „behandelt“ und ausgeweidet wurden. Da er ein verdienstvoller Offizier ist und ein Kriegsheld noch dazu, darf für seine Insubordination er zuerst gegen seine eigene Frau ermitteln, und wird dann als Belohnung „nur“ in die Verbannung in den Ural geschickt, wo er mit Entsetzen feststellen muss, dass bisher 44 Kinder ermordet wurden. Und er schneller auf der Abschussliste des Inlandsgeheimdienstes landet als er es für möglich hält. Er, und alle in seiner Umgebung …

Ein Serienmörderkrimi, aha. Ein Verrückter rennt rum und tötet Jungens, während ein Polizist hinterher rennt und immer mehr verzweifelt. Hat man schon hundertmal gesehen, kennt man.

Aber KIND 44 ist anders, grundlegend anders. Allein schon dadurch, dass die Geschichte in der Sowjetunion im Jahr 1953 spielt, also im Jahr von Stalins Tod, ist das grundlegende Setting ein ganz anderes, archaischeres. Viel wesentlicher für den Film ist aber, dass die Geschichte um den Serienkiller nur den Hintergrund bildet für eine düstere und brutale Darstellung des Grauens der spät-stalinistischen Zeit. Willkürliche Verhaftungen, Erschießungen von Unschuldigen und Folterungen von Verdächtigen sind die narrative Basis für die Darstellung von Angst und Einsamkeit, für ein permanentes Grauen in den Seelen der Menschen. Der Polizist Leo Demidov zum Beispiel weiß genau, wie weit er gehen darf, und wo seine Fähigkeit zum selbständigen Denken gefälligst zu enden hat. Freundschaften, ja sogar die Ehe mit der schönen Raissa, sind alle unter dem Aspekt der Angst und des Misstrauens entstanden. Das eigene Leben könnte jeden Moment in einer unendlich scheinenden Explosion von Schmerz zu Ende gehen, dies ist die einzige Gewissheit, welche die Menschen in dieser Zeit haben.

Entsprechend legt Regisseur Daniel Espinosa viel mehr Wert auf ein überzeugendes Zeit- und Sittenbild, als auf eine Mörderhatz, die erzählerisch nicht immer logisch ausgereift erscheint. Vielmehr untersucht er die Frage, inwieweit Loyalität und Vertrauen in einer Umgebung, in der diese Eigenschaften prinzipiell meistens als suizidal verstanden werden, überhaupt Bestand haben, und das Ergebnis dieser Untersuchung wird dann eingepackt in wunderschöne und größtenteils naturalistische Bilder voller Elend, Schmutz und Armut. Die Abwärtsspirale Demidows, vom Kriegshelden zum angesehenen Polizeioffizier, vom machtlosen Milizionär zum gejagten Verbannten, dem sogar innerhalb eines Verbanntentransports mittels Viehwagon noch gedungene Mörder auf den Hals gejagt werden, ist finster, brutal und eindrücklich, und eines ist sie sicher nicht: Nostalgisch …
Ich musste oft an George Orwells Roman 1984 denken, der ja bekanntlich unter dem Eindruck von Nationalsozialismus und Stalinismus entstanden ist, und dessen eisige Atmosphäre hier durch jedes einzelne Bild weht. Die permanente Überwachung, die Unsicherheit, dieses ständigen Gefühl von Angst und Verzweiflung, die vor allem die erste Hälfte des Romans ausmachen, die ist in KIND 44 in jeder Pore zu spüren. Auch der Schluss passt gut zu 1984, wenn Demidow irgendwann die Kombination aus freiem Denken und Angst eintauscht gegen Sicherheit und dem Nachplappern der offiziellen Wahrheiten. Der große Bruder hat halt doch immer Recht …

Und somit sei KIND 44 allen ans Herz gelegt, die denken, dass ihre persönliche Freiheit den Bach runtergeht, weil sie sich ab und an ein Stückchen Stoff vor den Mund hängen müssen, sie nicht mehr nach Kroatien fahren dürfen, und Partys als gesundheitsgefährdend deklariert werden. Freiheitsberaubung, oder viel mehr Unterdrückung, das lernen wir hier, bedeutet die Anwesenheit zur falschen Zeit am falschen Ort mit garantierter Todesfolge. Unterdrückung bedeutet, den geliebten Menschen entweder zu denunzieren (und damit dem sicheren Tod auszuliefern), oder den Mund zu halten und damit die gesamte Familie möglicherweise einem langen und schmerzhaften Tod zu überantworten. Unterdrückung bedeutet, dass Geständnisse legal erfoltert und erprügelt werden, und dass eine Aussage, und sei sie noch so falsch, einfach nur das Ende der unerträglichen Schmerzen bedeutet. Und last but not least bedeutet Unterdrückung, dass es keinen Mord mehr gibt, wenn er nicht von oben herab zugelassen wird. Und dass eine Mordermittlung eine apokalyptische Einwegstraße in die Hölle ist.

KIND 44 ist eine Reise in die Nacht der Menschheitsgeschichte. Eine Bloßlegung unserer tierischen Wurzeln und deren Auswirkungen. Eine nachdrückliche Erzählung darüber, was sich Menschen unter dem lächerlichen Oberbegriff sogenannter „Zivilisation“ gegenseitig antun. Finster, bildgewaltig, eindrucksvoll …
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Esclaves sexuelles sur catalogue (Claude Bernard-Aubert, 1977) 5/10

Bei seinem Freund Jean-Pierre lernt Philippe, dass man sich Sklavinnen ersteigern kann, die alles für einen tun: Den ganzen Tag nackt zu des Mannes Füßen sitzen, ihm Essen und Trinken bringen, die Türe öffnen, und natürlich sexuell zu Diensten sein. Philippes Freundin Françoise ist zuerst schockiert, bekommt aber schnell Gefallen an der Sache, und nach dem Rudelbums zu sechst lässt sie sich ebenfalls versteigern. Philippe und Jean-Pierre reicht das alles ebenfalls nicht, also lassen sie sich auch versteigern, um bei einer Damenrunde als Diener für alle Bereiche ihren Mann zu stehen.

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ESCLAVES wirkt irgendwie, als ob ein Softporno mit HC-Inserts aufgepeppt worden wäre. Die meisten Szenen sind entweder in der Halbtotalen gedreht (was dann eben schwerstens nach Simulation aussieht), oder es sind Großaufnahmen von haarigen Geschlechtsteilen. Gerade wenn die Profis mal zu sehen sind, also Brigitte Lahaie, Karine Gambier, Giuliana Cecchini und noch ein oder zwei andere, wird auch tatsächlich Geschlechtsverkehr gezeigt. Vor allem die Szenen mit der rassigen Giuliana Cecchini sind dabei sehr erotisch und wild geraten, und hieven den Film deutlich auf eine bessere Ebene. Bernard Hug im Butler-Dress etwa, der ein Tablett mit Tee in den Händen halten muss, während die Cecchini und ihre Freundin sich mit ihm vergnügen, ist ausgesprochen drollig geraten. Davon hätte ich gerne mehr gesehen, aber der Rest von ESCLAVES ist erheblich zahmer und braver geworden, sowohl von der Optik wie auch von der Action. Schade, da wäre deutlich mehr drin gewesen …

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FarfallaInsanguinata
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von FarfallaInsanguinata »

Maulwurf hat geschrieben: So 13. Jun 2021, 05:51
FarfallaInsanguinata hat geschrieben: So 13. Jun 2021, 04:31 Schade, dass deine Tagebucheinträge in letzter Zeit sparsamer werden. Mir gefiel diese Art mit Screenshots und ausführlichem Text.
Hallo Farfalla,

Vielen lieben Dank für das Feedback!! Das mit dem weniger ist so: Meine Texte liegen etwa ein Dreivierteljahr, bis ich sie vorstelle. Oder anders ausgedrückt: Den gerade eingestellten 711 OCEAN DRIVE habe ich im August 2020 gesehen. Zu einer Zeit, wo ich den rechten Arm wegen eines Verkehrsunfalls kaum bewegen konnte. Jede Menge Zeit hatte zum Gucken, aber nur kurze Gedanken abfassen konnte.
Ab dem nächsten Film wird sich das wieder ändern, da kommen wieder mehr Buchstaben ins Spiel :D . Und die Screenshots: Nun ja, da sind mir bei einer Neuorganisation meiner Festplatte Bilder von geschätzt 20 bis 30 Filmen abhanden gekommen :bang: Noch vier Besprechungen, dann wird auch das endlich wieder weitergehen.
Danke für die erklärende Antwort!
Da schließe ich mich meinen beiden Vorrednern an und freue mich ebenfalls über die Rückkehr der ausführlichen Besprechungen. :thup:
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

November (Greg Harrison, 2004) 6/10

Bei einem kurzen nächtlichen Abstecher in ein 24-Stunden-Geschäft geschieht das Unfassbare: Gerade wie Hugh an der Kasse steht kommt ein Straßenräuber in den Laden und erschießt alle Anwesenden. Hughs Ehefrau Sophie sitzt draußen im Wagen und bekommt davon nichts mit. Die Zeit danach ist hart für Sophie. Kein Wunder, dass ihr Kopf zunehmend schmerzt hat und sie Probleme damit hat, ihre auftretenden Visionen mit der Realität in Übereinklang zu bringen. Wer hat das Foto vom Geschäft aufgenommen und in ihren Diaprojektor geschmuggelt? Wer hat Sophie, im Wagen sitzend, fotografiert? Wieso weiß die Polizei von einer weiteren, im Geschäft anwesenden, Person, von deren lebloser Hand ein Foto existiert? Und wer hat dieses Foto gemacht? Sophie selber? Woher stammt das Blut an der Glühbirne? Und der Zeitungsausschnitt in der Wand, der den Überfall behandelt?

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Ein Vexierbild, ein freies Spiel dreier unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen, die alle vom gleichen Sujet handeln, nämlich dem blutigen Überfall auf ein kleines Geschäft, und die alle drei gleich sind und doch so unterschiedlich. Aufgeteilt in drei Erzählblöcke mit den Titeln Verleugnung, Verzweiflung und Akzeptanz geschehen hier viele Dinge, die mit dem logischen Verstand nicht immer zu erklären sind. Im dritten Block überlappen sich dann die verschiedenen Realitäten und laufen auf eine alternative Wahrheit hinaus, die vieles von dem, was in Verleugnung geschieht, erklären kann. Oder auch nicht, das kommt auch ein wenig auf den eigenen Standpunkt an. Und auf das, was man als Beobachter wahrnehmen WILL und akzeptieren KANN. Ist es denn nicht vielleicht so, dass allein durch die Tatsache der Beobachtung das beobachtete Objekt sein Verhalten ändert? Was dann unter Umständen auf die Methode der Beobachtung Rückschlüsse zulässt …

Es wird wenig erklärt, und die Handlung findet vielmals über Bilder und Assoziationen statt. Merkwürdige Ereignisse treten auf, und manchmal hinterlassen sie Spuren. Oder auch nicht. Manche Spuren bleiben, andere wiederum verschwinden. Auf dem LOST HIGHWAY reist man nach RASHOMON. Ein Film zum Hineinfallenlassen und betäuben lassen. Ein Film zum Orientierung verlieren und doch wieder Herausfinden. Oder auch nicht. Das einzige was mir persönlich fehlt ist das Zwingende, der Sog, der den Zuschauer bei der Gurgel packt und ihn mit sich zieht. Die Distanz zu den Figuren ist da und bleibt da, und der Beobachter muss sich selber am Schlafittchen packen und dazu gesellen. Ist dieser Wille da, ist NOVEMBER aber in jedem Fall ein faszinierendes und optisch erstklassiges Gedankenspiel.

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Canaris (Alfred Weidenmann, 1954) 8/10

Wilhelm Canaris. Offizier bei der Kaiserlichen Marine und bei der Reichsmarine, unter anderem als U-Boot-Kommandant von 1916 bis 1918. Als Vizeadmiral Chef der deutschen Abwehr in den Jahren 1935 bis 1944. Bereits 1915 geheimdienstlich in Spanien unterwegs. Zwischen den Kriegen in engem Kontakt stehend mit den nationalistischen Freikorps‘ sowie der ultrarechten Terrororganisation Organisation Consul. Sorgte aktiv dafür, dass Francisco Franco seinen Putsch gegen die spanische Regierung starten konnte und damit den spanischen Bürgerkrieg auslöste. Löste sich im Laufe der späten 30er-Jahre zunehmend von Hitler, ohne aber das Idealbild des Nationalsozialismus aus den Augen zu verlieren. Unterstützte mutmaßlich mehrere Verschwörungen gegen Hitler, nahm aber nie aktiv einem Umsturzversuch teil. Als Abwehrchef war sein direkter Gegenspieler der Leiter des geheimen Staatspolizeiamtes und des Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrich. Die beiden wohnten lange Zeit in direkter Nachbarschaft zueinander, und die Familien Canaris und Heydrich pflegten sehr engen freundschaftlichen Kontakt, trotz der erbitterten Rivalität der beiden Männer. War Hundeliebhaber, und lehnte über lange Jahre hinweg Mord zur Erreichung seiner Ziele ab. Wilhelm Canaris wurde am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg erhängt, gemeinsam mit anderen „Verschwörern“ wie Dietrich Bonhoeffer.

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Egal, welcher politischen Einflüsterung man erliegt, sicher ist, dass Canaris eine faszinierende Persönlichkeit gewesen muss. Er hat augenscheinlich ein aufregendes Leben geführt und viel erlebt, und auch wenn man ihm möglicherweise manches vorwerfen kann: Durch seine Abkehr von Hitler und seinen Sinneswandel gegenüber dessen Methoden, sowie durch seine erfolgreichen Versuche Juden zu retten einerseits, aber auch durch die mögliche Beteiligung an den Morden an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg und seine aktive Unterstützung der putschenden Falangisten im spanischen Bürgerkrieg andererseits, polarisiert Canaris bis heute. Oder anders ausgedrückt: Wilhelm Canaris war ein Mensch, der im Laufe seines Lebens viel gesehen und getan hat, und, wie andere Menschen auch, seine geistige und politische Haltung im Lauf der Jahre allmählich veränderte. Womit er nicht einfach nur gut oder schlecht war, sondern stattdessen eigentlich ganz normal.

Nun ist es heutzutage aber üblich, Menschen, die im Dritten Reich Karriere gemacht haben, als böse Nazis abzutun (was in 95% aller Fälle auch stimmen könnte), und den Menschen hinter dem Parteigänger zu ignorieren. Auch ist es mittlerweile üblich, historische Geschehnisse aus heutiger Sicht zu beurteilen, also die Wertmaßstäbe von heute anzulegen, Und somit zum Beispiel eine sehr vorsichtige und allmählich beginnende Geschichtsaufarbeitung im Jahre 1954 als „Geschichtsverfälschung à la 1950-Jahre“ (1) herabzuwürdigen. Wenn man heute, im Jahre des Herrn 2020, sicher weiß wie etwas zu bewerten ist, dann muss das für das Jahr 1954 noch lange nicht zutreffen, aber zumindest dienen solche Ergüsse wenigstens der zuverlässigen Überhöhung der eigenen Selbstgerechtigkeit. Für den Film bedeutet dies aber die Fragestellung, ob Wilhelm Canaris nun ein böser Nazi war, ein Mitläufer, oder möglicherweise sogar jemand, der sich nicht in gängiges Schema pressen ließ …

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CANARIS also, der Film. Gedreht inmitten der Adenauer-Zeit und in einer geistigen Umgebung, welche zum einen die Verbrechen der Hitlerzeit am liebsten negiert hätte (denn auslöschen ging ja nicht mehr), zum anderen aber auch nicht andauernd daran erinnert werden wollte dass man sich ja eigentlich selber schuldig gemacht hatte. Nicht umsonst waren in den 50er-Jahren die eskapistisch angelegten Heimatfilme die erfolgreichsten Kinoschlager in Deutschland. Und das Schicksal von Wolfgang Staudtes KIRMES, der den Finger in diejenige Wunde legte, dass Deserteure auch kurz vor Kriegsende oft noch als Wehrkraftzersetzer angesehen wurden, dieses Schicksal ist dem geneigten Filmfan bekannt: KIRMES wurde von vielen Kritikern zerrissen und verschwand innert weniger Tage im Giftschrank der jungen Republik. Für die Diskussion über so ein Thema war die Zeit einfach noch nicht reif.

Und wenn man mal ehrlich ist, dann kann man den Mut der damaligen Filmemacher, Themen der allerjüngsten Vergangenheit aufzugreifen und in Filmen wie DES TEUFELS GENERAL oder eben CANARIS mit einem ersten vorsichtigen(!) Ansatz von Kritik zu beleuchten, eigentlich nur bewundern. Die Gratwanderung, den Menschen im Kino eine Form der (massentauglichen) Unterhaltung zu geben, in Kombination mit einem Rückblick auf die jüngste, schuldbeladene, Vergangenheit, diese Gratwanderung war sicher nicht einfach. Das war dem Produzenten von vornherein klar, und Alfred Weidenmann meinte dazu „Ich will ja keinen Film über den 20. Juli drehen, sondern über die Irreführung meiner Generation" (2). Und, dem Gesetz des Marktes folgend, weil Filme halt nun mal Geld erwirtschaften müssen, in einer ansprechenden Form.

Ich persönlich halte dieses Experiment im vorliegenden Fall für ausgesprochen gelungen. Vom filmischen Aspekt gesehen ist CANARIS auf jeden Fall eine mitreißende Sache: Die Geschichte ist über einen Zeitraum von 10 Jahren flüssig erzählt (nämlich von Canaris‘ Ernennung zum Abwehrchef 1935 bis zu seinem Tod), und enthält neben der zentralen Figur Canaris (immerhin reden wir hier von einem Biopic) auch etwas für s Herz (Barbara Rütting ist einfach nur bezaubernd) sowie ein paar sehr spannende Momente im Leben eines Geheimagenten (Adrian Hoven beim Spionieren in Le Havre oder hinter den feindlichen Linien in der Sowjetunion). Die Mischung ist sehr gut, nur in den Jahren ab 1942 geht es manches Mal ein wenig zu Hopplahopp. Da überschlagen sich die Ereignisse öfters mal im Purzelbaum, und das Wissen um die tatsächliche Historie der Geschehnisse hilft bei der heutigen Sichtung des Films ungemein. 1954 war dieses Wissen freilich vorhanden, und für das damalige Publikum ist CANARIS schließlich auch gedreht worden. Nein, filmisch ist der Film erstklassig geworden: Spannend, gut erzählt, schön fotografiert.

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Die Figuren und ihre Darstellung sind es halt, die so manchem heutigen Rezipienten einen Kloß in den Hals pressen. O.E. Hasse als Canaris gibt den gütigen alten Mann mit Liebe zum Detail, und letzten Endes wirkt er schon öfters mal wie der Weihnachtsmann persönlich. Seine Weigerung zum Mittel des Mordes zu greifen (historisch verbürgt), seine grundgütige und menschliche Art, das freundschaftliche Verhältnis zum klavierspielenden Nachbarn (historisch verbürgt), die Tierliebe (ebenfalls historisch verbürgt) … Dass der Mann als Chef der Spionageabwehr eines hochindustrialisierten und kriegsvorbereitenden Landes in Wirklichkeit ein eiskalter Hund gewesen sein muss gibt uns die Erfahrung aus Unmengen von US-amerikanischen Agentenfilmen vor, genauso wie unsere Menschenkenntnis uns das sagt. Aber diese Seite verschweigt der Film, denn mit dem netten Onkel von nebenan funktioniert der Film natürlich erheblich besser. Die positive Charakterisierung Canaris‘ fügt dem Film die dramatische Note dazu, und lässt den Zuschauer mitfiebern – Der Versuch, über einen schwedischen Mittelsmann zu Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten zu gelangen, ist beispielsweise atmosphärisch und erzählerisch hochdramatisch, und der Zuschauer empfindet Canaris‘ Verzweiflung über das Scheitern fast wie sein eigenes, persönliches Scheitern. Was natürlich nicht funktionieren würde, wäre die Hauptfigur ein Unsympath …

Das Gegenstück ist dann der dämonische und nationalsozialistisch-bösartige Reinhard Heydrich. Überzeugter Nazi, intrigant, selbstsicher, erfolgreich im Ränkeschmieden, und einfach von Grund auf … BÖSE. In Großbuchstaben. Martin Held kniet sich ungemein in seine Rolle hinein und gibt dieser schablonenhaften Figur eine unglaubliche Tiefe. Seine Bosheit und Verworfenheit, seine, die Abgründe nur mühsam übertünchende Jovialität, ist in jeder Sekunde zu spüren und macht tatsächlich Angst. Ein Antagonist wie er im Buche steht …
Es darf halt auch nicht übersehen werden, dass erst im Zuge der 68er-Nachwehen es in Deutschland überhaupt möglich gewesen wäre, einen Film über Heydrich zu drehen, mit Heydrich als Hauptfigur wohlgemerkt. 1954 ging das noch nicht, der Film wäre in der Versenkung verschwunden. Fritz Langs AUCH HENKER STERBEN von 1943 wurde in Deutschland erst 1958 aufgeführt (über den Erfolg kann ich leider nichts sagen), und Douglas Sirks Propagandafilm HITLER’S MADMAN, ebenfalls von 1943, ist niemals in Deutschland gelaufen. Filme mit richtig bösen Menschen als Protagonisten waren damals halt einfach noch nicht so angesagt, und es gilt nach wie vor: Filme haben Geld zu erwirtschaften, gleich wie der Filmkritiker 70 Jahre später darüber denken mag …

Beide Schauspieler, O.E. Hasse als Canaris und Martin Held als Heydrich, haben tatsächlich eine starke äußere Ähnlichkeit mit den jeweiligen Charakteren, und vor allem Martin Held spielt Heydrich als ginge es um sein Leben. Barbara Rütting als Love Interest, Adrian Hoven als junger Agent Althoff und Wolfgang Preiss als Freund und Kollege Holl können mit ihrer Präsenz dagegenhalten, und mit ihren mehr als verlässlichen Darstellungen viel Sympathie einfahren. Was nach dem Film aber vor allem in Erinnerung bleibt ist die starke Fotografie von Franz Weihmayr. Viel Schatten, der von allen Seiten herandräut und die Figuren bedrängt, wenig Raum, viel Enge. In praktisch allen Szenen, die in geschlossenen Räumen spielen, ist die Decke zu sehen, was eine oft klaustrophobische Atmosphäre erzeugt, und unterbewusst viel Druck aufbaut. Canaris wird oft leicht von unten gefilmt, in schwere Schatten gehüllt und mit nachdenklichem Gesicht. Als vollständiger Kontrast dann dagegen Heydrich, der unbeschwert und frei daherkommt, der im Licht steht und vor weiten und offenen Räumen steht. Hinter Heydrich steht das Reich, hinter Canaris der Tod …

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Erwähnte ich schon, dass CANARIS, der ganz klar als klassischer Noir zu sehen ist, filmisch gesehen erstklassig ist? Woran man erkennen mag, wie druckvoll und stark der Film ist - Die Schauspieler, die Kameraführung, die Dramatik, das alles spielt auf dem Niveau der Hollywood-Filme, die 10 Jahre vorher entstanden sind. Dass das Thema ein schwieriges ist, das ist klar, und die familientaugliche Umsetzung macht die Auseinandersetzung mit dem Stoff nicht einfacher. Das war 1954 nicht anders als 70 Jahre später, und das wird auch in weiteren 70 Jahren sicher noch für Diskussionen sorgen. Aber sehenswert ist CANARIS allemal – Nicht nur filmisch, sondern auch inhaltlich. Denn wie ich aus der eigenen Familie weiß, sind Menschen, die im Dritten Reich Karriere gemacht haben, nicht immer und alle böse Nazis. Und wer dem Mitläufer Versagen vorwirft, der darf sich gerne Paul Verhoevens BLACK BOOK anschauen und sich in die Haut der gefolterten Widerstandskämpfer versetzen. Das ist nämlich auch so etwas, was in CANARIS deutlich gemacht wird: Dass Widerstand in einem Terrorregime nicht mal so einfach geht, sondern sehr viel persönlichen Mut kostet. Und sehr viel Überwindung benötigt wird um die eigene Komfortzone zu verlassen und ein Leben in Angst zu leben …

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(1): https://de.wikipedia.org/wiki/Canaris_(Film)
(2): https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-28956849.html
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Jack Grimaldi
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

23 Schritte zum Abgrund (Henry Hathaway, 1956) 6/10

Der blinde Dramaturg und Schriftsteller Philipp Hannon belauscht in einem Pub zufällig ein Gespräch, in dem es ganz offensichtlich um ein geplantes Verbrechen geht. Klar, dass die Polizei ihm nicht glaubt, und ebenso klar, dass er versucht den Fall auf eigene Faust zu lösen. Doch irgendwann werden die Verbrecher aufmerksam auf den blinden Mann und wollen ihn aus dem Weg räumen …

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Gut gemachter Krimi, der deutlich auf den Spuren von DAS FENSTER ZUM HOF wandelt. Der Hobbydetektiv mit körperlicher Behinderung, ein erahntes Verbrechen zu dem keine vernünftigen Spuren oder gar Beweise existieren, die Bösewichte die versuchen müssen den gefährlichen Mitwisser zu beseitigen, und Vera Miles schaut vor allem in der Schlusssequenz Grace Kelly ausgesprochen ähnlich. Hitchcocks Meisterwerk wird nicht mal ansatzweise erreicht, das dürfte auch kaum möglich sein, aber durch die gut aufspielenden Schauspieler und das recht hohe Tempo macht 23 SCHRITTE ZUM ABGRUND auf jeden Fall viel gute Laune. Die Außenaufnahmen in den Straßen Londons sorgen für viel Stimmung, und nur Van Johnson sorgt als verbitterte und in Selbstmitleid versinkende Hauptfigur für Punktabzug – Der Mann ist einfach nicht sympathisch, so recht mitfiebern mag man mit ihm einfach nicht. Zu aufgesetzt wirkt sein Zynismus, als dass er mit den Underdogs der klassischen Noirs mithalten könnte. Stattdessen ist ganz klar Cecil Parker als Sekretär und Mädchen für alles der heimliche Star des Films. Was der arme Kerl nicht alles auf sich nimmt, nur um seinem Arbeitgeber einen Dienst zu erweisen, da fliegen ihm das Mitleid und die Sympathie der Zuschauer nur so entgegen.

Aber im Großen und Ganzen ein guter und spannender Krimi, der mit seiner etwas altmodischen Art sehr wohl zu unterhalten weiß, und als Inspiration für Terence Youngs WARTE, BIS ES DUNKEL IST auch filmisch interessant ist.

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Der Henker von London (Edwin Zbonek, 1963) 8/10

Inspektor Hillier von Scotland Yard ist am Verzweifeln: Seit Wochen geschehen unheimliche Fememorde in London. Kriminelle, denen nichts nachgewiesen, oder die nicht gefasst werden konnten, werden von einem geheimen Gericht zum Tode verurteilt und umgehend gehenkt. Hillier tappt komplett im Dunklen und möchte eigentlich wieder zurück zu dem Fall, von dem er kürzlich erst abgezogen wurde: Ein Frauenmörder macht London unsicher, und Hilliers Schwester war eines der ersten Opfer. Viel zu viele Probleme für einen überforderten Inspektor. Eine Chance ergibt sich, als Hilliers Verlobte Ann sich als Lockvogel im Fall des Frauenmörders anbietet, und ein fremder Mann tatsächlich Ann anspricht. Und die Polizei dann dummerweise geschickt abhängt wird …

Düstere Trommeln untermalen das Logo der CCC, und führen über zu einer Gruft mit Gerippe und Schädel. Die Kamera schwenkt und erfasst einen gefesselten Mann, der vor einem Tribunal steht, das angezogen ist wie der Ku-Klux-Klan oder mittelalterliche Inquisitoren. Die Richter sitzen an, zu Tischen umfunktionierenden, Särgen, und die Szenerie ist mit Kerzen schauerlich beleuchtet. Im Hintergrund sind graue Steinmauern und Torbögen, auf den Särgen liegen Schädel. Das Urteil lautet Tod durch den Strang, vollstreckt wird sofort. Der gefesselte Mann wird gepackt, in einen Sarg verfrachtet, und dieser durch einen Friedhof auf eine wartende Kutsche gebracht. Und wenn jetzt noch Barbara Steele auftauchen würde, dann wäre die Wonne perfekt …

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Filme sind einfach fürs Kino gemacht, und dieser Beginn muss die Menschen 1963 im Kino restlos begeistert haben. Na gut, Hansjörg Felmy hat wenig Ähnlichkeit mit Barbara Steele, aber Maria Perschy kann ersatzweise für den Filmfan von heute durchaus was hermachen. Trotzdem, ich würde doch zu gerne wissen, wieviele Schauer damals über die Rücken der krimibegeisterten Zuschauer gewandert sind.
OK, danach wird der Film etwas … konventioneller, aber der Irrwitz und die Freude an der Inszenierung schlagen immer wieder durch. Edwin Zbonek nimmt die Bausteine eines herkömmlichen Krimis und setzt sie mit einem ganz leichten, kaum spürbaren Versatz zusammen. Dadurch ergibt sich ein Gesamtbild, das immer ein klein wenig anders zu sein scheint als man es gewohnt ist, ohne dass man genau sagen könnte was denn da nun anders ist. Chris Howland ist dieses Mal gar nicht wirklich komisch, aber wenn er unter dem Galgen steht, sein Lied aus der Bar singt, und die Kapuzenmänner um ihn herum Ringelreigen tanzen, dann weht schon mehr als nur ein Hauch Panzerknacker durch die Szene. Die Kutsche, welche die zum Tode Verurteilten transportiert, scheint direkt aus dem Fundus von Mario Bavas DIE STUNDE, WENN DRACULA KOMMT zu stammen, der Inspektor mault seinen Vorgesetzten an dass er den Fall mit dem Henker nicht mehr will, und alleine die Auflösung und das wunderbar melancholische Schlussbild sind den Film bereits mehr als wert.

Tolle Besetzung, starke Musik, stimmige Settings – In Summe einer der stärksten Vertreter der damaligen Krimiwelle, und unter den Nicht-Rialto-Edgar Wallace-Filmen sicherlich einer der allerbesten, spannendsten und atmosphärischsten einer.

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

The guilt of Janet Ames (Henry Levin, 1947) 6/10

Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kehrten überall auf der Welt Hunderttausende von Soldaten zurück in ihre Heimat. Sie hatten erbittert um ihr Leben gekämpft, unsägliches Grauen erlebt, und dürften nun in den meisten Fällen, wie man heute sagen würde, einen Schuss gehabt haben. Zurück zu Hause wurden sie nicht nur vollkommen unvorbereitet in einen Alltag geworfen, mit dem sie nichts mehr anfangen konnten, sondern sie standen zudem auch noch vor völlig veränderten Bedingungen: Ihre Frauen, die sie als hübsche Heimchen für den Herd und die Kindererziehung zurückgelassen hatten, waren durch die lange Abwesenheit der Männer nun selbständig und vor allem selbstbewusst geworden. Die Frauen wussten mittlerweile was sie wert waren, und waren auch nicht in allen Fällen gewillt, sich diese neue Freiheit wieder nehmen zu lassen, vor allem nicht von Männern, die in den vergangenen Jahren verinnerlicht hatten, dass Gewalt sehr wohl ein Mittel zur Lösung von Problemen sein kann. (Der völlig unterschätzte DAS WUNDER VON BERN schildert diese Situation im Nachkriegsdeutschland sehr überzeugend, dies aber nur nebenbei …)

In dieser Situation setzt THE GUILT OF JANET AMES an. Janets Mann hat sich im Krieg auf eine detonierende Handgranate geworfen, um seinen Kameraden das Leben zu retten. Janet möchte zwei Jahre nach Kriegsende wissen, wer diese anderen Männer waren, und ob sie den Verlust ihres einzig wahren und geliebten Mannes denn überhaupt wert waren. Doch auf dem Weg zum ersten dieser Männer wird sie von einem Auto angefahren und landet im Krankenhaus, wo der Journalist und Säufer Smitty sich um sie kümmert. Denn Smitty hat eine Liste mit den Namen dieser Männer bei Janet gefunden, und der letzte Name auf dieser Liste ist sein eigener. Er möchte dieses Geheimnis gerne lösen, und auch die psychische Blockade Janets, die sich seit dem Unfall einbildet nicht mehr laufen zu können, aufheben. Gemeinsam reisen sie in Gedanken zu den andern Männern der Einheit, damit Janet erfahren kann, wer diese Männer sind, und dass sie den Tod ihres Mannes sehr wohl wert waren. Im Laufe dieser Reise erfährt Janet eine Menge über sich selbst, und sie erkennt ihre eigenen Fehler und Versäumnisse, doch die Wahrheit hinter den Männern ist eine ganz andere, denn auf dieser Reise sieht sie die Wahrheit aus der Sicht von Smitty. Der ja wie gesagt selber auf der Liste steht.

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Ähnlich wie beim Western muss sich nicht hinter jeder Verpackung, auf der das Wort Noir prangt, ein Krimi verbergen. Und gerade der Noir-Film war immer ganz groß darin, aktuelle politische oder psychologische Themen aufzugreifen und in spannende Inhalte zu verpacken. THE GUILT OF JANET AMES ist trotz seiner klar erkennbaren Noir-Elemente weder ein Krimi noch ein Thriller, sondern vielmehr ein psychologisches Drama um zwei Menschen, denen der Krieg ein bitteres und tiefes Trauma eingepflanzt hat. Ein Drama um eine Sinnsuche in einer Zeit die sich gewandelt hat, und in der nicht jeder mit diesen Veränderungen zurecht kommt. Smitty zum Beispiel war früher ein großartiger Journalist, ein rasender Reporter, der weder Teufel noch Chefredakteur fürchtete wenn es um eine gute Story ging. Doch plötzlich begann er zu saufen, und jetzt ist er Stammgast in einer billigen Kneipe und belügt seine Umwelt und sich selbst. Warum? Niemand weiß es. Der Film wird die Wahrheit aufdecken, aber es ist keine schöne Wahrheit, und ich kann mir ohne weiteres vorstellen, dass sehr viele Männer im Publikum des Jahres 1947 sich mit Smitty gut identifizieren konnten, weil sie die gleichen Gespenster mit sich herumschleppten.

Auf der anderen Seite Janet Ames. Die Frau, die wissen will warum ihr Mann starb. Warum er sich für fünf andere Männer opferte, und ob diese fünf anderen Männer seinen Tod, und damit ein gutes Stück auch ihren eigenen Tod, wert waren. Janet Ames, was man übrigens auch wie Janet aims, übersetzt Janets Ziele, interpretieren könnte, Janet Ames also wird im Lauf dieser gedanklichen Reise erkennen, dass sie ihren Mann eingesperrt hatte, und dass Krieg und Tod für ihn möglicherweise eine Erlösung von einem Leben waren, das er so nie erträumt hatte. Janet wollte kein Haus, ihr Mann schon. Janet wollte kein Kind, ihr Mann schon. Ihr Mann wollte sich beruflich verändern, etwas ausprobieren, sie ließ ihn aber nicht. Was passiert also nun, wenn so ein Mann vor der Entscheidung steht, sich selbst zu opfern, um das Leben von fünf Kameraden zu retten? Eine Entscheidung, für die er nur wenige Sekunden Zeit hat …
Janets Ziele waren grundlegend anders als die ihres Angetrauten, und Janet erkennt im Laufe ihrer Reise sehr deutlich, dass es ihre eigenen Ziele waren, die das Leben ihres Mannes und vor allem seinen Tod wesentlich beeinflussten. Die also letzten Endes schuld waren daran, wie sich ihr eigenes Leben verwandelt hat. Die Schuld von Janets Zielen …

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In ruhigen und mit Schatten getränkten Bildern sind zwei großartige Schauspieler zu sehen, die mit großer Selbstverständlichkeit in die Rollen einer kranken Frau und eines kranken Mannes schlüpfen. Die zusammen auf eine Reise durch den Geist gehen, um die Wahrheiten und die Defizite ebendieses Geistes aufzudecken. Um herauszubekommen, ob es eine objektive Wahrheit geben könnte, oder ob Wahrheit nicht vielleicht doch immer subjektiv ist.
THE GUILT OF JANET AMES mag kein Highlight der schwarzen Serie Hollywoods sein, aber er ist ein spannender und filmisch faszinierender Schauspielerfilm zum Rundumwohlfühlen. Große Empfehlung für alle die gute Geschichten mit erstklassigen Bildern mögen!

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Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Beitrag von Maulwurf »

Art of Revenge – Mein Körper gehört mir (Natalia Leite, 2017) 7/10

Eine Frau wird vergewaltigt, und hinterher heißt es, dass sie es ja nicht anders wollte. Dass sie eine Nutte sei, die es sowieso mit jedem treibe. Dass der Sex einvernehmlich war. Und alle glauben dem Mann. Nichts Neues in unserer Zeit, was aber den Umstand an sich nicht besser macht: Ein Mensch wird Opfer eines Verbrechens, und alle schießen sich auf das Opfer ein, während der Verbrecher ungeschoren davon kommt, gar in bestimmten Kreisen möglicherweise noch zum Helden stilisiert wird, weil er es der Schlampe ja mal ordentlich besorgt hat.
Der Kunststudentin Noelle passiert genau dieses, sie wird auf einer Party vergewaltigt, und als sie von dem Typen Tage später verlangt dass er sich bei ihr entschuldigt, fragt er bloß blöde „Für was? Dir hat es doch auch gefallen.“ Das Ende dieses Gesprächs ist allerdings nicht so, wie der Typ es sich vorgestellt hat, liegt er doch tot am Boden. Nach dem ersten Schock stellt Noelle fest, dass sie nicht das einzige Vergewaltigungsopfer ist, dem nicht geglaubt wird. Und dass andere Frauen, namentlich eine Selbsthilfegruppe, eher auf Kosmetiktipps und Briefe-an-den-Kongress-schreiben glaubt. Noelle macht das, was ihr der gesunde Menschenverstand vorgibt: Sie macht die Täter zu Opfern. Zu toten Opfern …

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In den allermeisten Fällen sind Rape and Revenge-Filme von männlichen Regisseuren inszeniert und bedienen entsprechend auch die männlichen Rachephantasien: Die Frau zieht möglichst knapp bekleidet los und legt möglichst blutig Männer um. In der Realität sieht das ein wenig anders aus, doch dazu später mehr.
Natalia Leite hat als Frau da prinzipiell erstmal eine andere Sicht. Eine, die der weiblichen Seele und ihrer Sensibilität entsprechend mehr Raum gibt. Die Einsamkeit des Opfers, die Bloßstellung, die Scham, und der bittere Schlag der Erkenntnis, dass es anderen Frauen auch so geht, diesen Momenten gibt Leite viel Raum, und die in jeder Beziehung umwerfende Francesca Eastwood kann diesen Raum für die Darstellung der vielen überbordenden Gefühle auch großartig nutzen. Diese Männer-sind-Schweine-Haltung kann nachvollzogen werden, genauso wie die Extremisierung Noelles glaubhaft und Stück für Stück nachvollziehbar ist.

Aber leider wird Francesca Eastwood trotzdem sexy angezogen wenn sie auf Mordtour geht, und leider gewinnt am Ende die männliche Sicht (des Produzenten?), dass Verbrechen nunmal gesühnt werden müssen. Sehr schade, denn gerade ein Ende, welches vergewaltigten Frauen mehr Stärke und mehr Selbstbewusstsein gegeben hätte, wäre stimmiger gewesen und hätte eben dieser anderen, dieser weiblichen Sicht auf das Thema Rape and Revenge, einen runden Abschluss gegeben.
Denn nehmen wir einmal an, eine Frau wird vergewaltigt, sinnt auf Rache und will ihrem Peiniger Übles antun. Wird sie sich in ein knappes Tanktop werfen, ultrakurze Shorts anziehen und mit dem Vorschlaghammer losziehen, um dann mit einer Schweiß- und Schmutzschicht überzogen am Ende dazustehen wie ein feuchter Traum eines Gonzo-Fetischisten? Wohl eher nicht, die "Arbeitskleidung" des Rachefeldzuges wird sicher eher unauffälliger sein. Doch diese Accessoires bedienen zuvorderst männliche Fantasien, die ganz klar aus der BDSM-Ecke kommen, zumindest was die Optik angeht. Ich glaube nicht, dass die weibliche Rachefantasie diesbezüglich mit erotischen Kleidungsstücken konform geht. Und ART OF REVENGE, so stark er auch ist, bietet hier eben leider auch wieder diese männliche Komponente, Francesca Eastwood in Tanktop und Shorts zu zeigen. Ich schäme mich ja an der Stelle schon fast, aber sie macht in diesen Sachen echt was her, und die wunderschöne Frau wird so zusätzlich auch noch zu einem Fetischobjekt. Was aber der feministischen Grundtendenz des Films leider ein wenig entgegen läuft.

So bleibt eine äußerst beeindruckende Hauptdarstellerin in Erinnerung, genauso wie eine starke und oft hypnotische Inszenierung, die vor allem die stillen Momente betont, und über die schönen Bilder und den eindringlichen Soundtrack das Seelenleben einer gequälten Frau erst so richtig sichtbar macht. Ein wenig mehr Konsequenz (bzw. möglicherweise ein Directors Cut) wäre hier ausgesprochen wünschenswert! Aber bis dahin ist ART OF REVENGE ein Rape and Revenge-Film der ein klein wenig anderen Art, einer sensibleren Art, und auf jeden Fall eine Sichtung wert.

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Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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