bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Hitlers Hollywood

„Das Nazikino war theatralisch, illusionistisch, es war monumental, es wollte um jeden Preis groß sein. Es war Gefühl und Spektakel, etwas fürs Herz und etwas fürs Auge. Es war fast immer ambivalent.“

Der 1968 geborene deutsche Dokumentarfilmer Rüdiger Suchsland hatte im Jahre 2014 die beiden Filme „Caligari – Wie der Horror ins Kino kam“ und „Von Caligari zu Hitler – Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen“ veröffentlicht. Sein nächster Schritt mutet daher konsequent an: „Hitlers Hollywood”, ein 100-minütiger Film über das NS-Kino, wagt anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der UFA einen interessierten und differenzierten Blick auf eine Epoche, in der über 1.000 deutsche Filme entstanden und Menschenmassen ins Kino drängten wie nie zuvor und seitdem nie wieder – trotz oder gerade weil Reichspropagandaminister Goebbels das Kino als Propagandainstrument missbrauchte, um ein menschenverachtendes Weltbild zu legitimieren und zu zementieren, um Feindbilder aufzubauen und um Durchhalteparolen auszusenden, aber auch um Ablenkung und Zerstreuung in kriegserschütterten Zeiten zu bieten.

Suchsland beginnt seinen Film mit einem Ausschnitt aus „Der Mann, der Sherlock Holmes war“ (1937) und führt fortan persönlich als Voice-over-Sprecher durch den Film, der den U-Boot-Kriegsfilm „Morgenrot“ (1933) als Vorreiter des NS-Films definiert. Suchsland stellt Goebbels‘ entscheidende Rolle innerhalb jener Epoche und seinen immensen Einfluss auf Filmproduktion heraus, setzt sich mit Siegfried Kracauers Filmthesen aus dem Exil auseinander und attestiert zahlreichen NS-Filmen aus den ernsten Genres Ironiefreiheit, verkrampfte Fröhlichkeit und eine fast schon nekrophile Todessehnsucht als gemeinsame Merkmale. Letzteres ist einer der stärksten Eindrücke, die ich aus dieser Dokumentation mitgenommen habe, lassen sich die genannten Charakteristika doch nicht ausschließlich aufs NS-Kino, sondern auf weite Teile mit autoritären Ideologien einhergehender Kultur projizieren.

An klassischem Propagandakino werden Filme wie „Hitlerjunge Quex“ (1933; Verführung der Jugend), „Stukas“ (1941; Opferbereitschaft und Kriegsakzeptanz), „Jud Süß“/„Der ewige Jude“ (beide 1940; Antisemitismus), „Kolberg“ (1945; Durchhalteparolen angesichts nahender Befreiung, verbrannte Erde und Volkssturm) und die Riefenstahl-Ästhetisierungen (Körperkult, Überlegenheit) genannt und auszugsweise gezeigt sowie kommentiert und eingeordnet. Beispiele wie „Paracelsus“ (1943) von G.W. Pabst repräsentieren Filmschaffende, die sich mit den Bedingungen arrangieren mussten, Helmut Käutner brachte es sogar trotz antifaschistischer Haltung zu einem Film wie „Große Freiheit Nr. 7“ mit dem ebenfalls unverdächtigen Hans Albers. Komödien wie „Eine Nacht im Mai“ (1938) werden ebenso berücksichtigt und mit kurzen Einblicken bedacht wie die von Suchsland kritischer betrachteten Revuefilme nach Hollywood-Vorbild inklusive dem damaligen Star Marika Rökk mit ihren exzessiven Pirouetten; auch Heinz Rühmanns Infantilismus wird angesprochen. Die wichtigsten Gattungen blieben jedoch Historienfilme und Melodramen. Auffällig sei, wie sich das Kino nach Kriegsbeginn zunehmend an Frauen als Zielgruppe gerichtet habe, weil immer weniger Männer ein Kino hätten besuchen können…

„Hitlers Hollywood“ geht auf verschiedene Schauspielerinnen und Schauspieler ein (Zarah Leander, Ilse Werner, Marianne Hoppe…), aber auf einen Regisseur ganz besonders: Veit Harlan („Jud Süß“, „Opfergang“) und seine „Reichswasserleiche“, die schwedische Schauspielerin und Harlands Ehefrau Kristine Söderbaum. Gustaf Gründgens‘ ambivalente Beziehung zum NS-Kino wird angerissen („Tanz auf dem Vulkan“, 1938, als Subversion), auf den halbdokumentarische Sportfilm „Das große Spiel“ (1942) eingegangen und ein neuer Realismus, der in den 1940er Einzug erhalten habe, festgestellt. Bei Wolfgang Liebeneiners „Großstadtmelodie“ (1943) habe es sich gar um einen beinahe feministischen Film gehandelt. „Münchhausen“ (1943) feierte einen exzessiven, hysterischen Eskapismus, „Opfergang“ (1944) tat es ihm gleich, wenn auch auf ganz andere Weise.

Ähnlich wie Münchhausen auf der Kanonenkugel ist dieser Dokumentarfilm ein wilder Ritt durch zwölf Jahre NS-Kino bzw. durch Propagandafilme auf der einen und mal mehr, mal weniger NS-geprägte Filme auf der anderen Seite. Um möglichst viele filmanalytische Informationen unterzubringen legt Suchsland nach eher gemächlichem Beginn ein hohes Tempo vor, wodurch es ihm tatsächlich gelingt, neben Kracauer auch Susan Sontag und Hannah Arendt zu zitieren sowie eine kurze Geschichte der UFA einzubauen. „Hitlers Hollywood“ ist damit eine hochinteressante Bestandsaufnahme, die die häufig plumpen, aber durchaus auch subtileren, wirksamen Propagandamechanismen aufdeckt und auseinandernimmt und mit dem aller Kontrolle und Repression zum Trotz breiten Filmspektrum der Epoche auch zu faszinieren versteht. Neben Einblicken in Goebbels‘ Versuche, Hollywood zu kopieren, um es für Manipulationszwecke zu instrumentalisieren, schult Suchslands Film das Gespür für Filmästhetik, dafür, wie sich der Zeitgeist einer Epoche im Kino widerspiegelt und wie schmal der Grat zwischen willfähriger Mittäterschaft, Opportunismus, Arrangement und innerer Emigration angesichts eines mörderischen totalitären Regimes sein kann. „Hitlers Hollywood“ dürfte eine gute Grundlage für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem NS-Kino bzw. seinen spezifischen Erscheinungen bilden.

Im leider viel zu schnell abgespulten Abspann ist nachzulesen, was aus diversen Filmschaffenden der NS-Zeit nach der Befreiung wurde. Spätestens hier wird deutlich, dass es keinen klaren Schnitt nach Kriegsende gegeben hat. Am meisten gewonnen wäre wohl, würden diejenigen, die sich diesen Film ansehen, auch Rückschlüsse auf Propaganda in zeitgenössischeren Filmproduktionen ziehen und mit einem geschärften kritischen Blick die unterschiedlichen Medien betrachten – ganz gleich, ob sie Wissen zu vermitteln oder lediglich zu unterhalten vorgeben.
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Kung Fury

Nach der ‘70er-Jahre-Rennaissance im Kino, die insbesondere auf Genrefilme rekurrierte (Stichwort Grindhouse), war die ‘80er-Retro-Welle der nächste logische Schritt. In bestimmten Musikbereichen (Heavy Metal, Synthwave, AOR etc.) fand diese schon länger statt, das Kino schien noch etwas hinterherzuhinken. Dabei scheint es seit den ‘80er-Jahren zu einem popkulturellen Phänomen geworden zu sein, ungefähr alle 30 Jahre um eben diesen Zeitraum nostalgisch oder schlicht interessiert zurückzublicken und in diesem Zuge die Vergangenheit nicht nur aufzuarbeiten, sondern in ihren (vermeintlichen) Vorzügen wiederzuentdecken. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Erwachsene, die sich an ihre eigene Jugend erinnern und diese künstlerisch wiederaufgreifen, um damit ihre gleichaltrige Zielgruppe zu bedienen. Nostalgie, Sentimentalität und Verklärung sowie Eskapismus aus einer als unwirtlich und anstrengend empfundenen Erwachsenenwelt können ebenso Beweggründe sein wie Archäologie innerhalb der eigenen Historie, schlichter Spaß an der Retrospektive oder auch das Bedürfnis, sich jüngeren Generationen verständlich zu machen und ihnen einen Eindruck vom vergangenen Zeitgeist zu vermitteln – und eventuell gar Teile davon als attraktive Alternative zur populär- oder auch subkulturellen Gegenwart anzubieten, womit sich die Zielgruppe entsprechend erweitert. Die in den ‘80ern entstandenen Stilelemente der Postmoderne sind dafür hilfreiche Werkzeuge.

Der Film „23 – Nichts ist so, wie es scheint“ spielte zwar bereits 1998 in den ‘80ern, war jedoch in erster Linie eine Biografie, was wohl auch auf „Joy – Alles außer gewöhnlich“ aus dem Jahre 2015 zutrifft. Die Komödie „Eine Hochzeit zum Verlieben“ (1998) war zu früh dran, um einen Nostalgietrend auszulösen, was wohl auch auf „The Last Days of Disco“ aus demselben Jahr zutrifft, einen Coming-of-Age-Film, der um einen New Yorker Nachtclub in den 1980ern angesiedelt wurde. Der deutsch-österreichische „Sie haben Knut“ aus dem Jahre 2003 spielte lediglich in einem bestimmten Milieu (Studierende), Filme wie „Good Bye Lenin“, „Sonnenallee“ oder „Neue Vahr Süd“ sind DDR-spezifisch. „American Psycho“ (2000) ist eine Literaturverfilmung, die die ‘80er ganz und gar nicht zu Wohlfühlzwecken rekapituliert. Ein ähnlicher Hort des Schreckens sollen sie in „The Informers“ (2008) sein. Und „Watchmen“ ist die Verfilmung eines in den ‘80ern erschienenen Comics. Die US-SitCom-Serie „Die Goldbergs“ jedoch spielt seit 2013 in den 1980ern, schaffte es aber, komplett unter meinem Radar zu laufen. Die Serien „The Americans“ (ab 2013) und „Deutschland 83“ (2015) sind mit ihren Spionage-Topoi sehr Kalter-Krieg-spezifisch und „A Most Violent Year“ (2014) ist ein todernster Thriller um Ölgeschäfte. „This Is England“ – Film (2006) und Serien (2020-2015) – wiederum sind subkulturspezifisch.

Kaum eine der genannten, inhaltlich in den ‘80ern angesiedelten Produktionen stellt die Populärkultur der 1980er in den Vordergrund bzw. ließe sich in erster Linie als Hommage ans Jahrzehnt begreifen. Anders die weihnachtliche Hommage „Xmas Tale“, ein spanischer TV-Horrorfilm aus dem Jahre 2005, und die zwar reichlich alberne, aber kurzweilige und gar nicht so verkehrte US-Komödie „Hot Tub - Der Whirlpool... ist 'ne verdammte Zeitmaschine!“, der es jedoch im Jahre 2010 auch nicht gelang, einen Retrotrend loszutreten. Ähnlich ist es ein Jahr später der nostalgisch-romantischen, nach Eddie Moneys Superhit benannten Komödie „Take Me Home Tonight“ ergangen. Ti West griff im 2009 erschienenen „The House of the Devil“ mittlerweile häufig als angenehm altmodisch empfundene Stilmittel von Slashern und Haunted-House-Filmen der ‘70er und ‘80er auf. „Rock of Ages“ ist eine Rock-Musical-Verfilmung aus dem Jahre 2012, die das ‘80er-Musikgeschäft komödiantisch aufgreift, dabei aber ebenso mainstreamig-steril sein soll wie Mutt-Lange-Musikproduktionen der zweiten Achtzigerhälfte. Die kleine Mystery-Thriller-Produktion „Haunter – Jenseits des Todes“ integriert im Jahre 2013 die ‘80er geschmackvoll in sein Zeitschleifensujet und gibt damit einen weiteren Vorgeschmack auf den Retro-Trend. Erwähnen ließen sich zudem noch die „The Expendables“-Reihe (2010-2014), in der sich ‘80er-Action-Kino-Protagonisten in Selbstironie zu üben versuchen, oder auch die Mainstream-Videospiel-Hommage „Pixels“ (2015). (An dieser Stelle sei auch noch auf „Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt“ verwiesen, eine Comic-Verfilmung in Videospiel-Ästhetik, die möglicherweise inspirativen Einfluss auf den eigentlichen Gegenstand dieser Filmbesprechung ausübte.)

Das ‘80er-Retro-Kino so richtig in Gang gesetzt zu haben scheint mir jedoch ein nur wenige Woche nach „Pixels“ auf YouTube veröffentlichter, rund halbstündiger Kurzfilm namens „Kung Fury“, für den der schwedische Werbefilmer David Sandberg per Crowdfunding einige hunderttausend Dollar zusammengesammelt hatte, nachdem er die Internet-Community mit einem vielversprechenden Trailer angefixt hatte. Sandberg trat als Produzent, Autor, Regisseur und Hauptdarsteller in Erscheinung und schuf zusammen mit Laiendarsteller(inne)n eine ultimative Mischung aus Hommage an und Persiflage auf das ‘80er-Jahre-Entertainment.

Miami, Florida, USA im Jahre 1985: Cop Kung Fury (David Sandberg), seit einem Kobrabiss und Blitzeinschlag mit Superkräften ausgestattet, bekommt es mit einem Videospielautomaten zu tun, der in einen amoklaufenden Kampfroboter mutierte. Furys Chef (Per-Henrik Arvidius) kritisiert ihn jedoch harsch für den angerichteten Kollateralschaden in Höhe von 50 Millionen Dollar und drückt ihm einen neuen Partner, den Sauriermenschen Triceracop (Erik Hörnqvist), aufs Auge. Fury jedoch hat Angst, wieder einen Partner zu verlieren und quittiert seinen Job. Doch als Kung-Fu-Meister Adolf Hitler alias Kung Führer (Jorma Taccone, „Vorbilder?!“) die Polizeiwache über ein Telefon angreift, steht für Fury fest: Er muss den Wahnsinnigen stoppen! Er konsultiert den Hacker Hackerman (Leopold Nilsson), mit dessen Hilfe er in die Vergangenheit reisen will, um Hitler ein Schnippchen zu schlagen. Versehentlich landet er jedoch in der Wikinger-Ära, wo er nach einigen schweren Kämpfen mit Donnergott Thors (Andreas Cahling, „Too Big For The World“) Hilfe endlich ins Dritte Reich teleportiert wird. Dort kommt es zur direkten Konfrontation mit dem Kung Führer…

So weit, so plausibel. Sandberg und sein Team erzählen diese Geschichte mit zahlreichen Action- und Kampfsport-Einlagen sowie einem über die Splatter-Effekte weit hinausgehenden, kunterbunten Spezialeffektfeuerwerk in der Ästhetik eines beanspruchten VHS-Bands inklusive typischer Bildstörungen. Der Vorspann setzt erst nach einer den Prolog bildendenden Rückblende ein, fortan geben sich Laser-Dinos, Wikinger(innen), nordische Gottheiten und Nazis die Klinke in die Hand. Deren Gequatsche klingt nach skandinavischem Kauderwelsch, die Gespräche mit Hackerman nach Pseudo-Techtalk, Kung Furys süffisante Einzeiler nach der selbstgefälligen Abgeklärtheit US-amerikanischer Ein-Mann-Action-Armeen. Die Kampfszenen sind Beat-‘em-up-Spielen nachempfunden, eine Zeichentricksequenz erinnert schwer an Filmation & Co. und jede Menge ‘80er-Kinohits werden mal mehr, mal weniger offensichtlich zitiert. Überhaupt jagt hier ein popkulturelles Zitat das nächste, zu denen auch die Neon-Optik und der Synthesizer-Soundtrack zählen; lediglich die computergenerierten Spezialeffekte wirken anachronistisch. Auf einen typischen Epilog folgt niemand Geringerer als David „Looking For Freedom“ Hasselhoff, der den (auf Vinyl-Single ausgekoppelten!) Abspannsong „True Survivor“ inbrünstig schmettert – in seiner Mischung aus Persiflage auf und Hommage an keyboardbetonten ‘80er-Poprock ideal zum Film passend.

In einem wahren Kreativitäts-Overkill komprimierten Sandberg und sein Team fast alles, was in den ‘80ern Spaß gemacht hat, in eine halbe Stunde; vielleicht etwas actionlastig, dafür mit einem liebevollen Blick für Details – auf die man sich innerhalb nur einer Sichtung aufgrund der zelebrierten Reizüberflutung kaum konzentrieren kann. Das Filmplakat entspricht der Airbrush-Ästhetik von ‘80er-Filmplakaten, Plattencovern und Video-/Computerspielkartons und mit „Kung Fury: Street Rage“ wurde sogar ein C64-Spiel zum Film veröffentlicht. „Kung Fury“ ist ein schönes Geschenk an die Generation VHS, die sich in Ermangelung grafikrealistischer Videospiele und eines Web 2.0 nach Feierabend und am Wochenende regalweise Schundfilme drückte, und zugleich ein derart übertriebenes Potpourri aus ‘80er-Unterhaltungscharakteristika, dass sich aus ihm zahlreiche Ideen für abendfüllende Retro-Kino-Produktionen ableiten ließen. „Turbo Kid“, die Serie „Stranger Things“, „Summer of 84“, aber auch hochbudgetierte Großproduktionen wie die „Es“-Neuverfilmung, das „Transformers“-Spin-off „Bumblebee“, das DC-Spin-off „Joker“ oder jüngst „Wonder Woman 1984“ befeuerten den ‘80er-Retro-Trend nach Kräften, wobei viele dieser mit Sicherheit unabhängig von „Kung Fury“ entstanden sind. Gerade in seiner Kompakt- und Collagenhaftigkeit hält „Kung Fury“ aber bis heute eine Sonderstellung.
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Opfergang

Something Aels

„Tod, Tod, Tod – und draußen scheint die Sonne!“

Der deutsche Regisseur Veit Harlan war Reichspropagandaminister Goebbels‘ wichtigster Filmemacher, da er es perfekt verstand, dessen Vorstellungen von manipulativen Propagandafilmen publikumswirksam umzusetzen. Auf dem Kerbholz hat Harlan heutige Vorbehaltsfilme wie das antisemitische Machwerk „Jud Süß“ oder den angesichts der nahenden Befreiung Durchhaltewillen, Opferbereitschaft und Politik der verbrannten Erde propagierenden „Kolberg“, aber auch ein vermeintlich harmloser Film wie „Die goldene Stadt“ transportiert Teile der NS-Ideologie. Harlan stellte seine Filmkunst bereitwillig in den Dienst der Nazis und machte sich somit mitverantwortlich für deren Gräueltaten. Das 1942/’43 parallel zu Harlans „Immensee“ in Agfacolor gedrehte, aber erst im Dezember 1944 veröffentlichte Melodram „Opfergang“, eine freie Adaption der gleichnamigen Novelle aus dem Jahre 1912 des späteren opportunistischen Nazi-Schriftstellers Rudolf G. Binding, ist jedoch überraschend ideologiefrei und in seiner Ästhetik zumindest partiell recht weit vom üblichen, von Harlan mitgeprägten NS-Kintopp entfernt, womit es, wie man liest, auch nicht sonderlich auf Goebbels‘ Gegenliebe stieß.

„Ich will leben, ich will nicht vegetieren!“

Albrecht Froben (Carl Raddatz, „Stukas“) kehrt nach drei Jahren von seinen Reisen für den Deutschen Kolonialbund in seine Heimat Hamburg zurück und verlobt sich recht bald mit Octavia (Irene von Meyendorff, „Die letzten Vier von Santa Cruz“), einer vermögenden Senatorentochter, die zusammen mit ihren Eltern in einer Villa direkt an einem pittoresken See lebt. Von Octavias Familie und deren Wochenendbeschäftigungen ist Albrecht jedoch bald angeödet: Das Wohnzimmer verdunkeln, Chopin auf dem Klavier spielen und Nietzsche rezitieren, während draußen die Sonne lacht. Als Albrecht eines Tages allein auf dem See rudert, begegnet er Aelskling (Schwedisch für „Liebling“), genannt Aels (Kristina Söderbaum, „Jud Süß“), aus der Nachbarschaft, einer freizügigen, frechen und attraktiven jungen Blondine skandinavischer Abstammung, die sich nacktbadend an sein Boot hängt und ihn in einen Flirt verwickelt. Bald verbringen die beiden regelmäßig Zeit miteinander und verlieben sich ineinander. Problematisch daran ist jedoch nicht nur Albrechts bevorstehende Ehe mit Octavia, sondern vor allem der Umstand, dass Aels an einer nicht näher definierten unheilbaren Krankheit leidet, aufgrund derer sie bereits ihre kleine Tochter in eine Pflegestelle geben musste und sich eigentlich schonen sollte. Ihre Lebens- und Abenteuerlust steht im Kontrast zu den Empfehlungen ihres Arztes, doch sie möchte lieber die Zeit, die ihr bleibt, in vollen Zügen genießen. Nach ihrer Heirat gehen Albrecht und Octavia nach Düsseldorf, wo sich Octavia jedoch unwohl fühlt, weshalb man zurück in die Elbmetropole zieht. Notgedrungen findet sich Octavia mit ihrer Rolle in der Dreiecksbeziehung ab und opfert sich sogar auf, die bald im Sterben liegende Aels zu Pferde vom Torbogen ihrer Villa aus als Albrecht verkleidet zu grüßen, als dieser mit einer Typhusinfektion ans Bett gefesselt kämpft. Aels stirbt dadurch glücklich in der Gewissheit der Zuneigung Albrechts, während dieser seine Ehefrau mit neuen Augen zu sehen beginnt.

Harlans „Opfergang“ ist eine mit dem ganz dicken Pinsel aufgetragene düsterromantische und zugleich kitschige Liebesmär, die in der Welt wohlhabenden Oberschicht spielt, in der es nicht nur keine Nazis und keinen Krieg, sondern auch keine Arbeit zu geben scheint. Die Geschichte würde sich bestimmt auch gut in einem auf eine weibliche Zielgruppe zugeschnittenen Groschenroman machen, derart realitätsentrückt und auf zwischenmenschlichen, ergreifenden Herzschmerz fokussiert ist sie. Zum Paralleluniversum, in dem sie offenbar angesiedelt ist, passen auch die Drehorte, die Hamburg und Düsseldorf zu sein vorgeben, zu denen neben der Hansestadt jedoch auch Berlin, Potsdam, Eutin, Rügen und Hiddensee zählen. So finden sich Aelskling (nicht zu verwechseln mit Else Kling) und Albrecht ohne Weiteres an prächtigen Ostseestränden wieder, die sich in Harlands Welt unweit Hamburgs zu befinden scheinen. Interessanter ist jedoch die für die damaligen Umstände relativ unverhohlene erotische Komponente, die die „Reichswasserleiche“ genannte (ihre Rollen überlebten selten einen Harland-Film) Lebensgefährtin Harlands in ihre Rolle als Aels einbringen durfte: Ob nacktbadend oder nur in weißer Unterwäsche bogenschießend auf ihrem Pferd am Strand reitend, sie bildet einen eindeutig auf Körperlichkeit und Lebendigkeit ausgerichteten Kontrast zur zugeknöpften, unterkühlten Octavia.

Fast schon surreal mutet die Düsseldorfer Maskenballsequenz an, in der eine zum riesigen Clownsmund geformte Rutsche maskierte Feierlustige ausspuckt und Albrecht eigenartige, Trugbildern ähnliche Begegnungen macht. So wenig Octavia die dortige Atmosphäre auch behagt, so sehr muss man konstatieren, dass Harlan hier Bilder erschuf, die ihrer Zeit voraus schienen bzw. die man, wüsste man’s nicht besser, nicht dem NS-Kino zugeordnet hätte – und innerhalb dieses schweren Melodrams auch wie ein drogeninduzierter Fremdkörper wirken. Doch damit nicht genug: Als es mit Aels zu Ende geht, treten Albrecht und sie telepathisch miteinander in Kontakt; Harlan visualisiert sein tränendrüsendrückendes Finale in transzendentalen, orgiastischen Fieberträumen aus Überblendeffekten. Tatsächlich lässt sich darin die nekrophile Todessehnsucht des NS-Kinos wiedererkennen, wenn auch auf eine derart entfremdete Weise, dass Goebbels‘ kritische Haltung diesem Film gegenüber kaum verwunderlich ist.

Die eigenartige Mischung aus melodramatischem Fatalismus und Happy End, die den Ausgang dieser Romanze prägt, rückt die bisher lediglich eine untergeordnete Rolle eingenommen habende Figur Octavias in den Vordergrund, die ihre Eifersucht schnell in den Griff bekommen und ihrem Mann – weshalb auch immer – alles durchgehen lassen hat, um ihn nach Aels‘ Tod vorbehaltlos weiter zu unterstützen und treu an seiner Seite zu bleiben. Einerseits siegt so das sicherlich NS-genehme Frauenbild gegenüber Abenteuer und Sinnlichkeit (in der literarischen Vorlage stirbt Albrecht statt Aels, Überlieferungen zufolge bestand Goebbels auf diese Modifikation), doch wird Aels und das, was sie verkörpert, kaum diskreditiert, sondern im Gegenteil offen mit ihr und ihrem Lebens- (und Sterbens-)entwurf sympathisiert. Die kaum ins NS-Kino passenden Besonderheiten dieses Films sind dabei nicht etwa unter dem permanenten Orchesterkleister respektive den von der Musikspur aufjaulenden Frauenstimmen oder den übertriebenen Gefühlsduseleien, den an Heimatfilme gemahnenden Landschaftsbildern und den Großaufnahmen Söderbaums puppenhaften Antlitz‘ mühsam zu bergen, sondern dominieren zumindest größere Teile des Eindrucks, den „Opfergang“ hinterlässt.

Das macht diesen Film Harlans zu einer zwar überkonstruierten, morbiden Kitschromanze, die aufgrund ihrer genannten bemerkenswerten Ansätze im Zusammenspiel mit der bunten Agfacolor-Farbenwelt und den nicht von der Hand zu weisenden schauspielerischen Leistungen der ausstrahlungsintensiven Hauptdarsteller(innen) jedoch nicht ohne Reiz ist und insbesondere vor ihrem historischen Hintergrund Widersprüche offenbart und Fragen aufwirft. Widersprüche zogen sich nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus offenbar auch durch Harlans weiteres Leben und Schaffen, aber das ist eine andere Geschichte.
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Tatort: Tote Taube in der Beethovenstraße

„Ich pfeif‘ ,Die Brücke am Kwai‘!“

Für den sechsten Teil innerhalb der „Tatort“-Reihe um den Kölner Zollinspektor Kressin (Sieghardt Rupp) wagte der WDR ein besonderes Experiment: Erstmals engagierte man mit dem US-Amerikaner Samuel Fuller („Der nackte Kuß“) einen ausländischen Regisseur. Fuller, der seine Drehbücher selbst zu schreiben pflegte und dies auch hier tat, hatte sich einen Namen als Ausnahmeregisseur gemacht, zu dem u.a. die Vertreter der Nouvelle Vague ehrfürchtig hinaufblickten. Die am 7. Januar 1973 erstausgestrahlte Episode wurde bis aufs Rupps Textzeilen komplett auf Englisch gedreht und anschließend auf Deutsch synchronisiert. Neben der deutschen TV-Ausstrahlung wurde auch eine leicht erweiterte Fassung unter dem Titel „Dead Pigeon On Beethoven Street“ in die US-Kinos gebracht. Das deutsche „Tatort“-Publikum konnte mit dem Ergebnis nicht viel anfangen und sah sich in seinem Sehgewohnheiten empfindlich gestört.

„Reden Sie vernünftig!“

Mitten in der Bonner Beethovenstraße wurde der amerikanische Privatdetektiv Johnson erschossen. Der Täter Charlie Umlaut (Eric P. Caspar, „Aurelio und Co.“) konnte schnell gefasst werden und befindet sich unter Bewachung im Krankenhaus. Da man zunächst glaubt, es mit internationalem Drogenschmuggel zu tun zu haben, wird Zollinspektor Kressin auf den Fall angesetzt. Dieser lernt im Leichenschauhaus Johnsons Partner, den US-Privatdetektiv Sandy (Glenn Corbett, „Mörderisch“) kennen, der Kressin einweiht: Er war mit seinem toten Partner einem internationalen Erpresserring auf der Spur, der Politiker – unter anderem ihren Auftraggeber – betäubt, kompromittierende Fotos von ihnen zusammen mit attraktiven jungen Damen schießt und mittels dieser um hohe Geldsummen erpresst. Einer Befragung kann sich der Mörder jedoch durch Flucht aus dem Krankenhaus entziehen, während derer er Kressin anschießt und damit außer Gefecht setzt. Sandy kommt der sich für die Erpresserfotos hergebenden Christa (Christa Lang, „Is’ was, Doc?“) jedoch auch ohne Kressin auf die Spur. Er benutzt sie, um als vermeintlicher Konkurrent Kontakt zu den Hintermännern zu bekommen. Doch verliebt er sich auch in Christa – und sie sich in ihn…

„Ich schnapp‘ gleich über!“

Den initialen Mord enthält Fuller seinem Publikum vor und zeigt lediglich Charlie Umlaut (der Versuch einer „deutschen“ Namensgebung?), wie er dem Toten etwas entwendet. Die Verfolgungsjagd mit der Polizei ist kurz, recht unspektakulär wird Charlie angeschossen und verhaftet. Wesentlich aufsehenerregender und turbulenter ist Charlies Flucht aus dem Krankenhaus, in deren Verlauf er nicht davor zurückschreckt, an der Säuglingsstation herumzuballern und eben auch auf Kressin zu schießen. Dies ist nur der Auftakt für mehrere „Entweihungen“ bzw. Umdeutungen von Schauplätzen, die sich durch diesen „Tatort“ ziehen: Im Hotel Petersberg beispielsweise, wo sonst offizielle Staatsempfänge stattfanden bzw. deren Gäste untergebracht waren, treiben Sandy und Christa ein schmutziges Spiel mit einem afrikanischen Politiker. Am eindringlichsten ist sicherlich die Sequenz ausgefallen, in der Sandy ausgerechnet mitten in einem Karnevalsumzug den als Clown verkleideten Umlaut eigenhändig erwürgt – eine vom Wahnsinn geprägte Szene. Kressin hingegen spielt seit seiner Schussverletzung keinerlei Rolle mehr in diesem Fall, weshalb konsequenterweise auch auf das sonst obligatorische „Kressin und…“ im Titel verzichtet wurde.

„Die Amerikaner sind ein gewalttätiges Volk!“

Um sich zunächst einmal an Christas Fersen zu heften, folgt Sandy ihr ins Kino, wo er sich den US-Western „Rio Bravo“ ansieht, seiner Freude über den Streifen Ausdruck verleiht und John Wayne anfeuert – eine Szene, die wie eine Parodie auf US-Amerikaner wirkt und den bulligen, schnauzbärtigen Sandy als einfältiger charakterisiert, als er eigentlich ist. Denn der wahrscheinlich beste Kniff der Handlung ist der gewiefte Plan, den er anschließend eiskalt durchführt, indem er Christa betäubt, Fotos von ihr schießt und für eine kompromittierende Fotomontage verwendet, sodass fürs Publikum temporär der Eindruck entsteht, er sei selbst Teil des Erpressersyndikats. Als Sandys Plan aufgeht und er auf den Kopf des Syndikats (Anton Diffring, „7 Tote in den Augen der Katze“) trifft, entpuppt sich dieser als bildtelefonierender und international operierender Boss – und Sammler mittelalterlicher Hieb- und Stichwaffen. In seiner Exzentrik erinnert er ein wenig an die Obermotze aus Agententhrillern. Mehr als für seine Figuren scheint sich Fuller aber für Zitate und Insider-Verweise zu interessieren: Neben „Rio Bravo“ wird eine kurze Szene aus „Alphaville“ von Nouvelle-Vague-Vorreiter Jean-Luc Godard zitiert, in der Christa-Darstellerin Christa Lang zu sehen ist, die auch Fullers Ehefrau war. Ohne wirklichen Bezug zur Handlung ist Stéphane Audrans Gastauftritt, ein Star der Nouvelle Vague. Ihr Rollenname: Dr. Bogdanovich…

Mit seinen zeitweise eingesetzten Zooms auf Augenpartien erinnert Fuller hingegen ans damalige italienische Genrekino. Seine Kameraführung ist verspielt und perspektivenreich, dabei häufig selbstzweckhaft. Die fatalistische Beziehung zwischen Christa und Sandy gemahnt an den Film noir. Die Kölner Avantgarde-Gruppe Can löste Stammkomponist Klaus Doldinger bei der Filmmusik ab. Was nach einer reizvollen Melange klingt, ist jedoch sehr dialoglastig inszeniert worden, zudem wird die lineare Erzählung von Auslassungen bedeutender Ereignisse unterbrochen, um sich im Anschluss wieder mühsam durch Belanglosigkeiten zu schleppen. Wie viel davon Kalkül und Intention Fullers war, kann ich nicht beurteilen, zumindest scheint er aber eine nachvollziehbare oder gar spannende Inszenierung seinen stilistischen Spielereien, seinen Augenzwinkereien und seinen Referenzierungen geopfert zu haben. Erschwerend hinzu kommt, dass die Amerikanisierung dieses „Tatorts“ ihn vor vertrauter rheinländischer Kulisse wie einen Fremdkörper erscheinen lässt.

Der Showdown mit seinem Degenkampf und Sandys verzweifeltem Gebrauch des Waffenarsenals des Syndikatsbosses ist irgendwo zwischen skurril und bizarr einzuordnen. Nichtsdestotrotz ist es Fuller gelungen, einen „Tatort“ mit einer knallharten Pointe zu entwickeln, in dem durch die Bank weg alle käuflich sind, ständig jemand geschmiert wird und jeder ein falsches Spiel spielt – ein Stück weit wie ein permanenter böser Karneval, in dem niemand der- oder diejenige ist, die er oder sie zu sein vorgibt. Ganz so, wie dieses „Tatort“ kein Kressin-Fall ist – und eigentlich auch gar kein richtiger „Tatort“. Ob Fuller diese Parallelen bewusst waren?
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Verfluchte Liebe deutscher Film

Im rund 90-minütigen Dokumentarfilm „Verfluchte Liebe deutscher Film“ spüren Dominik Graf („Die Katze“) und Johannes F. Sievert („Zeche is nich – Sieben Blicke auf das Ruhrgebiet“) dem deutschen Genrefilm der 1960er und ‘70er nach, der – so die Hypothese – zwischen den Polen „Papas Kino“ mit seinem restaurativen Heimatkitsch und dem Beibehalt klassischer Strukturen nach Kriegsende auf der einen und dem Oberhausener Manifest mit dem neuen deutschen Autorenkino und dem Erstreiten öffentlicher Filmförderung auf der anderen Seite zerrieben wurde und in Vergessenheit zu geraten droht. Uraufgeführt wurde der für die Rundfunksender WDR und Arte produzierte Film im Jahre 2016 auf der Berlinale, im Anschluss lief er auch auf zahlreichen weiteren in- und ausländischen Filmfestivals.

Ein roter Fader im Sinne eines feststehenden Konzepts ist innerhalb des Films nur schwerlich auszumachen, stattdessen macht er einen spontanen, collagenhaften und sprunghaften Eindruck: Mal tritt Graf als Voice-over-Sprecher in Erscheinung, mal befindet er sich hör- und sichtbar in Interviewsituationen, meist aber wirken die Aussagen der zahlreichen Interviewpartner(innen) wie Statements innerhalb einer Oral History. Bei diesen handelt es sich neben Filmwissenschaftler(inne)n und -kritiker(inne)n um die Filmemacher Klaus Lemke („Rocker), Roland Klick („Supermarkt“) Wolfgang Büld („Brennende Langeweile“), Roger Fritz („Mädchen: Mit Gewalt“) und Eckhart Schmidt („Der Fan“), Produzent Artur „Atze“ Brauner sowie Schauspieler wie Mario Adorf („Milano Kaliber 9“, „Der Mafiaboss – Sie töten wie Schakale“, „Deadlock“) und Werner Enke („Zur Sache, Schätzchen“). Textauszüge, Fotos und Filmplakate werden eingeblendet und viele Filmausschnitte gezeigt – meist in einem irre hohen Tempo, sodass sich kaum auf sie konzentrieren lässt. Auf einige, jedoch längst nicht auf alle dieser Filme wird näher eingegangen.

So lässt man Mario Adorf recht ausführlich auf seine Zusammenarbeit mit Roland Klick sowie dem italienischen Regisseur Fernando di Leo eingehen und diverse Anekdoten zum Besten geben, die u.a. von den schweren körperlichen Belastungen während der Dreharbeiten handeln. Der Block über das italienische Genrekino fällt für eine Doku über den deutschen Film generell überraschend breit aus. Neben Rolf Olsens Œuvre, insbesondere „Blutiger Freitag“, werden vor allem Klicks „Supermarkt“ und „Deadlock“, Fritz‘ „Mädchen: Mit Gewalt“ und Lemkes „Brandstifter“ in Erinnerung gerufen (bzw. einem jüngeren Publikum schmackhaft gemacht). Klick und Lemke reden dabei, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, also in beeindruckender Offenheit. Man merkt, dass sich doch auch einige Wut gegen die Initiatoren des Oberhausener Manifests aufgestaut hat, die seinerzeit zwar durchaus zurecht gegen jeglichen Realismus verweigernden Heimatkitsch und ähnlichen für Kriegsverlierer gedrehten Unrat aufstanden, aber offenbar das Kind mit dem Bade ausschütteten und – für radikale neue Ideen natürlich nicht unüblich – wenig differenziert vorgingen.

Davon leiten die Protagonisten dieser Dokumentation ab, dass es deutsches Genrekino daraufhin schwer gehabt habe, sich zu entwickeln und zu etablieren, dass körperliches, sinnliches, actionlastiges oder auch gern mal reißerisches Kino als nicht intellektuell genug gegolten und es Schwierigkeiten bereitet habe, vom neuen Filmförderungssystem zu profitieren (das beispielsweise Lemke komplett ablehnte, da er seine Unabhängigkeit gefährdet sah und fürchtete, Kompromisse eingehen zu müssen). Der Neue deutsche Film wiederum habe mangels kommerziellen Drucks das Publikum aus den Augen verloren und sei selbstgefällig geworden. Das hier behandelte deutsche Genrekino sei ein gutes Stück weit auch ein Gegenentwurf dazu gewesen.

Die Filmwissenschaftler(innen) kommentieren diese Entwicklung ebenso wie die Filmemacher, die von ihrem unterschiedlichen Umgang mit ihr berichten und dabei bisweilen das Wissen ihres Interviewpartners – Dominik Grafs – mit dem des Publikums gleichsetzen, sodass letzteres nicht alles auf Anhieb richtig einordnen können wird. Diesbzgl. wäre ein stärker am klassischen Dokumentarfilm orientierter historischer Abriss sicherlich hilfreich gewesen, um eine für alle klar verständliche Grundlage zu schaffen. Unter den Filmwissenschaftler(innen) tut sich besonders Lisa Gotto hervor, die ihre Ausführungen sehr leidenschaftlichen und mit expressiver Mimik und Gestik vorbringt.

In seinem kreativen Chaos ist „Verfluchte Liebe deutscher Film“ ein sehenswerter Beitrag zur Erinnerung daran, was deutsches Kino auch einmal sein konnte, und, wie der Name schon verrät, eine Liebeserklärung – die hoffentlich viele Zuschauerinnen und Zuschauer auf diese Art von Filmen stieß, denn unter ihnen gibt es in der Tat eine Menge zu entdecken. In seiner historischen Aufarbeitung des deutschen Nachkriegskinos bis in die 1970er hinein ist Grafs und Sieverts Film mir aber etwas zu subjektiv geprägt; so hätte man den Filmwissenschaftler(inne)n gern mehr Raum für unaufgeregte, neutrale Reflektionen einräumen dürfen. Nichtsdestotrotz ist es ein Vergnügen, all die alten Haudegen noch einmal zu sehen und ihren Ausführungen zu lauschen.

Meinem persönlichen Empfinden nach geht die im Film verhandelte Problematik bereits auf die in ihm einleitend erwähnte, typisch deutsche Unterscheidung zwischen „ernsthafter“ und unterhaltender Kultur zurück, einem riesigen Irrtum, der aus inhaltlichem Anspruch und Unterhaltung einen Widerspruch macht, der eigentlich keiner sein sollte. Ideal wäre nämlich eine Mischung aus beidem, unterhaltsam aufbereitet lassen sich Inhalte nun einmal besser vermitteln. So ganz behagt mir dann auch das konsequente Abkanzeln des Neuen deutschen Films nicht, der zweifelsohne auch seine Perlen hervorgebracht hat und mit unterschiedlichsten Filmemacher(inne)n eine sehr heterogene Filmlandschaft geschaffen hat. An staatlicher Filmförderung kann ich auch nichts Verkehrtes finden, solange diese nicht mit Bevormundung und Zensur einhergeht. Auch dieser Dokumentarfilm wurde öffentlich gefördert, und zwar von der Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen.

Angebracht wäre es indes – und darum dürfte es Graf & Co. in erster Linie gegangen sein –, dem deutschen Genrekino würde in einer ebensolchen Akzeptanz und mit einem ebensolchen Respekt begegnet wie dem Neuen deutschen Film oder anderen besser beleumundeten Nachkriegsentwicklungen innerhalb der deutschen Spielfilmlandschaft.

P.S.: Die Arte-Ausstrahlung wurde um rund eine halbe Stunde gekürzt, die WDR-Ausstrahlung war vollständig. Und ein Jahr später folgte mit „Offene Wunde deutscher Film“ eine Fortsetzung.
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Tatort: Macht der Familie

„Sie haben die Leitung, es ist Ihre Entscheidung!“

„Tatort“-Stammregisseur Niki Stein inszenierte mit seiner Regiearbeit für die öffentlich-rechtliche Krimireihe Bundespolizist Thorsten Falkes (Wotan Wilke Möhring) 15. Einsatz – der neunte zusammen mit Bundespolizistin Julia Grosz (Franziska Weisz). Stein verfasste auch das Drehbuch des Falls, der während des ersten Corona-Shutdowns gedreht wurde und deshalb in Teilen umkonzipiert werden musste. Die Erstausstrahlung erfolgte am 18.04.2021.

„Du bist wahnsinnig.“

Julia Grosz leitet, frisch zur Hauptkommissarin ernannt, einen brisanten Einsatz: Der verdeckte Ermittler Tarik (Ercan Karacayli, „Almanya – Willkommen in Deutschland“) soll helfen, einen in Hamburg lebenden russischen Waffenhändler (Wladimir Tarasjanz, „Marco W. - 247 Tage im türkischen Gefängnis“) zu überführen. Tarik trifft dafür auf den Neffen (Jakub Gierszal, „Finsterworld“) des russischen Familienoberhaupts, das tief in illegale Machenschaften verstrickt ist. Nervös beobachtet Grosz zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen von der Einsatzzentrale aus, wie der Neffe kurzfristig den Plan ändert und mit dem verdeckten Ermittler nach Zypern fliegen will. Grosz entscheidet sich, den Einsatz nicht abzubrechen – und muss kurz darauf erfahren, dass eine im Flieger deponierte Bombe das Flugzeug in der Luft in Fetzen riss. V-Mann, Waffenhändler und die Besatzung kamen ums Leben. Marija (Tatiana Nekrasov, „Die Auferstehung“), die Nichte des Waffenpatriarchs und seit ihrer Distanzierung von ihrer Familie selbst als verdeckte Polizistin tätig, übernimmt nun die Ermittlungen innerhalb ihrer Familie. Sie kann nicht glauben, dass ihr Onkel seinen Neffen opferte, und möchte dem wahren Mörder und dessen Motiv auf die Spur kommen…

Der Auftakt ist rasant und hochspannend inszeniert. Er zeigt nicht nur Menschen in Lebensgefahr, sondern auch den Druck, unter dem Grosz während ihrer ersten Einsatzleitung steht. Die Explosion bedeutet nicht nur eine Zäsur innerhalb ihres Teams – fortan gilt sie als gefühlskalt –, sondern auch für die Dramaturgie. Der „Tatort“ gerät zu einer Mischung aus Krimi und Familiendrama, dialoglastig und in Bezug auf die Familiengeschichte, die er zu erzählen versucht, überambitioniert. Die Handlung erscheint zu komplex und schwer nachvollziehbar und die anfänglich noch interessante, wenn nicht gar aufregende Erzählstruktur mit ihren Zeitsprüngen und Rückblenden trägt von nun an zur Verwirrung und Ermüdung bei. Das Rotlichtmilieu entromantisierende Kiezszenen dienen lediglich zur Einführung der Figur Marija und werden nicht wieder aufgegriffen. Durchaus lobenswert ist indes der Ansatz, den russischen Familien-Clan einmal entgegen allen Klischees als belesene, elitäre Hochkulturanhänger(innen) zu zeichnen.

Tatiana Nekrasov gelingt es, ihre Rolle undurchsichtig und ein bisschen geheimnisvoll auszulegen, was jedoch auch zu Ungunsten der Emotionalität dieses „Tatorts“ geht. Ihre Verpflichtung ist aber zweifelsohne ein echter Gewinn. Der Showdown mit einer überraschenden Schießerei und Menschenjagd inklusive eingeblendetem Fadenkreuz sorgt dann doch noch für ein actionreiches Finale dieses Falls, der wundervoll fotografiert und mit Bildern aus Tablets, Überwachungskameras und TV-Geräten angereichert wurde. Auf der horizontalen Erzählebene hadert Falke damit, dass sein Sohn (Levin Liam) mit dessen Freundin zusammenzieht, die Quintessenz der eigentlichen Haupthandlung wiederum scheint von aktuellen Umtrieben der Putin-Regierung und ihrer Geheimdienste inspiriert. Fazit: Ein starker Auftakt gefolgt von einem zähen, unnötig kompliziert erzählten Familienporträt, aus dem einen das Finale erweckt – dafür aber ausgesprochen hübsch dargereicht.
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Offene Wunde deutscher Film

„Wir waren alle Hasardeure!“

Nachdem Dominik Graf und sein ehemaliger Schüler Johannes F. Sievert in ihrem 2016 veröffentlichten essayistischen Dokumentarfilm „Verfluchte Liebe deutscher Film“ dem deutschen Genrefilm der 1960er und ‘70er zwischen den Polen „Papas Kino“ und Neuer deutscher Film nachspürten, folgte 2017 die logische Fortsetzung „Offene Wunde deutscher Film“, ebenfalls auf der Berlinale uraufgeführt und rund 90 Minuten lang.

„What are you doing in Germany?”

Man beginnt erneut mit den Anfängen des Kinos in der jungen Nachkriegs-BRD und die beteiligten Schauspieler (Peter Berling, Mario Adorf u.a.), Filmkritiker(innen)/-wissenschaftler(innen) und Regisseure aus „Verfluchte Liebe deutscher Film“ sind ebenfalls wieder versammelt, das Ensemble wird jedoch nach und nach um weitere Persönlichkeiten erweitert. Allen späteren Genrefilmmachern war anscheinend die Begeisterung fürs US-Kino gemein. Klaus Lemke leugnet, Regisseur zu sein – er führe nicht, er folge seinen Darstellerinnen und Darstellern. Die Bedeutung des Fernsehens, speziell des WDR, wird diesmal hervorgehoben: Es habe neue Freiheiten geboten, die zu herausregenden Filmen wie „Das Millionenspiel“ und „Smog“ geführt hätten. Dem umtriebigen TV-Drehbuchautor Wolfgang Menge wird gehuldigt, Regisseur Peter F. Bringmann berichtet kurz von seiner Zusammenarbeit mit Marius Müller-Westernhagen für die Filme „Aufforderung zum Tanz“ und „Theo gegen den Rest der Welt“ und Wolfgang Petersen erzählt, wie er übers Fernsehen zum Kino kam und den Meilenstein „Das Boot“ verwirklichte.

Grafs und Sieverts Film wirkt bis hierhin aufgeräumter als der bisweilen konfuse Vorgänger und Graf verzichtete auf Kommentierungen aus dem Off. Mittlerweile ist man in den 1980ern angekommen; körperliche und männliche Filme seien es gewesen, womit man auf den erhöhten Action-Anteil anspielt. Nun erklingt doch wieder zeitweilig Grafs Voice-over-Stimme, aber „Offene Wunde deutscher Film“ bleibt recht kohärent und stringent, guckt sich angenehm und spannend. Carl Schenkel gesellt sich dazu, es geht vornehmlich um seinen Film „Abwärts“ mit Götz George und Hannes Jaenicke. Petersen kommt ausführlich zu seiner Arbeit in den USA zu Wort, speziell zu „In the Line of Fire“, die anderen Regisseure fallen dabei leider eher hintenüber. Jedoch handelt es sich dabei – wie so vieles hier – um ein eigenes, hochinteressantes Kapitel, das eine eigene Dokumentation verdient hätte.

Seine Stringenz gibt „Offene Wunde deutscher Film“ leider auf, als er sich gesondert großen deutschen Filmkomponisten widmet, also Klaus Doldinger und Konsorten, und dafür zurück bis in die 1960er geht. Der experimentelle Samuel-Fuller-„Tatort: Tote Taube in der Beethovenstraße“ mit der Musik von Can wird in Anwesenheit des Bandkopfs aufgegriffen, Doldinger äußert sich speziell zu seiner Jahrhundertarbeit für „Das Boot“. Nach diesem Exkurs springt man erneut in der Zeit, nun geht’s um Jürgen Goslar und seine Rhodesien-Filme „Slavers“ und „Der flüsternde Tod“, aber auch quer durch seine Filmografie. „Slavers“-Komponist Eberhard Schoener erzählt ein bisschen was, woraufhin man sich plötzlich wieder bei Petersens Anfängen wiederfindet. Seinen roten Faden hat „Offene Wunde…“ leider endgültig verloren.

Bunt gemischt geht’s fortan um Regisseur Robert Sigl („Laurin“, als Reaktion auf „Scream“ dann „School’s Out“), um Heimatfilme, deutsche Filmemacher im Exil während der NS-Diktatur, Horrorfilme der 1940er und frühen -50er sowie die frühe Nachkriegszeit. Unvermittelt erklingt auch eine weibliche Stimme aus dem Off, dazu werden wilde Bildcollagen um Vampire dargereicht. Das kreative Chaos ist perfekt – was irgendwie zu Wolfgang Bülds legendärer Doku „Punk in London“ passt, woraufhin Eckhard Schmidt über seinen Punkeinfluss spricht, Büld anschließend über seinen Nena/Markus-NDW-Film „Gib Gas – Ich will Spaß!“ sowie „Manta Manta“ und Schmidts Œuvre mittels Ausschnitten aus „Der Fan und „Alphacity“ illustriert wird. Georg Tresslers „Sukkubus“ wird in wunderschönen Auszügen angerissen, Ralf Huettners verkannte Mystery-Filme „Der Fluch“ und „Babylon“ halten Einzug in den Korpus und schon ist man wieder bei Büld und dessen Low-Budget-Sexploitation-Trilogie um Fiona Horsey. „Der Nachtmahr“-Regisseur Achim Bornhak dürfte der jüngste Filmemacher des Reigens sein, auch mit dem in einem Ausschnitt gezeigten „Harms“ von Nikolai Müllerschön begibt man sich in die Gegenwart.

Damit leert sich diese Wundertüte, aus der zahlreiche interessante, sehenswerte deutsche Filmproduktionen nur so herausschossen, nachdem Graf und Sievert sie aufgerissen hatten – um ihnen zu später Ehre oder mehr Bekanntheit zu verhelfen. Den Deutschen wird Harmoniesucht unterstellt, was als ein Grund fürs Nischendasein des deutschen Genrefilms herangezogen wird, dafür arbeitet sich „Offene Wunde deutscher Film“ weit weniger als „Verfluchte Liebe deutscher Film“ am Neuen deutschen Film ab. Das ungefähr ab der Hälfte wieder sehr chaotische Durcheinander, das Graf und Sievert einem hinwerfen, gilt es jedoch selbst zu sortieren: Die Protagonist(inn)en werden kaum vorgestellt, Einordnungen finden nicht statt, etwaig hilfreiche Texteinblendungen verschwinden in den Bild- und Ton-Collagen aus Fotos, Filmausschnitten, verschiedenen On- und Offscreen-Stimmen sowie eingestreuten Zitaten Schillers und Jean Pauls ebenso schnell wieder, wie sie plötzlich da waren, während man gerade den Interviewpartner(inne)n zuhört.

Nichtsdestotrotz gewährt „Offene Wunde deutscher Film“ zahlreiche anfixende Einblicke in eine faszinierende Kino-Parallelgesellschaft, bezieht seine Informationen dank der Interviewpartner(innen) aus erster Hand und macht neugierig. Und im Abspann erklingt doch tatsächlich die uralte Punknummer „Süße Heimat“ von Notdurft. Ja leck mich doch fett!
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Tatort: Tote brauchen keine Wohnung

„Die alten Häuser werden alle abgerissen!“

Regisseur Wolfgang Staudte („Die Mörder sind unter uns“, „Der Seewolf“) war ein guter Analytiker deutscher Befindlichkeiten und gesellschaftlicher Entwicklungen. Innerhalb der „Tatort“-Reihe debütierte er im Jahre 1973 mit dem dritten Fall des Münchner Kriminaloberinspektors Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) nach einem Drehbuch Michael Molsners: „Tote brauchen keine Wohnung“, der erste von insgesamt sieben Staudte-Beiträgen zur Krimireihe. Der BR-Rundfunkrat war seinerzeit derart von den Inhalten entsetzt, dass die Episode im Giftschrank landete, aus dem sie erst 1992 ein neuer Intendant befreite.

„Das Gesetz ist auf meiner Seite!“ – „Immer auf der Seite, wo’s Geld ist!“

Das just aus einem norddeutschen Jugendknast entlassene ehemalige Heimkind Josef Bacher (Andreas Seyferth, „Oliver“) reist nach München zu seiner Mutter (Mady Rahl, „Venus im Pelz“) und der Familie, die diese mit ihrem neuen Lebensgefährten hat. Man lebt in beengten Verhältnissen und möchte Josef am liebsten schnellstmöglich wieder loswerden. Dieser sucht sich jedoch einen Job – ausgerechnet als Handlanger des Münchner Miethais Pröpper (Walter Sedlmayr, „Th. Hierneis oder: wie man ehem. Hofkoch wird“), der ihm auch ein Zimmer bei seiner renitenten Mieterin Frau Altmann (Herta Worell, „Hurra, unsere Eltern sind nicht da“) verschafft. Pröpper möchte seine Wohnhäuser am liebsten abreißen, um Raum für moderne, einträchtigere Bürogebäude zu schaffen. Für Pröpper macht Josef die Drecksarbeit, indem er vermeintliche Reparaturen durchführt, tatsächlich aber Sabotage verübt, um die Mieterinnen und Mieter zu vertreiben. Der Boxer und Kneipenwirt Rudi Mandl (Arthur Brauss, „Mädchen: Mit Gewalt“) haut ihm dafür auch schon mal aufs Maul. Und plötzlich ist Frau Altmann tot – vergiftet! Das Gift befand sich in ihrer Zuckerdose. Wer ist der oder die Täter(in) und was war das Motiv? Pröpper wollte die Rentnerin loswerden, der alte Herr Hallbaum (Wilhelm Zeno Diemer, „Alte Kameraden“) war zwischen ihr und seiner Haushälterin Frau Kreipl (Hanna Burgwitz, „O.K.“) hin- und hergerissen und Frau Altmanns Neffe scheint ihr Erbe gut gebrauchen zu können. Kriminaloberinspektor Veigl ermittelt im Viertel, in dem die Nerven insbesondere wegen Pröppers Umtrieben blankliegen. Und Frau Altmanns Vergiftung wird nicht der einzige Todesfall bleiben…

Authentische Bilder einer Demonstration gegen Mietenwucher eröffnen diesen „Tatort“ – und sofort fällt auf, wie skandalös wenig sich seit damals geändert hat. Das Leben in Großstädten wird immer mehr zum Luxus, Mieten explodieren und die Gentrifizierung vertreibt die Arbeiterklasse aus ihren Vierteln. Pröpper wird als unsympathischer Kleinbürger und skrupelloser Kapitalist charakterisiert, der seine eigentlichen Beweggründe hinter einer Scheintoleranz verschleiert: Ehemaligen Häftlingen solle man doch eine Chance geben (auch wenn er ihre Not ausnutzt, indem er sie für illegale Machenschaften einsetzt), Ausländer(innen) solle man doch willkommen heißen (auch wenn er einen ganzen „Negerstamm“ nur deshalb in eine seiner Wohnungen einquartiert, um die anderen Mieter(innen) zu vergraulen – eine Szene, die sowohl Xenophobie aufgreift als auch veranschaulicht, wie Ausländer(innen) zum Spielball fremder Interessen werden). Staudte überrascht mit der prominenten Platzierung des durchaus etwas verstörend aussehenden Leichnams im Bild, skizziert ein mit der vollen Breitseite Zeitkolorit ausgestattetes Münchner Wohnmilieu abseits jeglicher Schickeria und schafft ein Bewusstsein für miese Vermietertricks und die aus Privatbesitz von Wohnraum und Geldgier ihrer Besitzer(innen) resultierenden sozialen Spannungen.

All dies geht mit einer Vielzahl besonders unterhaltsam gestalteter und erinnerungswürdiger Szenen einher, sei es die Verfolgungsjagd des Neffens Frau Altmanns – er im Sportwagen, die Polizei im Helikopter –, sei es die Bürgerversammlung zur Stadtteilveränderung, in der spießige Alte („Ich war mein Leben lang Royalist!“) voller Angst vor „kommunistischen Wohngemeinschaften“ und Gruppensex auf progressivere Junge aber auch Alte (mit Lust auf Gruppensex…) treffen. In Kombination mit der Vielzahl Verdächtiger und der nur auf den ersten Blick köstlichen, vielmehr tragischen Dreiecksgeschichte um Herrn Hallbaum und seine Verehrerinnen bleibt da bei lediglich 77 Minuten Länge gar keine Zeit für etwaigen Leerlauf. Stattdessen wird über kapitalistische Wohnraumspekulation hinaus sogar noch der Umstand aufgegriffen, dass die Polizei die Kapitalist(inn)en schützt, was der gewohnt urbayrisch erscheinende Veigl mit Hallbaums kleinem Enkel Jürgen (Robert Seidl) diskutiert – wobei dieser einzig richtig reagiert, indem er den Exekutivbeamten beleidigt. Am Ende dieses schönen Zeitgeist- und Sittenporträts (interessant: jemanden mit einer ungeladenen Waffe zu bedrohen gilt bei den bayrischen Bullen als harmloser Scherz) ist es dann auch ausgerechnet Jürgen, der sich auf der Flucht befindet, bevor dieser „Tatort“ etwas arg überhastet und abrupt endet – was seine Qualitäten nur marginal schmälert.
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Turbo Kid

„Dies ist die Zukunft, dies ist das Jahr 1997.“

Das sich „RKSS“ nennende Filmemacher-Trio aus François Simard und den Geschwistern Anouk und Yoann-Karl Whissell stellte nach einigen Kurzfilmen im Jahre 2015 seinen ersten abendfüllenden Spielfilm vor: Die kanadisch-neuseeländische Koproduktion „Turbo Kid“ basiert auf einem Kurzfilm, der ursprünglich für den Buchstaben „T“ der Kurzfilmsammlung „The ABCs of Death“ gedacht war, dort jedoch keine Verwendung fand. Die retrofuturistische Mischung aus Endzeit-Splatter-Actionfilm und -Komödie ist Teil des vom schwedischen Kurzfilm „Kung Fury“ mitinitiierten ‘80er-Genrekino-Rollbacks und geht den entscheidenden Schritt weiter, bei aller Hommage auch eine Geschichte mit zumindest teilweise ernstzunehmenden Inhalten zu erzählen.

„Als wär‘s ein Museum für Coolness!“

In der Postapokalypse des Jahres 1997 ist nahezu die gesamte Menschheit ausgelöscht; nukleare Kriege und Umweltzerstörung haben ein Ödland hinterlassen, in dem fossile Kraftstoffe aufgebraucht sind und Wasser zum kostbarsten Gut geworden ist. Warlord Zeus (Michael Ironside, „Das Horror-Hospital“) und seine Schergen herrschen brutal über die Ödnis und ihre letzten Überlebenden. Ein heranwachsender Waise, genannt „The Kid“ (Munro Chambers, „Godsend“), verschanzt sich in seinem mit reichlich ‘80er-Devonotalien, vornehmlich seines favorisierten Comichelden Turbo Rider, eingerichteten Bunker, wenn er nicht gerade auf seinem BMX-Rad nach Zeug sucht, das er dem Händler Bagu (Romano Orzari, „Krieg der Götter“) andrehen kann. Als er das Mädchen Apple (Laurence Leboeuf, „Ein Wort hätte genügt“) kennenlernt, ist ihm das zunächst gar nicht geheuer. Doch als Apple von Zeus‘ Menschenfängern entführt wird und er den skelettierten echten Turbo Rider inklusive Waffe findet, zieht er dessen Rüstung über, wird zu Turbo Kid und versucht, Apple zu befreien – womit er sich nicht lange zufriedengibt. Bald soll es auch Zeus und dessen Schreckensherrschaft an den Kragen gehen!

„Mein bioelektrischer Transmitter ist beschädigt.“

Ähnlich wie manch in den 1980ern entstandene Dystopie spielt auch „Turbo Kid“ in den 1990ern – ein erstes Indiz für die Konsequenz der populärkulturellen Referenzen dieses Retrofilms. Weitere sind das fette Logo im ‘80er-Stil, The Kids „BMX-Bandits“-Erscheinungsbild, das ähnlich wie das jenes stilprägenden ‘80er-Klassikers gestaltete Intro, die zahlreichen ‘80er-Gegenstände, der poprockige Titelsong und die atmosphärische Hintergrundmusik aus Retrosynth und Synthieteppichen. Die Endzeit-Prämisse erinnert schwer an die „Mad Max“-Reihe und deren Epigonen. Michael Ironside zeigt sich von seiner eisernen Seite und gibt als Zeus einen überaus schurkischen Schurken, die Show stiehlt ihm jedoch sein Handlanger Skeletron (Edwin Wright, „Underworld: Aufstand der Lykaner“), ein krasser Fiesling mit Totenkopfmaske aus Metall und einer Säge anstelle einer Hand. Zum Straßenbild gehören mutierte Nacktratten.

„Augen, Kehle, Genitalien!“

Rückblenden in Form visualisierter Träume The Kids entführen in seine Kindheit und dröseln nach und nach seine Geschichte auf, indem sie die erste Begegnung mit dem Bösen und den Tod seiner Eltern zeigen. Apple wirkt zunächst sehr kindisch, entpuppt sich später als Android, zugleich aber auch als auf originelle Weise ungewöhnliches Love Interest The Kids. Selbstredend sind Chambers und Leboeuf eigentlich viel zu alt für ihre Rollen – auch das war in den ’80ern eher Regel denn Ausnahme. Cowboy Frederic (Aaron Jeffery, „X-Men Origins: Wolverine“) komplettiert das Trio, das sich dem Kampf gegen Zeus verschreibt, der Wasser aus zerhäckselten Menschen gewinnt. Unter dessen Herrschaft liefert man sich Gladiatorenkämpfe, die ebenso wie andere Kampfszenen Anlass für comichaft übertriebene, handgemachte Splatter-Szenen sind. Ein Gartenzwerg, ein Einhorn und ein Sonnenschirm halten dabei als Waffen mehr. Und kurioserweise bewegen sich auch die Bösewichte auf Fahrrädern fort.

„Weißt du was das ist?“ – „Ein Turbomegablaster!“ (Geil!)

Das ist zuweilen alles ganz schön überdreht und nah an der Persiflage, wobei die Rekonstruktion des ‘80er-Endzeit-Genrekinos wiederum sogar so weit geht, sich an dessen Dramaturgie und Erzähltempo zu orientieren, was den Retro-Charme zusätzlich befeuert. Die Wasserthematik indes erinnert an einen multinationalen Konzern wie Nestlé und dessen Pläne der Trinkwasserprivatisierung, stellvertretend verkörpert von Zeus. In dieser Hinsicht ist der Film dann auch nicht mehr witzig und vor derartigen Umtrieben wird uns wohl auch kein Turbo Kid oder sonstiger Superheld retten. Die oben zitierte Dialogzeile „Als wär‘s ein Museum für Coolness!“ passt perfekt zu dieser Produktion, denn im Prinzip ist „Turbo Kid“ genau das. Er lädt dazu ein, ihn mit nostalgischen Gefühlen zu genießen und dabei so zu tun, als lägen die verdammten ‘90er noch in weiter Ferne, erinnert aber auch daran, was manch ‘80er-Genrestreifen über Coolness hinaus zu vermitteln hatte. Zum Beispiel bedeutungsschwangere Sinnsprüche wie diesen: „Ein Mann weiß nie, wie stark er ist, bis stark zu sein die einzige Möglichkeit ist, die er hat!“ Wer also glaubt, Fahrräder und das Attribut turbo passten nicht zusammen, wird hier eines Besseren belehrt…
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Tatort: Nachtfrost

„Man sah es ihr schon an…“

Auch der vierte Kieler „Tatort“ um Kriminalhauptkommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) entstand unter der Ägide des Duos aus Herbert Lichtenfeld (Drehbuch) und dem späteren Hollywood-Regisseur Wolfgang Petersen. Der Fall „Nachtfrost“ wurde bereits im Februar 1972 gedreht, jedoch erst knapp zwei Jahre später, am 20. Januar 1974, erstausgestrahlt.

„Ein Herr Metz war da, in Beischlafabsicht.“

Die Geschäftsführerin einer Boutique und Gelegenheitsprostituierte Renate Plikat, eine hübsche junge Frau, wird in ihrer Zweitwohnung in der Kieler Seiboldstraße tot aufgefunden – vor zwei bis drei Tagen brutal von hinten erschlagen. Ihre Mutter (Helga Bammert, „Glücksritter – Eine Geschichte von heute“) und ihr Stiefvater Paul Strube (Uwe Dallmeier, „Kümo Henriette“) wollen nichts vom Nebenberuf Renates gewusst haben. Diesen hatte sie offenbar ausgeübt, um genug Geld zusammen zu bekommen, sich mit einer eigenen Boutique selbständig zu machen. Kurz vor ihrem gewaltsamen Tod hatte sie zu diesem Zweck 20.000 DM abgehoben, die nun unauffindbar sind. Handelte es sich um einen Raubmord? Anhand ihres Notizbuchs klappern Kommissar Finke und dessen Assistenz zahlreiche Personalien ab und geraten unter anderem an den Zuhälter Heiko Schulz (Peter Lakenmacher, „Sonderdezernat K1“) sowie den Schüler Bertram Schaarf (Marcel Werner, „Dem Täter auf der Spur: Ohne Kranz und Blumen“), der mit Renate eng befreundet gewesen sein soll – zum Unmut seiner Eltern (Ulla Jacobsson, „Sie tanzte nur einen Sommer“ und John van Dreelen, „Das unheimliche Erbe“) aus der höheren Gesellschaftsschicht. Auch Kioskbetreiber Miesbach (Rudolf Beiswanger, „Klein Erna auf dem Jungfernstieg“) wird zu einem möglicherweise wichtigen Zeugen, hatte er doch aus seinem Kiosk häufig beobachten können, wie verschiedene Männer in Plikats Wohnung ein- und ausgingen. Wer ist der Täter – und was war sein Motiv?

„Du denkst zu viel mit den Augen!“

In „Nachtfrost“ muss Kommissar Finke erstmals ohne seinen Assistenten Jessner (Wolf Roth) auskommen. An dessen Stelle treten die junge, attraktive Kripobeamtin Frau Scheffler (Ursula Sieg, „Grabenplatz 17“) und der schnauzbärtige Assistent Franke (Hans-Peter Korff, „Pappa ante Portas“). Scheffler donnert sich auf und gibt sich als Renate Plikat aus, um deren Freiern eine Falle zu stellen – Polizeiarbeit mit (nicht ganz) vollem Körpereinsatz. Nackte Haut gibt es hingegen beim rein dienstlichen Besuch eines Striplokals zu sehen, wenn sich eine Tänzerin bis aufs Schamhaar entblättert. Zudem wurde das Sexblättchen „Frivol“ prominent im Hintergrund des Zeitungskiosks positioniert. Ansonsten ist diese Episode für ihr Sujet recht bieder ausgefallen, was jedoch auch dem Konzept geschuldet ist, die Tote gerade nicht im Rotlichtmilieu, sondern in einem bürgerlichen, unauffälligen Umfeld anzusiedeln.

So bekommt man es hier in erster Linie mit sehr viel klassischer Polizeiarbeit zu tun, indem man dem etwas untersetzten, herrlich knorrigen Kommissar Finke dabei zusieht, wie er sich eine möglicherweise involvierte Person nach der anderen vorknöpft und einsilbig befragt. Diese werden jeweils knapp vorgestellt; immerhin ergibt sich dadurch so etwas wie ein Sittenbild, das offenbart, welche Klientel Plikats Dienste in Anspruch nahm. Ein wenig Action wird angedeutet, wenn ein Ermittler während einer Observation hinter verschlossener Tür zusammengeschlagen wird. Wesentlich beeindruckender ist da die Verfolgungsjagd eines Ford Mustangs über und durch Kiels Straßen, Tunnel und Brücken. Im Laufe der Handlung rückt immer mehr in den Fokus, welche Rolle eigentlich Plikats juveniler Freund spielte, war er eventuell ein Nachsteller? Im in ein Waldgebiet ausscherenden, dramatischen Finale wird sich herausstellen, dass mehrere Täter unterschiedlicher Straftaten schuldig sind.

Es ist sicher nicht zu viel verraten, wenn man erwähnt, dass Bertram eine entscheidende Figur in dieser Konstellation ist, in seiner charakterlichen Entwicklung offenbar zerrieben zwischen der patriarchalen Dominanz seines Vaters und der Lustfeindlichkeit seiner Mutter. Doch obschon Bertrams Beziehung zu Plikat der eigentlich interessante und neugierige machende Aspekt dieses „Tatorts“ ist, bleiben Lichtenfeld und Petersen eine Aufarbeitung schuldig. Dabei hätten sich die Beziehung aufdröselnde Rückblenden geradezu aufgedrängt. So aber bleibt alles sehr diffus und wichtige Fragen, letztlich auch zum Tatmotiv, ungeklärt. Das ist schade und dürften viele derjenigen ebenfalls so empfunden haben, die seinerzeit „Nachtfrost“ mit satten 76 % Marktanteil zum bis dahin meistgesehen „Tatort“ machten. Der damals so gern absolvierte reiheninterne Gastauftritt fiel diesmal übrigens dem im Südwesten ermittelnden Kommissar Lutz zu. Ob mit Lutz oder ohne: Hier wurde Potential verschenkt.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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