Blut an den Lippen - Harry Kümel (1971)

Moderator: jogiwan

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CamperVan.Helsing
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Re: Blut an den Lippen - Harry Kümel

Beitrag von CamperVan.Helsing »

So, nun mal die Bildstörung-DVD gesehen, nachdem ich den Film bis dato nur von meiner alten VHS "Solo für einen Vampir" kannte. Der Film ist natürlich ein sehr schönes poetisches Werk, das in der jetzt vorliegenden Fassung aufklärt, was es eigentlich mit Stefans "Mutter" auf sich hat. Und das Ende ist nun auch anders... (und zwar erheblich stimmiger als das bisherige, das ja ziemlich unbefriedigend war)

Manches hätte man sicher noch besser machen können, aber ein shining-mäßig verlassenes Grand Hotel, die Tristesse der Nordsee, lesbische Vampire und der Bathory-Mythos? Hach, man MUSS diesen Film einfach lieben!
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Adalmar
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Re: Blut an den Lippen - Harry Kümel

Beitrag von Adalmar »

Wunderschöner und in seiner Art einmaliger Vampirfilm. Danielle Ouimet, Delphine Seyrig und Andrea Rau kommen jede auf ihre Art hocherotisch rüber. Dazu die melancholisch stimmenden Eindrücke aus Ostende ... hoffentlich kommt Kümels "Malpertuis" auch mal hier auf DVD raus. Das wäre doch mal was für Bildstörung.
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Arkadin
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Re: Blut an den Lippen - Harry Kümel

Beitrag von Arkadin »

Ich hatte hier meine Review noch gar nicht verewigt? Schande!
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Das frisch vermählte Paar Stefan (John Karlen) und Valerie (Danielle Ouimet) fährt nach Ostende, um von dort aus mit der Fähre nach England überzusetzen. Als sie die Fähre verpassen, verbringen sie die Nacht in einem menschenleeren Hotel. Dort treffen auch bald die rätselhafte Gräfin Elisabeth Bathory (Delphine Seyrig) und ihre Begleiterin Ilona (Andrea Rau) ein. Die beiden entwickeln ein großes Interesse an dem jungen Ehepaar. Stefan und Valerie beschliessen, noch ein paar Tage länger in Ostende zu bleiben und das naheliegende Brügge zu besuchen. Dort erfahren sie von einer Reihe mysteriöser Morde an jungen Frauen, die die Stadt in Atem hält. Waren nicht auch gerade die Gräfin und ihre Begleiterin in Brügge?

Es fällt irgendwie sehr viel schwerer, einen Film wie “Blut an den Lippen“ zu besprechen, der mir schon seit langer Zeit sehr am Herzen liegt, als einfach nur die frischen – positiven oder negativen – Eindrücke nach einer Erstsichtung niederzuschreiben. Darum verabschiede ich mich hier mal von meinen sonstigen Review-Mustern und schreibe diesmal darüber, wie mich dieser Film bisher begleitet hat. Das erste Mal sah ich ihn im Fernsehen. Dort lief er irgendwann Ende der 90er. Ich glaube es war spät nachts in der ARD, aber das kann ich nicht mehr genau sagen. Irgendwo habe ich aber noch die Aufzeichnung. Mich wunderte damals, dass „so ein Film“ im TV gezeigt wird. Denn ich hatte eine recht abenteuerliche Vorstellung davon, was mich bei diesem Film erwarten würde. Das, was ich dann letztendlich sah, war bei weitem nicht so wild, wie meine Erwartung. Ich glaubte bis dahin immer, dass der Film mehr in die Kerbe haute, die die Hammer-Studios beinahe zeitgleich mit ihrer Karnstein-Trilogie schlugen. Nur mit noch mehr Sex und Gewalt. Also nicht unbedingt der Stoff, den man Ende des Jahrtausends im TV erwartet hätte, denn damals war die Zeit, in der die Privaten mit dem Schulmädchen und reitenden Leichen Quote machten, schon lange vorbei.

Der Film begann dann auch „vielversprechend“. Eine Frau wurde aufgespießt und vor einem brennenden Autowrack hielt die Kamera die Gepfählte malerisch im Bild. Dazu eine Stimme, die von Vampiren und Wiedergeburt erzählte. Danach schaltete der Film einige Gänge runter und weigerte sich beharrlich, die oberflächlichen Schocks und Schrecken zu liefern, denen ich entgegenfieberte. So war ich dann am Ende auch erst einmal enttäuscht. Aber auch merkwürdig fasziniert. Zwar hatte ich nicht das bekommen, was ich mir gewünscht hatte, aber ich wurde mit etwas anderem belohnt. Etwas, was seinen Weg in meine Fantasie und in mein Herz gefunden hatte. Etwas merkwürdig Süß-Bitteres. Obwohl ich den Film zunächst als „langweilig“ abtat, tauchten einzelne Bilder immer wieder aus meinem Unterbewusstsein auf. Die zeitlos schöne, mysteriöse Gräfin, die aus einer fernen Epoche gefallen schien. Ebenso, wie das menschenleere Hotel, welches sie mit ihrer ergebenen Gespielin bewohnte. Ein Platz außerhalb der Zeit, in dessen elegantem Salon die Gräfin Bathory wie ein Spinne sitzt und darauf wartet, dass sich wieder jemand in ihrem Netz verfängt. Oder doch eher wie eine Venusfalle, die mit süßem Duft ihre Opfer anlockt.

Und natürlich ist da auch Andrea Rau. Begehrenswert, devot, geheimnisvoll. Purer Sex, aber von einer solch melancholischen Ausstrahlung, dass es einen hoffnungslos verwirrt. Man weiß, mit ihr kann etwas nicht stimmen. Aber trotzdem übermannt einen eine übermächtige Lust, wenn man sie sieht. Man würde sich jederzeit in das gefährliche Spiel mit ihr stürzen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Auch wenn man tief im Inneren nur zu genau weiß, dass man dafür teuer bezahlen müsste. Delphine Seyrig und Andrea Rau. Herrin und Zofe. Zwei Seiten der Erotik, die einen beide verrückt machen. So ist es nur folgerichtig, wenn sich das scheinbar naive Paar Stefan und Valerie in diesem verlockenden Netz verfängt und sich die Fesseln der Begierde umso enger zuschnüren, je mehr sie sich dagegen wehren.

In der Fassung, die ich damals im TV sah, fand ich die Beiden eher fade. Erst später, als ich den Film in der Originalfassung sah, gewann Stefan eine zusätzliche Tiefe. Wurden hier doch einige seiner Handlungen begreifbarer und verliehen dem Film eine zusätzliche Schicht. Denn erst als ich mir die US-DVD von Blue Underground zulegte (mit dem englischen Titel des Filmes: “Daughters of Darkness”), konnte ich die Szenen sehen, in denen sich herausstellte, dass Stefan beileibe kein mutloses Muttersöhnchen war, sondern seine „Mutter“ ein älterer Mann ist, der in einem ähnlich morbid-dekadenten Reich lebte, wie es auch die Gräfin um sich herum geschaffen hatte. Auch dieser bleiche, überschminkte Mann wirkt wie ein Vampir. Jemand, der seine Lebenskraft durch das Auslutschen eines Schwächeren erlangt. Dies erklärt einerseits Stefans devote Faszination für die Gräfin, und gleichzeitig sein verzweifeltes Bemühen, ebenfalls Autorität über Schwächere auszuüben. Das andere Ende der Peitsche zu halten, wie er es in der Szene tut, in der er scheinbar grundlos mit seinem Gürtel auf Valerie einprügelt. Seine Schwäche, sich weder in seine Rolle fügen zu können, noch aus ihr auszubrechen, beschwört seinen Untergang herauf.

Und über allen thront die maliziöse Bathory. Wer sonst als Delphine Seyrig mit ihrer überirdischen Schönheit, ihrer Eleganz, ihrer hintergründigen Erotik, könnte diese Rolle spielen? Auf der gerade erschienenen DVD von Bildstörung findet sich zum Anfang eine Texttafel, die es dem Zuschauer nahelegt, den Film, der komplett auf Englisch gedreht wurde, in der Originalfassung zu schauen. Die deutsche Synchronisation könne die erotisch-gefährlich Stimme der Seyrig einfach nicht wiedergeben. Ein guter und hilfreicher Hinweis. Denn ihre Stimme gehört zu der Gräfin, ebenso wie die wunderbaren Kostüme, die einen in eine andere Welt entführen. Eine Welt der schwülen Dekadenz und Pracht.

Obwohl ich also von meiner ersten Begegnung mit „Blut an den Lippen“ nicht unbedingt hin und weg war, hatte sich die Saat des Filmes in meinem Herzen eingepflanzt. So sollte es nicht verwundern, dass ich mir also sofort die US-DVD von „Blue Underground“ kaufte, als diese 2003 veröffentlicht wurde. Wieder ließ ich mich in das winterliche, von den Menschen im Stich gelassene Ostende entführen. Wieder sah ich der Gräfin und ihrer Dienerin Ilona dabei zu, wie sie Stefan und Valerie in das kranke Herz dieses Ortes lockten. Und diesmal machte es bei mir „klick“. Der Film umgarnte mich, streichelte mich mit seiner Schönheit und zeigte mir seine funkelnden Juwelen. Auf meinem alten Röhrenfernseher machte die DVD noch einen recht guten Eindruck, aber als ich viele Jahre später Screenshots anfertigte, merkte ich, dass die gebotene Qualität doch eher schwach war.

Die Screenshots fertigte ich an, als ich gerade von einem Urlaub aus Belgien zurück kam. Dort hatte ich Ostende besucht und war von der morbiden Stimmung dieses ehemals so prächtigen Seebades gefangen genommen worden. Trotz des relativ guten Wetters und der vielen Touristen, spürte man doch an jeder Ecke diese Atmosphäre des Verfalls, die Harry Kümel in seinem Film perfekt genutzt hat. Ostende ist eine kränkelnde Stadt. Seine einstmalige Pracht ist unter riesigen Betonburgen begraben, die den Strand säumen und die Stadt in einen grabeskalten Schatten tauchen. Ostende ist hässlich und heruntergekommen, aber man fühlt überall auch noch den Geist des einst prunkvollen Seebades, ahnt die eleganten Cafes und teuren Art-Deco-Hotels. Der Hauch der dekadenten 20er weht durch die baufälligen Betonburgen. Hält man sich in Ostende auf, befindet man sich in der gleichen eigenartigen Stimmung, wie sie „Blut an den Lippen“ verströmt. Natürlich habe ich es mir nicht nehmen lassen, das berühmte Hotel de Therme zu fotografieren und möglichst aus dem Kopf heraus die Kamerawinkel aus dem Film zu finden. Ich bin auch durch das Hotel selber gelaufen, in der Hoffnung den Salon oder die markante Treppe aus dem Film zu finden. Leider hatte ich mich vorher nicht richtig informiert. Die Innenaufnahmen des Foyers, des Salons und der Treppe fanden alle in einem anderen Hotel, dem Astoria, statt. Sollte ich eines Tages nach Ostende zurückkehren, dann werde ich diese Orte auf jeden Fall aufsuchen.

Kurz nachdem ich aus dem Urlaub zurückgekehrt war, kündigte Bildstörung „Blut an den Lippen“ als nächste Veröffentlichung an. Zufall? Schicksal? Wie dem auch sei, diese Veröffentlichung dürfte einen Standard setzen, der weltweit nicht so leicht zu übertreffen sein wird. Das Bild ist gestochen scharf und die HD-Restauration von Harry Kümel persönlich überwacht worden. An einigen Stellen wurde es mit den technischen Hilfsmitteln vielleicht etwas übertrieben und das Bild wirkt in etwa so, als ob man aus einer ungünstigen Position auf ein LCD schaut. Aber dies betrifft eigentlich nur die erste Szene im Zug, zwischen Stefan und Valerie. Der Rest erstrahlt in bisher nie da gewesenem Glanz. Kümel selbst erzählt in einem auf der Bonus-DVD enthaltenen Interview, dass der Film nun endlich in etwa so aussähe, wie er es sich gewünscht hatte, und dass er bereits Anweisung geben hat, nur noch diese digital restaurierte Fassung zu nutzen, falls der Film noch einmal irgendwo im Kino gezeigt werden sollte.

Überhaupt scheint Kümel seinen Frieden mit dem „ungewollten“ Film gemacht zu haben. In einem Interview, welches 2003 in dem englischsprachigen Buch „Flesh & Blood Compendium“ erschien, erzählte Kümel bereits davon, dass er den Film eigentlich nicht machen wollte und alles tat, um die Produktion bereits im Vorfeld zu torpedieren. Schon damals faszinierte mich, dass Kümel aus einem Film, den er eigentlich nie drehen wollte und den er vor allem aufgrund seiner Darsteller für misslungen hielt („The cast was partially a disaster“ „Well, not partially, make that completely“)*, so ein Meisterwerk zustande gebracht hat. Voller kleiner Details, die einem erst beim zweiten oder dritten Mal so richtig auffallen, die aber den Film mit jedem Sehen noch mehr wachsen lassen. Kokettierte Kümel lange Zeit damit, weil er wusste, dass er hier etwas Großes geschaffen hatte? Fishing for compliments? Ich weiß es nicht. In „Flesh&Blood“ klang es so, als ob Kümel den Film und die meisten der daran Beteiligten gehasst hätte: „During the making of Daughters of Darkness he even slapped Canadian actress Daniele Ouimet (who plays Valerie (…)), because he took offense at her arriving on the set too late. After the film had been completed he also criticized producers Collet and Dourot for being incompetent, and actress Seyrig for behaving like a bitch and having hypocritical political views.“* Heute aber erscheint Kümel als sympathischer Mensch, der Frieden mit sich und seinem Werk geschlossen hat.

Deshalb ist es schön, dass man ihn nicht nur für das halbstündige Interview, sondern auch für einen neuen Audiokommentar gewinnen konnte, den er – wie auch das Interview – in Deutsch einspricht. Ebenfalls ein gute Idee ist es, nicht einfach nur eine Bildgalerie durchlaufen zu lassen, sondern diese ebenfalls von Kümel kommentieren zu lassen. Auf der Bonus-DVD befindet sich auch noch die alte deutsche Kinofassung, die sich, wie oben bereits geschrieben, stark von der Originalfassung unterscheidet. Abgesehen davon, dass das Ende hier an den Anfang gestellt wurde und der Epilog fehlt, wird auch die ganze Hintergrundgeschichte mit Stefans „Mutter“ fallen gelassen, und die Synchronisation auf entstellende Weise angepasst. Ein wenig Werbematerial für den Film und ein – wie bei Bildstörung üblich – hervorragendes und höchst umfangreiches Booklet mit zwei Essays von Paul Poet und Björn Eichstädt runden diese überragende Veröffentlichung ab.

An dieser Stelle schreibe ich in der Regel immer so etwas wie ein Fazit. Aber was soll ich hier noch großartig schreiben? Für mich ist „Blut an den Lippen“ ein morbide-erotisches Meisterwerk, welches ich sehr liebe. Und ich hoffe, die neue „Bildstörung“-DVD wird dem einen oder anderen in die Hände fallen, den der Film dann ebenfalls für immer in seinen Bann ziehen wird.

*Harvey Fenton (ed.), Flesh & Blood Compendium, FAB Press 2003

Screenshots, Bildvergleiche und Fotos von den Drehorten: http://www.filmforum-bremen.de/2013/05/ ... en-lippen/
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CamperVan.Helsing
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Re: Blut an den Lippen - Harry Kümel

Beitrag von CamperVan.Helsing »

Gestern nun die Bildstörung-Edition (fast) finalisiert.

Erst vor geraumer Zeit die Originalfassung mit deutschem Ton, dann vor ein paar Tagen die deutsche Kinofassung und nun gestern die Originalfassung auf englisch mit deutschen Untertiteln + das Interview mit Herrn Kümel.

Ist schon sehr strange, wie sehr der Film in Deutschland umgearbeitet wurde, um ihn kommerzieller zu machen. Eigentlich kommt er in der Tat erst mit englischem Ton richtig zur Geltung. :nick: Was für einen deutschen Akzent der Portier Pierre dort hat...

Den Kümelschen Audiokommentar schenk ich mir trotzdem bis auf weiteres.
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Re: Blut an den Lippen - Harry Kümel

Beitrag von buxtebrawler »

ugo-piazza hat geschrieben:Den Kümelschen Audiokommentar schenk ich mir trotzdem bis auf weiteres.
Weshalb?
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Blut an den Lippen - Harry Kümel

Beitrag von CamperVan.Helsing »

buxtebrawler hat geschrieben:
ugo-piazza hat geschrieben:Den Kümelschen Audiokommentar schenk ich mir trotzdem bis auf weiteres.
Weshalb?
Weil ich den Film nun schon 3mal in den letzten Monaten gesehen hab und der Frühling seine lauen Lüfte auswirft.
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Adalmar
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Re: Blut an den Lippen - Harry Kümel

Beitrag von Adalmar »

ugo-piazza hat geschrieben:Weil [...] der Frühling seine lauen Lüfte auswirft.
Wen interessiert denn so was? Der soll sein blaues Band doch alleine flattern lassen. :mrgreen:
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CamperVan.Helsing
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Re: Blut an den Lippen - Harry Kümel

Beitrag von CamperVan.Helsing »

Adalmar hat geschrieben:
ugo-piazza hat geschrieben:Weil [...] der Frühling seine lauen Lüfte auswirft.
Wen interessiert denn so was? Der soll sein blaues Band doch alleine flattern lassen. :mrgreen:
:nixda: Kein Film über die Ostertage gesehen. :P
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jogiwan
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Re: Blut an den Lippen - Harry Kümel (1971)

Beitrag von jogiwan »

ein alter Text aus 2013:

illona (andrea rau).jpg
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portier (paul esser).jpg
portier (paul esser).jpg (26.41 KiB) 229 mal betrachtet
Stefan (John Karlen) und Valerie (Danielle Ouimet) haben heimlich in der Schweiz geheiratet und befinden sich auf dem Weg nach England, wo Stefan seine frischvermählte Braut trotz etwaiger Einwände seiner Mutter vorstellen soll. Doch Stefan ziert sich und da kommt es ihm auch gelegen, als das Paar aufgrund einer Verspätung ihr Schiff versäumen und daher notgedrungen in einem luxuriösen Hotel in Ostende absteigen müssen, dass aufgrund der Nebensaison bis auf dem Portier (Paul Esser) menschenleer ist. Valerie drängt Stefan seiner Mutter jedoch telefonisch Bescheid zu geben, was dieser jedoch mit einem Trick verhindert.

Am gleichen Abend erreichen auch die mysteriöse Gräfin Elizabeth Bathory (Delphine Seyrig) und ihre Begleiterin Illona (Andrea Rau) das Hotel und während es bei dem jungen Paar zu den ersten Verstimmungen kommt, scheinen sich die neuen Gäste vor allem für die junge Valerie zu interessieren. Als Stefan beschließt noch ein paar Tage länger zu bleiben und dabei auch den Brügge zu besuchen, geraten die Beiden bei einem Spaziergang durch die Altstadt in eine Menschenmenge und werden Zeuge, wie eine ermordete Frau abtransportiert wird. Während Valerie schockiert reagiert, scheint Stefan von der schrecklichen Tat fasziniert und offenbart seinen Frischangetrauten auch schon bald auf anderem Wege seine sadistische Ader.

Valerie ist vom zunehmend seltsamen Verhalten ihres Mannes schockiert und auch das Telefongespräch mit der vermeintlichen Mutter ereignet sich anders als geplant. Es kommt zu einem furchtbaren Streit, bei dem Stefan gegenüber seiner frischangetrauten Gattin auch handgreiflich wird. Valerie flüchtet drauf Hals über Kopf aus dem verlassenen Hotel und wird nur durch das beherzte Einschreiben von Elizabeth zum Bleiben überredet. Illona verführt im Auftrag der Gräfin Stefan und obwohl es dabei zu einem schrecklichen Unglück kommt, ist es abermals Elizabeth, die den jungen Leuten mit Rat und Tat zur Seite steht. Valerie beschließt ihren untreuen Gatten zu verlassen um bei der Gräfin zu bleiben, doch dazu muss noch ein Hindernis aus dem Weg geräumt werden…
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valerie (danielle ouimet).jpg (30.42 KiB) 229 mal betrachtet
Geht es um unkonventionellen Euro-Horror fällt die Sprache früher oder später unweigerlich auf Harry Kümels 1971 gedrehten und außergewöhnlichen Beitrag „Blut auf den Lippen“, der sich in vielerlei Hinsicht und wohltuend von den üblichen Vampir-Filmen seiner Entstehungszeit abhebt. Nicht nur, dass der Streifen weitgehend auf die üblichen Genre-Zutaten und plakative Momente verzichtet, ist „Les lévres rouges“ auch dem Arthouse-Drama weit näher als dem Horror und begeistert neben stimmigen Locations in dem Küstenort Ostende vor allem durch eine wunderbar elegante Performance von Delphine Seyrig.

„Blut auf den Lippen“ ist dann auch ein ganz besonderer Film, der sich zwar in der Ausgangsidee beim Vampirfilms bedient, aber bei der Umsetzung dann konsequent der Thematik bzw. der üblichen Zutaten verweigert. So sucht man spitze Zähne und Fledermäuse vergeblich und der Streifen legt seinen Schwerpunkt statt Spannung und Horror auf das ambivalente Verhältnis der Protagonisten zueinander, streift Selbstfindungs-, Feminismus- und Queer-Thematik und bietet dabei vor allem wunderbar fotografierte Bilder der verlassenen Hafenstadt, die auch perfekt zur Verlorenheit des portraitierten und frisch-vermählten Paares passt, um das die ungarische Gräfin wie eine Spinne ihr Netz geworfen hat und dennoch paradoxerweise nicht als Bösewicht positioniert ist.

Die Darstellung von Delphine Seyrig ist ja auch schlicht und ergreifend sensationell und mit ihrer eleganten und aristokratischen Erscheinung wie nicht von dieser Welt, mit der sie auch schon Alain Resnais „Letztes Jahr in Marienbad“ bereichert hat, wirkt „Blut auf den den Lippen“ auch fast schon wie dessen morbide Fortsetzung, die den Zuschauer ebenfalls mit durchkomponierten Bilder und mysteriösen Inhalten fasziniert. Ebenfalls wunderbar ist Andrea Rau als ihre Begleiterin Illona und die zerbrechlich erscheinende Danielle Ouimet als Valerie, wogegen die männlichen Darsteller wie John Karlen („Dark Shadows“ ) und der deutsche Paul Esser trotz ebenfalls sehr guter Leistungen ja fast schon auf verlorenen Posten agieren.

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Das Schöne an dem unkonventionellen Werk ist aber zweifelsfrei auch seine Vielschichtigkeit, die sich nicht nur jeder Kategorisierung entzieht, sondern individuell auf jeden Zuschauer irgendwie anders zu wirken scheint. Sieht man „Blut auf den Lippen“ zum ersten Mal, ist man vor allem von dem ruhigen Erzähltempo und dem wunderbaren Szenario überrascht, das die Handlung des Streifens auch wie einen sinnlichen Traum erscheinen lässt. Kümels Interpretation der Geschichte eines weiblichen Vampirs funktioniert auch eher als rätselhaftes und poetisch erzähltes Märchen für Erwachsene, wie z.B. auch Jean Rollin seine Filme inszenierte, selbst wenn der Einsatz von freizügigen Szenen hier weit weniger selbstzweckhaft erscheint und entfaltet mit jeder Sichtung neue Facetten der Geschichte.

Erst gegen Ende des ruhig erzählten und melancholischen Streifens schlendert der Streifen in Richtung Horror-Genre, in welches der vielschichtige Streifen oftmals und meines Erachtens auch zu Unrecht gesteckt wird. Dem deutschen Verleih war der Film wohl insgesamt zu ruhig, sodass dieser kurzerhand das Ende an den Anfang der deutschen Fassung gepackt hat und dem Werk auch in Sachen Dialoge erleichterte. Auf der anderen Seite der Erde war „Blut an den Lippen“ hingegen sehr erfolgreich und zählt so auch zu den erfolgreichsten belgischen Werken. Seltsamerweise hat es ja auch in Europa länger gedauert, bis das Werk entsprechend gewürdigt wurde und obwohl der Streifen eine eingeschworene Fangemeinde hat, so gilt es das Werk für die breitere Masse hierzulande wohl noch zu entdecken.

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Dazu eignet sich die nun erschienene Scheibe da Labels „Bildstörung“ auch hervorragend, die das Werk nun in seiner ganzen Pracht und in der knapp 100minütigen internationale Fassung bringen und auf den zweiten Silberling auch noch die deutsche Kinofassung gepackt haben. Dort befindet sich mit einem Interview mit Harry Kümel, der über seine Anfänge vom Super-8-Film, seinen Werken und der Restaurierung von „Blut an den Lippen“ erzählt. Weiters gibt es eine von ihm kommentierte Bildergalerie, weitere Trailer, sowie ein interessantes Booklet mit einem Text vom Paul Poet, der sich nach ruppigem Start als durchaus lesenswert entpuppt und einem weiteren von Björn Eichstädt, der sich mit Kümels Werken im Allgemeinen beschäftigt.

Unterm Strich hat man mit der Katalognummer „Drop Out 020“ wohl die definitive Fassung von „Blut an den Lippen“ in Händen, in der der wunderbare und elegische Streifen mit toller Bild- und Tonqualität auch sein ganzes Potential entfalten kann. Ein erotisch angehauchter Brückenbauer zwischen europäischen Autorenkino und außergewöhnlichen Gruselfilm, der dann auch so viel mehr ist, als er auf den ersten Blick scheint und auch mit jeder Sichtung immer weiter wächst. Ist man dem Film und der Originalstimme von Delphine Seyrig erst einmal verfallen, gibt es für den Zuschauer ohnehin kein Zurück mehr und dennoch kann ich mir kein schöneres Vergnügen vorstellen, als an besonderen Abenden des Lebens vor der Glotze dem Charme eines derartig grandiosen Werkes zu erliegen.

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it´s fun to stay at the YMCA!!!



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