Systemsprenger - Nora Fingscheidt (2019)

Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Systemsprenger - Nora Fingscheidt (2019)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Systemsprenger

Produktionsland: Deutschland 2019

Regie: Nora Fingscheidt

Darsteller: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub, Victoria Trauttmansdorff


Mindestens dreimal habe ich seinerzeit den Trailer von SYSTEMSPRENGER im Kino gesehen, und jedes Mal dachte ich mir: Bleibt mir doch hinfort mit solch einem problemwälzerischen Film, der das Kino als Alibi nutzt, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen, die Möglichkeiten seines Mediums jedoch kein bisschen ausschöpft, sondern eher wirkt wie ein in Sozialkitsch getränktes Pamphlet, das als Offener Brief wesentlich besser aufgehoben wäre, weil es die Anklagepunkte dann nicht in eine formalistische Spielfilmhandlung hieven müsste, sondern konkret auf die als angreifenswürdig erachteten Feindziele zusteuern könnte.

Der Trailer suggerierte mir nämlich: Da ist ein neunjähriges Mädchen, das unter Aggressionsschüben leidet, weil es aus miserablem Elternhaus stammt, sich die Mutter schwertut, ihre Liebe zu erwidern, der Stiefvater ein grobes Schwein ist, und das zunächst von niemandem gebändigt werden kann, bis dann eben ein Sozialpädagoge mit eigener schwieriger Vergangenheit auftaucht, sie für eine gewisse Zeit auf einen erlebnispädagogischen Trip in eine Waldhütte ohne Strom und ohne fließendes Waser mitnimmt, und sie dadurch auf wundersame Weise "heilt", selbst aber natürlich auch von dem intensiven zwischenmenschlichen Kontakt profitiert, worauf uns am Ende ein strahlendes Happy End winkt, die Kleine entweder zurück zur ebenfalls inzwischen geläuterten Rabenmutter entlassen wird oder aber gar als Adoptivtochter des besagten Sozialarbeiters mit konfliktreicher Vergangenheit endet.

Tatsächlich entwickelt sich SYSTEMSPRENGER in seiner ersten halben Stunde durchaus in diese Richtung, nur läuft der Film dann eben noch neunzig Minuten weiter, und entpuppt sich im Nachhinein eher als zeitgenössisches Update von LES QUATRE CENTS COUPS – (in der Schlusseinstellung scheint Regisseurin Nora Fingscheidt Truffaut sogar direkt zu zitieren) – denn als didaktisches, sentimentales, schablonenhaftes Fernsehspiel für die große Leinwand. Ästhetisch-technisch schwingt sich der Film natürlich niemals über die semi-dokumentarische Handkamera-Authentizität hinweg, die für dergleichen Projekte der derzeit vorherrschende Stil zu sein scheint. Aber einmal abgesehen davon, dass die seinerzeit selbst gerade mal elfjährige Helena Zengel um ihr Leben spielt, - (ernsthaft, das muss man gesehen haben, wie dieser junge Mensch die komplette Palette von zügelloser Wut bis hin zu zärtlicher Zerbrechlichkeit bedient!) - hat mir besonders die elliptische Struktur des Films gefallen: Manchmal versteckt Regisseurin Fingscheidt entscheidende Informationen zwischen zwei Schnitten, setzt bewusst Leerstellen, die ich als Zuschauer zu füllen selbst angehalten bin, kaut nun wirklich nicht jede einzelne Emotion, jede einzelne psychologische Motivation ihrer Figur vor. Das gewinnt zwar gewiss nicht den Robert-Bresson-Preis der Schauwerteverweigerung, aber hat mich mit seinem realitätsnahen, eben nicht einer klassischen Dramaturgie entsprechenden Gestus doch ziemlich überrascht und dadurch begeistert...
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jogiwan
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Re: Systemsprenger - Nora Fingscheidt (2019)

Beitrag von jogiwan »

"Ein Kind bringt alles Glück der Welt ins Leben..."

Es gab ja vor einiger Zeit eine Doku namens "Elternschule" die mit einem ähnlichen Thema die Wogen im Internet ganz schön hochgehen ließ. "Systemsprenger" scheint wohl der Film dazu zu sein. :wink:
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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Adalmar
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Re: Systemsprenger - Nora Fingscheidt (2019)

Beitrag von Adalmar »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Di 9. Mär 2021, 11:40 Mindestens dreimal habe ich seinerzeit den Trailer von SYSTEMSPRENGER im Kino gesehen, und jedes Mal dachte ich mir: Bleibt mir doch hinfort mit solch einem problemwälzerischen Film, der das Kino als Alibi nutzt, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen, die Möglichkeiten seines Mediums jedoch kein bisschen ausschöpft, sondern eher wirkt wie ein in Sozialkitsch getränktes Pamphlet, das als Offener Brief wesentlich besser aufgehoben wäre, weil es die Anklagepunkte dann nicht in eine formalistische Spielfilmhandlung hieven müsste
Solche Überlegungen kenne ich, weshalb ich mich von dem Genre auch meistens fernhalte, hier sieht es jedoch vor allem aufgrund der schauspielerischen Leistung von Helena Zengel anders aus. Wie du richtig sagst, ist es erstaunlich, wie viele Gefühlslagen jemand in diesem Alter glaubwürdig wiedergeben kann. Das ist schon äußerst sehenswert. Auch finde ich den Ansatz von Fingscheidt, wie sie mit den gezeigten Problemen und offenen Fragen umgeht, sehr ansprechend. Sie gibt nämlich nicht vor, Antworten oder Rezepte zu haben oder alles aus einer überlegenen Perspektive kommentieren zu können, sondern appelliert einfach an die Aufmerksamkeit und Offenheit des Zuschauers.
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sid.vicious
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Re: Systemsprenger - Nora Fingscheidt (2019)

Beitrag von sid.vicious »

Da der Film in der ZDF Mediatheke angeboten wird, drängte sich die Sichtung freilich auf.

Nora Fingscheidts Inspiration scheint bei Truffaut (SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN) zu liegen, zumindest lassen sich für mich einige Gemeinsamkeiten lesen. Salvatore spricht es ja eingangs ebenfalls an. Der innert SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN aktive Hauptcharakter, Antoine Doinel, wird übrigens auch in das Urheberrätsel um die immer gern mit Richard Hell assoziierte Strubbelfrisur im Zeitalter von Prä-Punk eingebracht. Mit Punk hat das von Fingscheidt zentralisierte Mädchen (Bennie) jedoch rein gar nichts am Hut. Rebellion ist okay, Respektlosigkeit vertretbar - aber nicht so! Das Kind ist wahrscheinlich ein Teil dessen, was Satan als Rache für seinen Ausstoß aus dem Himmelreich definieren könnte. In einer Szene befürchtete ich etwas ähnlich Fieses wie man es in Klicks BÜBCHEN über sich ergehen lassen muss. Heitewitzka, die Hauptdarstellerin Helena Zengel haut in dem Film aber ganz mächtig auf den Putz! Was das Mädel in der Rolle abzieht ist extrem erschreckend und wirkt einhergehend durch und durch glaubwürdig.
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Reinifilm
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Re: Systemsprenger - Nora Fingscheidt (2019)

Beitrag von Reinifilm »

Wird übrigens bei meiner Freundin (Lehrerin) unter der Rubrik „Horrorfilm“ geführt. :D
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