bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Tatort: Spätlese

„Ihre Höflichkeit hat was Perfides…“

Mit „Spätlese“ feierten die Essener „Tatort“-Kommissare Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) ihren zehnten Einsatz innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Das Drehbuch zum am 22. Mai 1977 erstausgestrahlten Fall verfasste Herbert Lichtenfeld; für die Regie konnte man Wolfgang Staudte („Die Mörder sind unter uns“) gewinnen, der damit nach „Tote brauchen keine Wohnung“ und „Zwei Leben“ seinen dritten „Tatort“ inszenierte.

„Fast alle Leute fühlen sich von mir belästigt, das muss an meinem Beruf liegen.“

Paul Bernhold wurde erschlagen, Täter und Motiv sind unbekannt. Seine Witwe Claudia (Andrea Jonasson, „Schonzeit für Füchse“), die mit ihm in einer schicken Villa zusammenlebte und nie finanzielle Sorgen zu haben brauchte, fällt aus allen Wolken, als ihr bewusst wird, dass ihr Mann offenbar ein Erpresser war. Dies erklärt auch ihren gehobenen Lebensstandard, den sie bisher nie hinterfragt hatte. Zusammen mit ihrer auf einen Rollstuhl angewiesenen Schwester Ingeborg (Claudia Wedekind, „Attentat auf den Mächtigen“) versucht sie herauszufinden, wen ihr Mann erpresste – und womit. Da die regelmäßigen Zahlungen weiterhin am vereinbarten Ort konspirativ hinterlegt werden, findet sie recht bald Gefallen daran und verwirft den Gedanken, diesbezüglich mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Kommissar Haferkamp verdächtigt derweil Claudia und ermittelt in ihrem Umfeld. Doch auch Dr. Stolp (Udo Vioff, „Die letzten Ferien“), Hausarzt der Bernholds, kommt als Verdächtiger in Betracht, da sein Interesse an Claudia über ein rein freundschaftliches hinauszugehen scheint. Bei der Beschattung beider gerät Haferkamp unwissentlich in eine Geldübergabe und lernt dadurch den gutbetuchten Eckhart Waarst (Alexander Kerst, „Der Fall Liebknecht-Luxemburg“) kennen, offenbar das Erpressungsopfer. Aber wer ist dieser Waarst, und womit wurde respektive wird er erpresst? Haferkamp studiert zurückliegende, unaufgeklärte Kapitalverbrechen im Archiv…

„Vielleicht hat er uns zuliebe eine Bank überfallen!“

Eine reizvolle Prämisse: Ein Tötungsdelikt, durch das man einer Erpressung auf die Spur kommt, wodurch wiederum ein anderes Verbrechen aufgeklärt werden kann. Vom alles ins Rollen bringenden Mord bzw. Totschlag ist indes nichts zu sehen; die Episode beginnt damit, dass Haferkamp Frau Bernhold die schlechte Nachricht vom Tode ihres Mannes überbringt. Der Hausarzt erscheint Haferkamp eher als Hausfreund und ist ihm gleich suspekt, womit jenem die Rolle des klassischen Erstverdächtigen zuteilwird. Demonstrativ wissend blickt Haferkamp drein, um seine Gegenüber aus der Reserve zu locken, kommt um Beschattung und schließlich das Einspannen seiner zeitweise bei ihm wohnenden Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum) jedoch ebenso wenig herum wie um einige weitere Finten und Tricks.

„Ich muss in eine Besprechung. Fangen Sie nicht an, mich zu nerven!“

Bedauerlicherweise ist die Inszenierung für einen Staudte ungewöhnlich bieder ausgefallen und wird die Handlung langatmiger, je weniger Claudia und Ingeborg noch zu ihr beizutragen zu haben. Durch den Verzicht auf jegliche über die seriösen schauspielerischen Leistungen hinausgehende Schauwerte – keines der behandelten Verbrechen geschieht onscreen – gerät „Spätlese“ zu einem ermüdenden Laber-„Tatort“, der zudem in einem zunehmend uninteressanten Milieu spielt (zumindest wird kaum etwas aus ihm herausgeholt). Stattdessen pfeift einem ein verrückter Freejazz-Soundtrack in den Ohren.

Nichtsdestotrotz ist der Fall bzw. seine Lösung durch Haferkamp und Kreutzer intelligent konstruiert und, folgt man der Handlung aufmerksam, auf einem noch annehmbaren Level bis zu seinem fatalistischen Ende spannend. Seine stärksten Momente hat er aber, wenn er nur allzu menschliche Verhaltensweisen wie „Gelegenheit macht Diebe“-Verführbarkeit, die Rechtfertigung bewusst falschen Handelns vor sich selbst und den damit verbundenen Pragmatismus aufgreift. Seine in einem Dialog formulierte Frage richtet sich demnach auch an die Zuschauenden: „Glaubst du etwa an das Gute im Menschen?“
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Die Spielregel

Jean Renoirs („Bestie Mensch“) Satire „Die Spielregel“ galt in ihrem Erscheinungsjahr 1939 als die bis dato kostspieligste französische Kinoproduktion überhaupt – und floppte an den Kinokassen kolossal. Der unmittelbar vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entstandene Film wurde vom Publikum weitestgehend abgelehnt oder missverstanden bzw. wollte nicht verstanden werden. Seinen wohlwollenden Leumund erhielt „Die Spielregel“ erst, nachdem die Katastrophe eingetreten war und der Krieg große Teile der Welt in Schutt und Asche gelegt und Abermillionen Menschenleben gekostet hatte.

Der Rekordpilot André Jurieux (Roland Toutain, „Die Lüge der Nina Petrowna“) ist zum französischen Nationalheld avanciert, nur Christine (Nora Gregor, „Abenteuer am Lido“), in die er unglücklich verliebt ist, zeigt sich auch von seiner jüngsten Atlantikquerung unbeeindruckt. Noch vor der Journalistenschar, die ihn am Flugplatz empfängt, schimpft er darüber ins Mikro, sodass Christine seine Botschaft per Radio empfängt und sich gegenüber ihrem Ehemann Robert de la Cheyniest (Marcel Dalio, „Die weiße Sklavin“) erklären muss. Dabei unterhält er im Gegensatz zu seiner Frau tatsächlich eine Affäre, nämlich zu Geneviève (Mila Parély, „Die freudlose Gasse“). André unternimmt einen erfolglosen Selbstmordversuch, woraufhin es Octave (Jean Renoir), einem gemeinsamen Freund beider, immerhin gelingt, Christine zu überreden, André zu einer Jagdpartie auf dem Landsitz einzuladen. Dort versammelt sich die höhere Gesellschaft Frankreichs, frönt der Kaninchenjagd und feiert ihren dekadenten, oberflächlichen Lebensstil. Als Christine dort von Roberts Affäre mit Geneviève erfährt, ist dies nur der Startschuss für weitere zwischenmenschliche Verwicklungen und Zerwürfnisse und eine sich immer weiter hochschaukelnde Zügellosigkeit, die unter der Maske der Etikette lauerte. Das geht nicht lange gut und wird bald Menschenleben kosten…

Nach ein paar Texttafeln steigt Renoir direkt in die Handlung ein, die sich in ihrer stilistischen Melange aus Drama, klassischer französischer Komödie, poetischem Realismus und Gesellschaftssatire zunehmend anstrengend präsentiert und deren Humor nicht (mehr?) so recht zünden will. Das entlarvend oberflächliche Figurengeplapper innerhalb einer unübersichtlichen Gemengelage wurde offenbar größtenteils improvisiert, die Ereignisse in fünf Akte wie im klassischen Theater aufgeteilt und mit Barockmusik unterlegt. Die versammelte Gesellschaft wird immer mehr zu einem Mikrokosmos des französischen Klassensystems; Ziel Renoirs Spotts ist dabei die Oberschicht, der angesichts der weltpolitischen Entwicklungen Belanglosigkeiten wichtiger sind als Bedeutsames und die in einer Mischung aus Ignoranz und Dekadenz die Augen vor dem nahenden Unheil verschließt. Die Etikette muss gewahrt werden, bei allem, auch den größten Schweinereien – daraus speist sich der Humor des Films.

Die innovative Kameraführung mit ihrer Tiefenschärfe und ihren Long Shots weiß zu gefallen, was sie einfängt mutet hingegen nicht selten wie ein Straffilm fürs Publikum an, der nicht nur die Oberschicht konfrontiert, sondern auch das normale Durchschnittspublikum eher ratlos zurückgelassen haben dürfte. Die Schauspieler(innen) hat man offenbar bewusst gegen den Strich gecastet; die von ihnen verkörperten Figuren bleiben ohne Hintergrundgeschichten und Profile reine Abziehbilder, die sich dem überdrehten Konzept unterzuordnen haben. Zurecht verfiel Renoir in tiefe Besorgnis über das Münchner Abkommen und die Aussicht auf den Zweiten Weltkrieg, doch als Kritik an französischer Tatenlosigkeit hätte ich mir „Die Spielregel“ wütender gewünscht, als Verballhornung der Bourgeoisie spottender. Vielleicht trifft er, ähnlich wie manch anderer französischer Satirefilm („Das große Fressen“ bspw.) einfach nicht meinen Humor, vielleicht muss man die damalige gesellschaftliche Stimmung besser nachempfinden können, um einen besseren Zugang zu diesem Film zu finden.

Die diffizile Veröffentlichungsgeschichte des Films, der von Zensur und Kürzungsauflagen betroffen war, und der Umstand, dass Renoir als Nestbeschmutzer diskreditiert wurde, bestätigen den von Renoir abgebildeten damaligen Zustand der französischen Gesellschaft und machen den Film indes nachträglich historisch besonders interessant. Insbesondere denjenigen, die sich dem Film wissenschaftlich-analytisch nähern, dürfte es eine helle Freude bereiten, all seine Anspielungen und Referenzierungen zu dechiffrieren. Nach meiner Erstsichtung überwiegt jedoch die Frage, ob Renoir als Künstler nicht zumindest ein Stück weit auch Teil der von ihm kritisierten Ignoranz ist, wenn es ihm nicht gelingt, allgemeinverständlicher vor dem verheerenden Krieg zu warnen und zu klassenübergreifendem gesellschaftlichem Zusammenhalt aufzurufen, statt seine Anliegen in einer derartigen Farce zu verklausulieren…?
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Tatort: Alles kommt zurück

„Ich war das nicht!“

In ihrem 29. Fall verschlägt es die Göttinger „Tatort“-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) nach Hamburg. Der von Uli Brée geschriebene und von Detlev Buck („Wir können auch anders“) inszenierte Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe wurde im Frühjahr 2021 vor Ort gedreht und am zweiten Weihnachtsfeiertag erstausgestrahlt. Die zuweilen komödiantische Ausrichtung dieser auch sonst aus der Art schlagenden Episode weckt Erinnerungen die humorigen Weimarer „Tatorte“, die oftmals an Feiertagen erstgesendet wurden, bis sie an Neujahr 2021 mit „Der feine Geist“ das Zeitliche segneten und somit leider nicht mehr zur Verfügung standen. Für Detlev Buck ist „Alles kommt zurück“ sein erster „Tatort“.

„Bei Mord ist nichts privat.“

Charlotte Lindholm hat eine Verabredung zu unverbindlichem Sex mit einem Mann, der sie im Hamburger Luxushotel Atlantic erwartet. Doch als sie sein Zimmer betritt und sich erwartungsvoll zu ihm ins Bett begibt, muss sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass er ermordet wurde – sie liegt neben einer blutüberströmten Leiche. Für die Hamburger Kripo-Kollegen Jana Zimmermann (Anne Ratte-Polle, „Ferdinand von Schirach: Feinde“) und Ruben Delfgau (Jens Harzer, „Nackt unter Wölfen“) ist Lindholm die Hauptverdächtige, wobei es insbesondere Zimmermann auf sie abgesehen zu haben scheint. Offenbar hat jemand Lindholm eine Falle gestellt, in die sie prompt getappt ist. Dass es im Hotel aufgrund eines Castings vor Udo-Lindenberg-Doppelgängern nur so wimmelt, macht die Tätersuche nicht einfacher. Nichtsdestotrotz sieht sich Lindholm gezwungen, auf eigene Faust zu ermitteln. Ihre Recherchen führen sie auf den Kiez in St. Pauli, und zumindest Delfgaus Vertrauen scheint sie zu gewinnen: Man kommt sich näher und Lindholm somit doch noch zu ihrem Schäferstündchen…

„Das ist nicht Ihr Fall, Frau Kollegin!“

Wenn der offizielle ARD-Text zur Episode „Ein Racheakt an der Kommissarin?“ fragt, nimmt er die Antwort bereits vorweg: Natürlich ist dem so, bleibt die Frage nach dem wer und warum. Klassische Krimispannung kommt dabei nicht auf. Am fesselndsten ist dieser „Tatort“ im ersten Akt, wenn Lindholms reichlich misslungener Abend in von der Gegenwart partiell unterbrochenen Rückblenden gezeigt wird. Die Kameraarbeit ist überaus dynamisch, die Ausleuchtungen fallen mitunter neo-noiresk artifiziell aus, der Schnitt ist originell und zusätzliche Bildeffekte machen „Alles kommt zurück“ neben der sexualisierten Lindholm zu einem Hingucker. Ein paar witzige Hamburger Schnacks, Buck persönlich in der Rolle des mehr wie ein Clown aussehenden Zuhälters Einstein und weitere skurrile Gestalten sorgen für darüber hinaus für Unterhaltung.

„Kommen Sie wieder, wenn Sie tot sind.“

Die Handlung mit ihren Ermittlungen nimmt dabei jedoch eine untergeordnete Rolle ein. Relativ unmotiviert steigt Lindholm mit Delfgau ins Bett, was mithilfe eines vom echten Udo Lindenberg gesungenen Songs nachträglich romantisiert wird. Dieser hat mit dem Mordfall jedoch letztlich genauso wenig zu tun wie seine zahlreichen Doubles und scheint in erster Linie hier zu sein, um seine Lieder sowie sich selbst zu promoten. Der übrige Soundtrack bildet mit seinen enervierenden, tickenden Klängen einen Kontrast und würde sicherlich gut zu einem echten Krimi passen, der seine Wirkung nicht permanent untergräbt. Rein gar nichts mit der Handlung zu tun hat auch die „Shining“-Hommage-Szene mit den Zwillingen, die man anscheinend – schließlich spielt sich ein Großteil der Handlung im Hotel ab – ebenso unterbringen musste wie Udo und den Kiez, wenn man schon mal in Hamburg ist… Ein bisschen wirkt „Alles kommt zurück“ wie ein Hamburg-Tourist, der die Episode gewissermaßen ja auch ist.

Unverständlich ist hingegen, dass man ausgerechnet diese Farce auserkor, um auf der horizontalen Erzählebene an den „Tatort: Der Fall Holdt“ anzuknüpfen, der im Jahre 2017 zu einer Zäsur innerhalb des Lindholm-Asts der Reihe führte. Plötzlich zaubert man eine weitere Leiche aus dem Hut. Dass die rothaarige Choleriker-Bullette Zimmermann Dreck am Stecken hat, wird dem Publikum recht früh vermittelt und ändert nichts daran, dass man es am Ende mit einem reichlich überkonstruierten Mumpitz zu tun hat, dessen Finale als Tanz inszeniert wird. Das war eher nix. Ich vermisse Weimar…
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Polizeiruf 110: Keiner von uns

„Du bist vielleicht Freds Sohn, aber keiner von uns!“

Mit seiner 24. Episode endete Charly Hübners „Polizeiruf 110”-Ära als Rostocker Kommissar Alexander Bukow an der Seite Katrin Königs (Anneke Kim Sarnaus). Der Titel „Keiner von uns“ ist angelehnt an Hübners und Sarnaus ersten „Polizeiruf 110: Einer von uns“ aus dem Jahre 2010. Der im Herbst und Winter 2020 von Regisseur Eoin Moore gedrehte Fall ist Moores zwölfter Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe, von denen die meisten aufs Team Bukow/König entfallen. Das Drehbuch verfasste Moore zusammen mit Anika Wangard.

„Entschuldigung, sind Sie alkoholisiert?“

Ausgerechnet als Bukow nach dem Tod seines kriminellen Vaters komplett mit seiner Halbwelt-Vergangenheit abschließen und mit Kollegin König ein neues Leben in trauter Zweisamkeit beginnen will, wird der Clubbesitzer Andrej „Tito“ Titolew (Alexandru Cirneala, „Operation Zucker“) getötet aufgefunden. Zunächst sieht es nach Raubmord aus, denn die gesamte Abendkasse des Konzerts mit Jo Mennecke (Bela B. Felsenheimer, „Richy Guitar“) fehlt. Der Musiker ist daher zunächst der Hauptverdächtige, und tatsächlich gab es einen nonverbalen Disput zwischen ihm und Tito, doch die Autopsie ergibt, dass Tito erst zu einem späteren Zeitpunkt seine tödlichen Verletzungen erlitten hat. Die Spur führt bald ins Milieu, denn der Serbe Zoran Subocek (Aleksandar Jovanovic, „Der Kroatien-Krimi“) wurde just aus der Haft entlassen, ist zurück in Rostock und möchte in die Fußstapfen Bukow Seniors treten – wie auch der Rechtsextremist Marlon „Der Falke“ Lemke (Oskar Bökelmann, „Petting statt Pershing“). Bukow und König geraten zwischen die Fronten beider Männer, Bukow wird zudem von Subocek mit Beweismaterial bezüglich zurückliegender Beweismittelfälschungen erpresst. Bukow stehen schwere Entscheidungen bevor…

„…weil du im Grunde deines Herzens ein Verbrecher bist!“

Hübners bzw. Bukows Abschied ist ebenso emotional wie spannend und macht Tabula rasa, angefangen bei Bukows und Königs Plänen, für die Polizei Interessantes aus dem Besitz Bukows Vaters der Polizei zu übergeben und den Vorgesetzten eigene Verfehlungen zu gestehen. Doch da platzt Subocek wie ein alter Geist aus der Vergangenheit herein und stellt alles auf den Kopf. Man belauert sich, heckt Pläne aus, stellt Fallen – und doch kommt stets alles anders als gedacht, und zwar für alle Parteien. Bukows und Königs junges Beziehungsglück droht in der Gemengelage aus aktuellen Bedrohungen und einen einholender Vergangenheit gnadenlos zerrieben zu werden. Die Luft ist dick und wird von manch Pistolenkugel zerrissen, dazu wabert beständig angemessen unheilvolle Hintergrundmusik. Selbst Rostocks bunte Einkaufsmeilen wirken hier grau, doch wann immer es allzu schwer und düster zu werden droht, werden Figuren am Rande zur Karikatur präsentiert. Und dieses „am Rande“ sorgt für eine beunruhigende Unberechenbarkeit.

Was das horizontale, also über mehrere Episoden hinweg erzählte Narrativ an losen Enden bot, wird hier aufgelöst. Stallgeruch, den man nie loswird, Loyalität, die eingefordert wird und zur Disposition steht, die Grenzen von Recht und Unrecht, von Wahrheit und Lüge, der schmale Grat zwischen Gesetzeshüter und Verbrecher, zwischen Courage und Selbstjustiz – all dies wird aufgeworfen, verhandelt, ausgelotet und eskaliert in einem Showdown, an dessen Ende einige Fragen ein für allemal geklärt sind, aber andere aufgeworfen werden und beantwortet werden müssen. Bela B. als Jo Mennecke ist lediglich ein zwar gern angenommenes und die Ereignisse etwas auflockerndes, sich letztlich aber klar unters von Zweifeln geplagtes Bukow/König-Drama unterordnendes Gimmick.

Diese Mischung aus Krimi, Polizei-Thriller und fatalistischem Liebesfilm dürfte Freunde der Rostocker „Polizeirufe“ nicht kaltlassen, andere werden hingegen eventuell Probleme haben, sich in die Gefühlswelt der Figuren hineinzufühlen oder der Handlung zu folgen. Hübner dominiert seinen letzten Fall, bevor seine Ehefrau zukünftig Sarnau für weitere Rostocker Episoden zur Seite gestellt wird. Danke, Charly, für eine der gelungensten zeitgenössischen deutschen Fernsehkrimireihen – und den Macher(inne)n hinter ihr wünsche ich weiterhin ein gutes Händchen bei der Wahl der Geschichten, ihrer Regisseure und ihren Besetzungen.
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Madonna in: A Certain Sacrifice

Als Madonna noch Punk war

Der zwischen 1979 und 1981 gedrehte, rund einstündige Film „Madonna in: A Certain Sacrifice“ war ein Projekt des US-amerikanischen Filmstudenten Stephen Jon Lewicki. Die Mischung aus Exploitation-Drama und experimentellem Amateurfilm wurde erst 1985, nachdem Darstellerin Madonna zur überaus populären Popsängerin avanciert war, per Videoveröffentlichung einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Madonna klagte daraufhin gegen die Veröffentlichung, unterlag jedoch vor Gericht.

Die junge, attraktive Bruna (Madonna, „Susan… verzweifelt gesucht“) hat ein „Liebessklaven“ genanntes, gemischtgeschlechtliches Trio um sich geschart, das ihr treu ergeben ist. Eines Tages verliebt sie sich in den juvenilen Herumtreiber Dashiel (Jeremy Pattnosh), der wiederum in einer Kneipe den reaktionären Kriegsveteran Raymond Hall (Charles Kurtz) kennenlernt, als dieser ihn ungefragt vollquatscht. Dashiel bleibt gelassen, macht Raymond aber unmissverständlich klar, dass er auf seine Bekanntschaft keinerlei Wert legt. Dies kann Raymond jedoch nicht auf sich sitzen lassen und beginnt, Dashiel zu terrorisieren – was darin mündet, dass er Dashiels neue Freundin Bruna auf einer Imbisstoilette vergewaltigt. Dashiel, Bruna und ihre Liebessklaven schwören grausame Rache…

Der hierzulande auch als „Madonna – Die Rache der Liebessklaven“ vermarktete Film ist ein dreckiges Stück New Yorker Underground, das auf billigem 8-mm-Schmalfilm gedreht wurde. Darauf weist auch eine Texttafel zu Beginn hin, die sich vorauseilend für die Limitierungen dieses Mediums entschuldigt. Das verwaschene, häufig zerkratzte Bild verleiht dieser überwiegend mit Laidendarstellerinnen und -darstellern gedrehten Studentenarbeit indes einige Authentizität, dürfte dafür aber jegliches Madonna-Mainstream-Publikum abschrecken. Bisweilen etwas unbeholfen auf Neo-noir getrimmt mutet es an, wenn der Off-Erzähler recht ausschweifend die Figuren vorstellt oder Handlungselemente erzählt, die im Gegenzug – vermutlich aus Zeit- oder Budgetgründen – nicht gezeigt werden. Seinen experimentellen Anstrich erhält „A Certain Sacrifice“, wenn einzelne Sequenzen – vornehmlich Liebesszenen – in Videoclip-Manier zu Underground-New-Wave-Songs ablaufen, die mal mehr, mal weniger hörenswert sind und offenbar hauptsächlich von Pattnosh persönlich eingesungen wurden, der auch am Drehbuch beteiligt war.

Madonna, die hier hin und wieder Einblicke in ihre Oberweite gewährt, wird zur Schlüsselfigur der Handlung, deren Vergewaltigungsszene dankenswerterweise nicht grafisch ausgekostet, jedoch Anlass für einen Rachefeldzug wird. An dessen Ende steht eine Punk-Performance, bei der (Achtung, Spoiler!) Raymond rituell zerlegt und anschließend verstoffwechselt wird. Diese Zuspitzung der Ereignisse ist in ihrer Radikalität dann doch überraschend, verleiht jedoch der Wut der Protagonistinnen und Protagonisten auf Typen wie Raymond und wofür sie stehen, auf ihre Macht, die sie sich einfach nehmen, ihren Machismo und Sexismus, ihre sexuelle Ausbeutung anderer und ihre Gewalttätigkeit, Ausdruck.

Das macht „A Certain Sacrifice“ für am New Yorker No-Budget-Underground der späten Siebziger bis frühen Achtziger Interessierte zu einer sehenswerten urbanen Revolte, auch ganz ohne Madonna-Bonus.
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Motzki

„Das Leben ist nirgendwo so schön als wie bei uns hier.“

Der deutsche Drehbuchautor Wolfgang Menge war dafür bekannt, den Deutschen sehr genau aufs Maul zu schauen und seine Beobachtungen satirisch zu verarbeiten. Seine populärste Figur ist der reaktionäre Kleinbürger Alfred Tetzlaff, Hauptfigur der SitCom „Ein Herz und eine Seele“ aus den 1970ern. An jenes Konzept knüpfte er an, als er die Figur Friedhelm Motzki für die 13-teilige SitCom „Motzki“ ausarbeitete, einen frustrierten West-Berliner Frührentner, der seine eigene Verbitterung nach dem Tod seiner Frau auf die ostdeutsche Bevölkerung und die deutsch-deutsche „Wiedervereinigung“ projiziert. Die im Jahre 1993 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlte Serie wurde von Regisseur Thomas Nennstiel („Mocca für den Tiger“) inszeniert und sorgte für einige Kontroversen.

„Du wirst doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass ihr so Deutsche wart wie wir!“

Der ehemalige Fahrlehrer Fiedhelm Motzki (Jürgen Holtz, „Rosa Luxemburg“) lebt nach dem Tod seiner Frau Doris mit seiner ostdeutschen Schwägerin Edith Rosenthal ( Jutta Hoffmann, „Trotz alledem!“) und der ihm zugelaufenen „Osttöle“ Bismarck in seiner Wohnung im Berliner Wedding zusammen. Er beschäftigt Edith, die zu DDR-Zeiten in einem Kindergarten für MfS-Mitarbeiter(innen) arbeitete, als Haushälterin. Ihre Hilfe nimmt er wie selbstverständlich an, nicht ohne keine Gelegenheit auszulassen, über die DDR und ihre ehemaligen Bürger(innen) herzuziehen und sich regelrecht von der Stasi verfolgt zu fühlen. Das Politik- und Gesellschaftssystem der BRD ist für ihn das Maß aller Dinge und alle Schlechte kommt „von drüben“. Seine Nachbarin Carmen Schneppel (Elke Czischek, „Peng! Du bist tot!“), von ihm nur verächtlich „Schnepfe“ genannt, lehnt er aufgrund ihres (aus seiner Sicht) alternativen Lebensstils ab, was er sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit spüren lässt. Großen Gefallen findet er hingegen an den russischen Fotomodellen, die in einer Boutique in der Nachbarschaft arbeiten. Zu einem längeren Besuch quartiert sich seine naive Cousine Gisela Klipschitz (Eva Mattes, „Woyzeck“) aus Bonn ein, die nicht müde zu betonen wird, ihr Mann arbeite „im Bundestag“, was immerhin nicht gelogen ist: Er ist dort als Pförtner angestellt. Wirklich zu Motzki auf schaut nur der türkische Gemüsehändler Gülüsan Üksknürz (Albert Kitzl, „Wir können auch anders…“), der in ihm einen ganz normalen Deutschen sieht, sich mit ihm gutstellt und sämtliche ausländerfeindlichen Tiraden Motzkis geflissentlich zu überhören scheint, dafür aber dessen Vorurteile gegenüber „Ossis“ übernimmt.

„So grässlich, wie du tust, kann niemand sein!“ – „Ich schon!“

Die Serie beginnt drei Tage nach Doris‘ Tod, aber von Trauer oder Zuneigung zu seiner Frau ist bei Motzki keine Spur. Ihr Ableben sei gemein gewesen, schließlich lasse sie ihn jetzt allein mit all den Ausländern und dem ganzen „Zonenpack“. Motzki erspinnt die Verschwörungstheorie, Honecker und Mielke hätten die Wiedervereinigung selbst initiiert, und landet immer wieder auf dem Boden der Tatsachen, wenn er zusammen mit Edith Doris‘ Beerdigung vorbereiten muss, einem Verwandten Ükzknürz‘ beim Gebrauchtwagenkauf „behilflich“ ist, eine neue Waschmaschine anschafft und als notorischer Geizkragen die alte gratis zu entsorgen versucht, sich mit ungebetenem Besuch herumplagen muss oder auf die „faulen“ Bauarbeiter vor seiner Haustür schimpft. Mehr Freude bereitet ihm die Fotosession mit den russischen Mannequins in seiner Wohnung, weniger hingegen der Ausflug in den Spreewald mit seiner nach einem von ihm selbst verschuldeten Unfall zeitweilig auf den Rollstuhl angewiesenen Cousine sowie Edith und Ükzknürz, denn diese Spritztour fällt im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser.

„Sind Sie Friedhelm Motzki?“ – „Was denken Sie? Gregor Gysi?!“

Stets beschwört Motzki die Vorteile der Marktwirtschaft und holt zu Erklärungsversuchen gegenüber den ach so minderbemittelten Mitmenschen aus, doch je besserwisserischer er auftritt, desto härter fällt er selbst auf die Schnauze. Die ungebildete Cousine Gisela ist für die Vorurteile gegenüber Berlin zuständig und verkörpert mit ihrem doof-naiven wesen die überhebliche, aber tumbe Wessi-Tussi, die gar nicht merkt, wie viel Diskriminierendes eigentlich in ihren Äußerungen steckt. Der bevorstehende Regierungsumzug von Bonn nach Berlin wird häufig thematisiert, revisionistische und revanchistische Sprüche gen Polen abgesondert und gegen weibliche Emanzipation gewettert. Episode 11, „Wunder“, fällt etwas aus der Reihe, handelt es sich doch um eine köstliche Religionssatire. Die Heldin der Serie ist die stets um Ausgleich bemühte, nicht auf den Mund gefallene und empathische Edith, während der sich stets überlegen fühlende Motzki als genau der Kotzbrocken und zugleich armseliger Verlierer dargestellt wird, der er ist.

In der letzten Episode sucht Edith eine neue Anstellung als Kindergärtnerin, wird jedoch aufgrund ihrer „Stasi-Vergangenheit“ abgelehnt, womit die Serie erstmals über Motzkis Gepöbel hinaus den Finger in die Wunde tatsächlicher, seinerzeit ganz realer Probleme manch Ostdeutscher legt, die unverschuldet enorme Schwierigkeiten hatten, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Motzki sucht derweil nach einer neuen Haushälterin und gerät witzigerweise an eine Ostdeutsche, die exakt dem Stereotyp entspricht, das Motzki bis dahin permanent lediglich behauptet hatte: eine arbeitsscheue Frau mittleren Alters, die auf die Ausbeutung durch die Wessis schimpft. Das macht den Rundumschlag perfekt. Am Schluss kommt es in Motzkis Sitzgruppe zu einem Wortgefecht zwischen ihm und Edith, gefolgt von versöhnlichen Worten Ediths, die zugleich als Appell ans Publikum, man müsse miteinander auskommen, zu verstehen sind.

Dies wurde offenbar nicht von allen verstanden, ebenso wenig die bissige Ironie der Serie, die ja nun gerade nicht Motzkis Meinung untermauert, geschweige denn ihn als positive Identifikationsfigur anbietet. So wurden Forderungen nach einer Absetzung der Serie aufgrund seiner beleidigenden Tiraden laut, wobei anscheinend übersehen wurde, dass eigentlich ganz etwas anderes als problematisch ausgelegt werden könnte, nämlich die klischeebehaftete Darstellung Üksknürz‘, der zwar einerseits durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist, andererseits aber – offenbar kulturell geprägt – ein derartiger Sexist ist, dass er seine eigenen Frau kaum Rechte zugesteht. Natürlich gab und gibt es auch das in der Realität und mit Sicherheit wollten Menge & Co. genau diesem Menschenschlag auch einen mitgeben, de facto aber ist dadurch die einzige Migrantenfigur der Serie eher negativ konnotiert. Dass Edith in Episode 9 von Rechtsextremisten körperlich attackiert wird, wird hingegen nicht gezeigt, sondern lediglich in einem recht kurzen Dialog angesprochen – ansonsten bleibt das Thema Rechtsextremismus (Stichwort „Baseballschlägerjahre“) ausgespart.

Nichtsdestotrotz ist diese Serie, in der die ehemalige DDR zur Projektionsfläche für den Frust eines verbitterten alten weißen Mannes wird, eine humoristische Bestandsaufnahme der Nachwendezeit und damit ein aufschlussreiches Zeitdokument deutsch-deutscher Befindlichkeiten. Ihre theaterhafte Inszenierung erinnert stark an „Ein Herz und eine Seele“ und wirkte damit 1993 eventuell für ein US-SitComs gewohntes, jüngeres Publikum etwas altmodisch, auch ist die Pointendichte woanders bestimmt höher. Dennoch lohnt sich eine Wiederentdeckung, denn wie Motzki schlagfertig so politisch unkorrekt wie nur möglich vom Leder zieht, ist damals wie heute im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Deutschlands alles andere alltäglich, und Jürgen Holtz‘ Mut zur Hässlichkeit ist eine Wucht.

Der Mitteldeutsche Rundfunk antwortete noch im selben Jahr mit der Produktion der SitCom „Die Trotzkis“, in der eine sächsische Familie im Mittelpunkt steht. Die DVD-Auswertung liegt schon bereit, ich bin gespannt.
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Weihnachtsgeschichten

„Die machen ihr Weihnachtsprogramm in Adlershof ja nicht umsonst…“

Der DDR-Episodenweihnachtsfilm „Weihnachtsgeschichten“ aus dem Jahre 1986 wurde von der DEFA fürs Fernsehen produziert; die Regie führte Christa Mühl („Paulines zweites Leben“), die auch zusammen mit Hans Heinrich das Drehbuch verfasste. Vornehmlich bewegt man sich im komödiantischen Bereich, mit dem einen oder anderen Ausflug ins Dramatische. Die Anthologie umfasst sieben miteinander verwobene Episoden, deren Titel jeweils eingeblendet werden:

In „Das schönste Geschenk“ soll der sechsjährige Matthias aus dem Krankenhaus entlassen werden, besteht jedoch darauf, dass seine voneinander getrenntlebenden Eltern mit ihm zusammen das Weihnachtsfest feiern. In „Verwirrung“ kommt es für Frau Dr. Becker (Ursula Karusseit, „Märkische Chronik“) zu einer peinlichen Tischverwechslung in einem Stehimbiss. „Zwei unter einen Hut“ bringt die Episode, in der Günter (Henry Hübchen, „Alles auf Zucker“) schon zu Beginn seiner Reise ins Erzgebirge in einen Verkehrsunfall verwickelt wird und Rose (Ute Lubosch, „Glück im Hinterhaus“), die eigentlich nach Hiddensee wollte, erst im Krankenhaus und schließlich bei Günter landet. „Blumen für Ilse“ wird Herr Höflich (Horst Hiemer, „Bockshorn“) erst spät los: Ilse ist seine Ex-Frau, die er diesmal nicht antrifft und stattdessen eine Kneipenbekanntschaft (Annemone Haase, „Lotte in Weimar“) kennenlernt, die ihm gegenüber darüber schwadroniert, dass der Wirt neu geheiratet habe – nämlich eine Frau, die vorher mit einem echten Tunichtgut liiert gewesen sei… „Zwei Divas in aller Stille“ sind Höflichs Schwester Lydia (Lisa Macheiner, „Orpheus in der Unterwelt“) und deren Freundin Sibille (Inge Keller, „Ärztinnen“), zwei bekannte Theaterschauspielerinnen, die sich alljährlich zu Weihnachten treffen, wobei es diesmal überraschenderweise dann doch nicht ganz so still zugeht. „Liebesgaben“ überreichen sich die beiden Schauspieler Romeo (Uwe Teufer, „Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache“) und Julia (Annette Richter, „Wahnfried“), obwohl sie sich eigentlich nichts schenken wollten, und lernen dabei Erich Kern (Kurz Böwe, „Polizeiruf 110“) kennen, der den (letzte Episode:) „Ersatz-(weihnachts)mann“ für Familie Wuttke spielen soll, weil sein Kumpel Willy, der diese Aufgabe in der Vergangenheit liebend gern übernommen hat, leider im Krankenhaus liegt. Dabei kommt es zu mehreren Verwechslungen…

Zugegeben, die Auftaktepisode lässt mit ihrer kitschigen Ausrichtung zunächst einmal nicht allzu viel Gutes erwarten und unterhält eher unfreiwillig mit Kopfschmuck, bei dem man sich nicht sicher ist, ob es sich noch um Frisur oder schon um Mütze handelt. Doch sobald der Schokoweihnachtsmann wie ein Staffelstab übergeben wird und die nächste Episode einleitet, erobert „Weihnachtsgeschichten“ mein Herz. Zu köstlich ist Frau Dr. Beckers Mimenspiel, wenn sie dem dunkelhäutigen jungen Mann (Pierre Sanoussi-Blisss, „Der Snob“) ein Essen wegisst, weil sie glaubt, er habe sich über ihre Mahlzeit hergemacht. Dieser nimmt’s mit Humor, wie auch die ganze Episode sehr witzig ausgefallen ist, und gibt damit die vergnügliche und zugleich herzliche Marschrichtung vor, die der in Ost-Berlin an Heiligabend zu Mitte der 1980er spielende Film im weiteren Verlauf nicht verlassen wird. Der Schokoweihnachtsmann wird wie eine Art Wanderpokal von Episode zu Episode weitergereicht und verbindet sie und ihre Figuren so sehr gekonnt miteinander.

So ist dann auch der Unfall in „Zwei unter einen Hut“ nach der ersten Aufregung kein Weltuntergang, sondern dazu geeignet, zwei Menschen auf eine Weise zueinander zu bringen, dass beide davon profitieren. Hier in seinem Beruf als Arzt zu sehen: der dunkelhäutige junge Mann aus der vorausgegangenen Episode. Ernas Kodderschnauze in „Blumen für Ilse“ bricht die melancholische Ausrichtung der Episode humorig auf, ihre Pointe sieht man irgendwann kommen und wird bestätigt. „Zwei Divas in alter Stille“ ist eine wundervolle Ehrerbietung an alternde Schauspieldiven mit parodistischen Zügen, die voller spitzzüngiger Dialoge steckt und auf eine gelungene Überraschung zusteuert, während „Liebesgaben“, inspiriert von O. Henrys Kurzgeschichte „Das Geschenk der Weisen“, in der S-Bahn spielt, es schafft, die besondere Stimmung, am Heiligabend mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein, einfängt, und neben einer gelungenen Pointe den Protagonisten der finalen Episode einführt: Mit dem Schokoweihnachtsmann in der Hand platzt er bei der falschen Familie rein, lernt dort aber eine neue Freundin (Walfriede Schmitt, „Eine sonderbare Liebe“) kennen.

Im Stile einer Verwechslungskomödie, bei der auch ein „doppeltes Lottchen“ eine Rolle spielt, macht auch diese Episode Spaß, an deren Ende der Charité-Pförtner seinen Schokoweihnachtsmann zurückerhält – er besaß ihn als Erster – und endlich genüsslich hineinbeißt. Dieter Mann („Levins Mühle“) spielt nicht nur diese Rolle, sondern hat versteckte Auftritte in allen sieben Episoden – genaues Hinsehen lohnt sich! Dies gilt auch für das ‘80er-DDR-Zeitkolorit in Bezug auf Mode, Interieur – und Weihnachtsgeschenke: die Amiga-Pressung der „Thriller“-LP Michael Jacksons!

„Weihnachtsgeschichten“ ist ein liebevoll gestalteter Fernsehfilm mit viel Herz und sympathischem, leiserem Humor, der sich prima eignet, um in Weihnachtsstimmung zu kommen – und in einen Ost-Berliner Heiligabend zu DDR-Zeiten hineinzuschnuppern…
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Tatort: Wodka Bitter-Lemon

Buddha bei die Fische

„Höchstwahrscheinlich Zyankali! Die roten Flecken am Körper, der Geruch nach Bittermandel, das deutet darauf hin.“

Für den vierten Fall des Essener Kommissarduos Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) verfilmte Regisseur Franz Peter Wirth („Eisenwichser“) ein Drehbuch Henry Kolarz‘. Es handelt sich um Wirths erste von nur zwei „Tatort“-Episoden seiner Karriere, dafür aber um ein Jubiläum: Es ist der 50. „Tatort“, erstausgestrahlt am 13. April 1975.

„Ausgeschlossen! Das macht meine Tochter nicht.“

Martin Koenen (Heinz Bennent, „Possession“), Chef des größten Essener Betriebs, einem Chemiewerk, gabelt abends die Anhalterin Irene Lersch (Sabine von Maydell, „Wehe, wenn Schwarzenbeck kommt“) – eine Azubine seines Unternehmens – auf und nimmt sie mit zu sich nach Hause. Noch während sie dort den ersten Drink zu sich nimmt, plagen ihn bereits Gewissensbisse, doch als er aus dem Badezimmer zurückkehrt, liegt Irene bereits tot auf dem Fußboden der herrschaftlichen Familienvilla. Um einen Aufruhr um seine Person zu vermeiden, drapiert er sie nachts heimlich auf einer Parkbank. Dennoch sind Kommissar Haferkamp und Konsorten schnell zur Stelle und verhaften Koenen, der seine Unschuld beteuert. In der Gerichtsmedizin wurde eine Zyankalivergiftung diagnostiziert. Aber weshalb hätte die attraktive junge Frau sich umbringen sollen? Haferkamp ahnt, dass Martin Koenen unschuldig ist, und sieht sich in dessen Familie um, die einen dysfunktionalen Eindruck macht: Martins Schwester Adele (Margot Trooger, „Pippi Langstrumpf“) lässt kein gutes Haar an dessen wesentlich jüngerer Ehefrau Petra (Claudia Amm, „Madman“), die wiederum nicht sonderlich glücklich mit Martin verheiratet ist…

„Hier wird nichts geändert. Alles bleibt so, wie es war.“

Aufgrund der Exposition, in der Irene auch oben ohne vorm Spiegel posiert, weiß man als Zuschauerin oder Zuschauer, dass Martin unschuldig ist. Da dessen Frau Petra sich währenddessen in München aufhielt, telefoniert Haferkamp mit dem Münchner Kommissar Veigl (Gustl Bayrhammer), womit der damals obligatorische Gastauftritt eines „Tatort“-Ermittlers aus einer anderen Stadt untergebracht wäre. Und natürlich besucht Haferkamp wieder seine Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum), dazu später mehr. Martins Familie lernen wir als überaus bourgeois und eine Art Matriarchat kennen, ihr Oberhaupt ist Martins streng konservative Mutter (Lil Dagover, „Die seltsame Gräfin“). Etwas länger als unbedingt nötig integriert Wirth (respektive der Cutter) Bilder vom Springreiten, an dem sich Petra beteiligt, bevor sich Haferkamp an ihre Fersen heftet. Er versucht, von ihr mehr über Martin, seine Ehe und seine Familie zu erfahren.

„Man heiratet nicht nur einen Mann, man heiratet auch seine Familie…“

Petra entpuppt sich als sehr moderne junge Frau, die nicht so recht in die Familie passen will – was auch Anlass für Konflikte ist. Haferkamp und Petra scheinen mitunter fast miteinander zu flirten. Ist sie die Mörderin und wenn ja, warum? Der Giftanschlag galt offenbar Martin und nicht der Anhalterin. Oder ist Adele die Täterin, um die Konzernleitung an sich zu reißen? Martin verschwindet erst einmal aus der Öffentlichkeit, sie leitet das Unternehmen derweil kommissarisch. Plötzlicher Szenenwechsel, die Nordseeinsel Sylt: Haferkamp spannt Ingrid während eines Spaziergangs durch die Dünen als Hilfspolizistin ein. Sie soll eine Galerie am Strand aufsuchen, die überraschenderweise bestens besucht ist, sogar eine Gruppe Motorradfahrer(innen) macht dort Halt und es läuft Hardrock! Diese Szenerie bildet einen starken Kontrast zur miefig-konservativen und machtversessenen Atmosphäre innerhalb Martins Familie. Die dort ausgestellten Bilder bekommt man indes leider nicht zu sehen, dafür Petra, deren Liebhaber Joschi (Sky du Mont, „Otto – Der Film“) der Galeriebetreiber ist und in Geldnöten steckt.

„Herr Haferkamp, Sie sind ein gefährlicher Mann!“

Prompt wird Ingrid angegraben und zu einer Strandparty eingeladen, die das Hippieklischee von Manipulationsversuchen unter dem Deckmantel „freier Liebe“ erfüllt: Ingrid bekommt eine in einen Eiswürfel eingefrorene Perle in ihren Drink und „darf“ dafür die Nacht mit Nino (Klaus Grünberg, „Zum Abschied Chrysanthemen“) verbringen. Sie verzichtet dankend, hat damit aber herausgefunden, wie das Gift in Irenes Getränk gelangte. Für Haferkamp ist der Fall damit klar, wenngleich es sich eigentlich eher um Indizien denn um handfeste Beweise handelt. Bis dahin überzeugte „Wodka Bitter-Lemon“ mit seiner Herangehensweise, komplett ohne Schusswaffen oder Actionszenen auszukommen, und trotzdem durchaus spannend und unterhaltsam zu sein. In zugegebenermaßen etwas betulichem Erzähltempo steht die Psychologie der Figuren, das, was sich in ihren Gesichtszügen ablesen und zwischen den Dialogzeilen heraushören lässt, im Vordergrund. Die für einen Essener „Tatort“ ungewöhnlichen Drehorte sorgen für willkommene Abwechslung.

Wirth verknüpft versiert zwei Handlungsstränge miteinander, während die Handlung mitunter etwas sprunghaft und konstruiert anmutet. Schade, dass Kreutzer hier eine derart untergeordnete Rolle spielt, dass er kaum zum Zuge kommt, während Ingrid ihn gewissermaßen auf die Plätze verweist. Überhaupt wird dieser „Tatort“ von Frauen unterschiedlichster Art bestimmt, was interessante Perspektiven ermöglicht und unter die sich Haferkamp biertrinkend und rauchend mischt. Dass Martin sich letztlich als charakterlich integer herausstellt, ist ein schöner Kniff und der leisere, unauffällige Teil der Pointe, der zu seiner leisen, unauffälligen Art passt wie eine Perle in einen Eiswürfel.
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Die Weihnachtsklempner

„Ich bin Klempner von Beruf, ein dreifach Hoch dem der dies gold'ne Handwerk schuf…“ (Reinhard Mey)

Die TV-Weihnachtskomödie „Die Weihnachtsklempner“ entstand nach einem Drehbuch Peter Graetz‘ und unter der Regie Helmut Krätzigs, erstausgestrahlt wurde sie am 23. Dezember 1986 im Fernsehen der DDR.

Die beiden Klempner Martin (Ulrich Thein, „Fünf Patronenhülsen“) und Frank (Daniel Minetti, „Martin Luther“) schieben ausgerechnet an Heiligabend Bereitschaft für den Reparatur-Schnelldienst der KWV Berlin-Mitte. Dem einsamen 45-jährigen Witwer Martin kommt dies ganz gelegen, so braucht er an Heiligabend nicht allein zu Hause zu sein. Sein jüngerer Kollege glaubt, dass er eine ruhige Kugel schieben könne, da niemand am 24. Dezember einen Klempner benötige, was seine hochschwangere Freundin Regina (Janina Hartwig, „Jugendweihe“) jedoch kritisch sieht. Und tatsächlich kommt es anders; schon bald ruft der erste von mehreren Einsätzen, sodass er Regina alleinlassen muss. In ihrem Barkas sind sie per Funk mit Schichtleiter Albert (Arno Wyzniewski, „Ernst Thälmann“) verbunden, der sie von Einsatz zu Einsatz lotst, während Frank mit der Situation hadert und in Gedanken bei Regina ist – bei der dann auch just die Wehen einsetzen…

Eigentlich trifft es „Dramödie“ eher, denn „Die Weihnachtsklempner“ hat mehrere dramatische Momente, dafür jedoch keinerlei Schenkelklopferhumor. Martin und Frank verschlägt es zu Familie Schieler (u.a. Heidrun Welskop, „Weiße Wolke Carolin“ und Wolfgang Greese, „Spuk unterm Riesenrad“), der ausgerechnet an Heiligabend einfällt, dass der schon länger defekte Spülkasten doch einmal repariert werden sollte. Frank, der viel lieber bei seiner Regina wäre, macht dies wütend, doch Martin reagiert ausgleichend und deeskalierend. Anschließend erfährt Frank, dass Regina mit dem Taxi ins Krankenhaus gefahren ist, wohin er ebenfalls eilt, jedoch nicht zu ihr gelassen wird. Franks Laune ist nun endgültig im Keller, als es ihn mit Martin zu Herrn und Frau Bartsch (Marianne Wünscher, „Zille und ick“ und Peter Kalisch, „Der Baulöwe“) verschlägt. Das seit 37 Jahren verheiratete Ehepaar hat einen Rohrbruch erlitten, was es jedoch nicht daran hindert, den Handwerkern Kaffee und Stollen zu kredenzen. Hier kann Frank zudem die eine oder inspirierende Weisheit über das Geheimnis langer glücklicher Ehen mit nach Hause nehmen, während Martin kurzerhand als Weihnachtsmann bei der Nachbarsfamilie einspringt und seinen Bereitschaftsdienst somit recht weit fasst.

Dass Albert Frank inzwischen ausrichten kann, dass er Vater geworden ist, hellt seine Stimmung auf; im Anschluss ist es Martin, der die Contenance zu verlieren droht: Er beobachtet einen Sturzbetrunkenen (Peter Bause, „Hälfte des Lebens“), der in ein Auto einsteigen will. Prompt fühlt sich Martin an den Tod seiner Frau erinnert, die von einem Betrunkenen im Straßenverkehr in einen tödlichen Unfall verwickelt wurde, und hält den Mann daher mit vollem Körpereinsatz von dessen Vorhaben ab. Letztlich stellt sich heraus, dass es sich um ein Missverständnis handelte; nichtsdestotrotz kennt das Publikum nun Martins Achillesferse und ist der Film um eine tragische Komponente reicher.

Das erlösende Schichtende um 22:00 Uhr naht, als es zur alleinerziehenden jungen Mutter Rita (Petra Blossey, „Front ohne Gnade“) geht, die mit ihrem Baby ziemlich improvisiert in einer noch nicht fertig ausgebauten Wohnung lebt – zu Franks Entsetzen. Rita sind jedoch keine Vorwürfe zu machen, denn fürs Baby ist gut gesorgt, wäre da nicht das sie zur Verzweiflung treibende überschwemmte Badezimmer, verursacht durch eine verstopfte Abwasserleitung, die die ignorante, garstige Nachbarin Frau Müller (Barbara Dittus, „Die Toten bleiben jung“) zu verantworten hat. Diese beansprucht auch mehr Kellerplatz, als ihr zusteht, wodurch sich Rita gezwungen sah, ihre Kohlen vors Hauptventil zu schaufeln. Frank winkt schon wieder ab und will erst wiederkommen, wenn Rita die Kohlen eigenhändig beiseitegeräumt habe. Der sensible, empathische Martin hingegen erkennt die schwierige Lage der überforderten Mutter und geht ihr schließlich zur Hand, während Frank das Baby hütet und somit schon einmal „üben“ kann.

Am Ende wendet sich alles zum Guten, was insbesondere Martins Herangehensweise an alle dieser Abend bietenden Herausforderungen zu verdanken ist. In Rita findet er sogar eine potenzielle neue Lebensgefährtin. Das liest sich jetzt vielleicht nach etwas zu viel des Guten, und, ja: Sicherlich wird hier relativ staatstragend ein Idealbild eines sozialistischen Arbeiters vermittelt. Dafür spart die Handlung jedoch nicht an real existierenden, konkreten Problemen, die benannt werden und für die Lösungswege aufgezeigt werden. In diesem Zuge werden universelle Werte hinsichtlich Partnerschaft, Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität vermittelt, eingebettet in eine liebevoll gestaltete, herzliche Geschichte mit einem kitschfreien Happy End, die zudem ohne allzu große Unwahrscheinlichkeiten auskommt.

Das ist Balsam für die Seele nach einem arbeitsreichen Jahr und insbesondere durch Ulrich Theins schauspielerische Leistung als rau-charmantem, bodenständigem Berliner mit einem Herz aus Gold und scharfzüngigen Dialogen überaus gelungene, ermutigende Unterhaltung. Zurecht erhielt Thein hierfür 1987 den DDR-Filmpreis Goldener Lorbeer.
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Die Toten vom Bodensee: Das zweite Gesicht

„Nur wer alle Einzelheiten kennt, weiß, wie das Große und Ganze funktioniert!“

Vierzehn Episoden dieser öffentlich-rechtlichen deutsch-österreichischen Fernsehkrimiserie um die österreichische Kriminalinspektorin Hannah Zeiler (Nora Waldstätten) und den deutschen Kriminalhauptkommissar Micha Oberländer (Matthias Koeberlin) brauchte es, bis ich mir eine angesehen habe: „Das zweite Gesicht“ wurde Anfang 2022 erstausgestrahlt und entstand, nachdem Regisseur Michael Schneider die vorausgegangenen sechs Episoden inszeniert hatte, unter der Regie Christian Theedes („Allein gegen die Zeit – Der Film“) , der damit innerhalb der Reihe debütierte. Auch beim Drehbuch änderte sich die Personalie: Statt wie beim Großteil der Episoden von Timo Berndt wurde diese Episode von Jeanet Pfitzer, Frank Koopmann und Roland Heep geschrieben.

„Verdammt, das gibt’s doch gar nicht!“

Die siebzehnjährige Lisa Schwegelin (Anna Herrmann, „Tatort: Hetzjagd“) wird bei der Polizei vorstellig, um sich als Zeugin für einen Mord zu Verfügung zu stellen, der jedoch noch gar nicht stattgefunden hat. Kriminalinspektorin Hannah Zeiler eilt dennoch zum Bregenzer Naturgeisterfest, das Teil Lisas Vision war. Und tatsächlich wird dort kurz nach ihrer Ankunft exakt jener Mann von einem maskierten Täter erstochen, von dem Lisa gesprochen hatte. Wie konnte Lisa das voraussehen? Damit nicht genug: Auch ein zweiter Mord erscheint ihr und findet in der Realität statt. Hat Lisa das „zweite Gesicht“ oder gibt es eine rationale Erklärung? Als die Ermittlungen ein mögliches Tatmotiv Lisas ergeben, gerät sie unter Mordverdacht…

„Ich hab’ so was nicht, weißt du?“

Alles beginnt mit einem maskierten Tanzritual auf dem Bregenzer Naturgeistfest, wo einer der Tänzer erstochen wird. Dieser Einstand entpuppt sich als Lisas Vision. Zeiler schraubt derweil an ihrem Moped, offenbar möchte sie mit ihrem Freund ein schwedischen Ferienhaus bereisen. Dies reicht bereits aus, um die hagere Kommissarin mit dem kantigen Gesicht und den strenggeflochtenen Haaren als offenbar nicht fest gebundene, unabhängige, selbstbewusste, freiheitsliebende Frau zu charakterisieren, die zudem technisch versiert ist und am liebsten alles selbst macht. Dass der eingangs gezeigte Mord erst noch geschehen wird, erfährt das Publikum durch Lisas Besuch auf der Polizeistation. Der Täter wird mit Schatteneffekten und ähnlichem wie in einem Horrorfilm inszeniert; einen harschen Kontrast bilden dazu die wundervollen Naturpanoramen und Drohnenkameraflüge über die Region im deutsch-österreichisch-schweizerischen Grenzgebiet sowie die Alpakafarm, auf der die scheue und verunsichert wirkende Lisa zusammen mit ihrem älteren Bruder Marco (Christoph Luser, „Tatort: Wendehammer“) lebt. Dieser will Lisas offenbar besondere Fähigkeiten nicht wahrhaben und versucht, sie vor der Öffentlichkeit zu schützen.

„Wir können Ihnen helfen!“

Zeiler „ermittelt“ ganz nebenbei auch im Privatleben ihres Kollegen Oberländer bzw. dessen neuer Freundin Miriam (Martina Ebm, „Dennstein & Schwarz“), denn diese ist vorbestraft und Zeiler misstraut ihr. Hat sie möglicherweise selbst Interesse an Oberländer? Damit hätten wir wohl die horizontale Erzählebene, die sich über mehrere Episoden erstreckt. Aufgelöst wird diesbezüglich hier nichts. Verdächtig ist, dass die Ehefrau des ersten Opfers eine lesbische Affäre unterhält. Das zweite Mordopfer wiederum hatte es sich als Geschäftsmodell auserkoren, insolvente Hotels aufzukaufen, u.a. von jener lesbischen Affäre – also werden beide Frauen verhört. Ungefähr nach der Hälfte der Spielzeit wird eine Wendung installiert, durch die einiges klar wird. Nun stellt sich die Frage, ob die Handlung spannend weitergehen wird oder ihr Pulver bereits verschossen hat.

Es kann Entwarnung gegeben werden, denn es wird nicht bei dieser einen Wendung bleiben. Die stets schnell schaltende Inspektorin gräbt sich mit Kombinationsgabe und Empathie weiter in die mysteriösen Fälle hinein, watet durch einen immer unappetitlicher werdenden Morast aus sexualisierter Gewalt, Machtmissbrauch, psychischer Erkrankung und immer weiteren sich auftuenden menschlichen Abgründen. All dies scheint um Lisa als Bezugspunkt zu kreisen, deren visualisierte Hypnosesitzung Lust auf einen Waldspaziergang macht, während ihre über die Laufzeit verteilten Visionen und Erinnerungen mittels grafischer Effekte verfremdet werden und lange Zeit rätselhaft bleiben. Die wendungsreiche zweite Hälfte bietet immer neue Entwicklungen, hätte hier und da etwas mehr Pepp vertragen können, ist aber durchaus spannend und unterhaltsam geraten. Regisseur Theede lässt die fesseln zuweilen lockerer, um sie dann gerade rechtzeitig wieder anzuziehen.

Für eine TV-Serienproduktion ist das Niveau überraschend hoch und die Geschichte sehr ausgeklügelt, immer den Rand des etwas arg Unwahrscheinlichen streifend, ohne ihn jedoch in Richtung unglaubwürdig zu überschreiten – sieht man vom gezeichneten übertriebenen Idealbild der Polizei einmal ab. Anna Herrmann und Christoph Luser tun sich schauspielerisch expressiv hervor, während Waldstätten als Zeiler – vermutlich rollenimmanent – relativ distanziert bleibt und Koeberlin als Oberländer eindeutig die zweite Geige hinter ihr spielt. Alles in allem bin ich recht angetan von dieser Episode, die mit trutschiger Heimatverklärung nicht das Geringste zu tun hat, vielmehr die schöne landschaftliche Natur in Kontrast zur weniger schönen menschlichen Natur setzt – und als Warnung an Vergewaltiger verstanden werden darf. 7,5 von 10 Naturgeistmasken dafür!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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