The Painted Bird - Václav Marhoul (2019)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 2992
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

The Painted Bird - Václav Marhoul (2019)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

3781451.jpg
3781451.jpg (141.48 KiB) 415 mal betrachtet

Originaltitel: Nabarvené ptáče

Produktionsland: Tschechien, Ungarn, Slowakei 2019

Regie: Václav Marhoul

Darsteller: Petr Kotlár, Nina Schunewytsch, Alla Sokolowa, Udo Kier, Harvey Keitel, Julian Sands, Barry Pepper, Júlia Valentová Vidrnáková:


Basierend auf einem 1965 veröffentlichten Roman Jerzy Kosińskis erzählt Václav Marhoul (Regie, Drehbuch, Produktion), (dessen 1993er Debüt-Film KRAVY ROMAN ich vor gefühlt hundert Jahren gesehen und als visuell ansprechende Hommage ans stumme Kino in Erinnerung behalten habe), von einem (bis zur Schlussszene) namenlosen Jungen, der in einem ungenannt bleibenden osteuropäischen Land während des Zweiten Weltkriegs ums Überleben kämpft: Von seinen jüdischen Eltern, die Verfolgung und Verschleppung durch die anrückende Wehrmacht fürchteten, bei einer alten Frau auf dem Land untergebracht, beginnt für unseren Helden nach deren unvermitteltem Alterstod eine Odyssee durch rurale Landschaften, wie sie apokalyptischer kaum sein könnten.

Mit seinen schmucklosen Schwarzweißbildern, seiner betont distanzierten Mise en Scene, die beispielweise extradiegetische Musik genauso verweigert wie allzu schnelle Schnitte, seinen unterkühlt agierenden Figuren, die ihre Emotionen hinter Bergen aus schmutzigen, blutverschmierten, verhärmten Gesichtern versteckt halten, erinnert NABARVENE PTACE dabei natürlich rein ästhetisch an das Werk Béla Tarrs; auch Alexei Germans TRUDNO BYT BOGOM könnte einem als Referenzpunkt ins Gedächtnis springen, wobei dessen Suhlen in Matsch und Morast bei Marhoul größtenteils durch eine Achterbahnfahrt mitten hinein in die Abgründe ersetzt wurde, die Menschen einander oft und gerne bereiten, und in die wir unseren Protagonist während der monumentalen Laufzeit von fast drei Stunden unaufhaltsam begleiten (müssen). Denn, puh!, was einem dieser Film nicht alles zumutet: Massenerschießungen der Wehrmacht aus fahrenden Zügen heraus; Einblicke in die Folterkeller der Gestapo; abergläubisches Landvolk, das Kinder für Vampire hält und im Fluss ertränken möchte; Menschen, die bei lebendigem Leib von Ratten gefressen werden; Lynchmord an einer im Wald lebenden Einsiedlerprostituierten; sexueller Missbrauch Minderjähriger; Sex mit Stalltieren; ein Müller, (gespielt von Udo Kier), der einem vermeintlich seine Gattin begehrenden Knecht im Wutrausch die Augen aus den Höhlen reißt – das Ganze wohlgemerkt nicht etwa präsentiert als zügellose Blut&Gewalt-Orgie, sondern nahezu zurückhaltend inszeniert, stets einen gewissen Sicherheitsabstand zum Geschehen wahrend, stets in einem meditativen, unaufgeregten, regelrecht apathischen Stil, der die geschilderten Grausamkeiten freilich nur noch umso bedrückender wirken lässt, als wenn hier ein Feuerwerk an Gore und Splatter entfacht worden wäre. Wozu natürlich auch beiträgt, dass wir diese aus den Fugen geratene, in Blut, Sperma, Scheiße ertrinkende Welt konsequent aus der Perspektive eines kleinen Jungen betrachten. Das hat schon in Elem Klimovs IDI I SMOTRI bestens funktioniert, (ein weiterer Referenzpunkt vor allem inhaltlicher Natur): Dieses sukzessive, hilflose Mitverfolgen, wie äußere Gewalteinwirkung einen jungen Menschen zunehmend paralysiert, abstumpft, schließlich selbst in den Rang eines Täters erhebt – und weil Marhoul dies alles völlig mitleidlos, beinahe unbeteiligt, mit der größtmöglichen Zurückhaltung aufs Tableau hievt, ist auch Miklós Jancsós CSILLAGOSOK, KATONAK nicht weit, bei dem der Hase rein strukturell ganz ähnlich läuft: Kaum haben wir Sympathien für eine Figur entwickelt, erwartet diese schon ein böses Ende, - genauso wie man alsbald weiß, dass auf den Knaben in NABARVENE PTACE, sobald er an jemanden geraten ist, der ihm altruistisch begegnet, (darunter Harvey Keitel als Pfarrer; eine junge Frau, die zu seiner Entjungferung beiträgt; ein Wehrmachtssoldat, der ihn eigentlich erschießen soll, dann aber doch laufenlässt), hinter der nächsten Ecke nur ein noch schlimmeres Unheil wartet.

Memorable Szenen gibt es in NABARVENE PTACE zuhauf: Katzensex, der zu einem blutrünstigen Ehedrama führt; die Strangulation eines Pferdes per Fuhrwerk; unser Held, eingebuddelt bis zum Hals in Ackererde, und die Krähen nahen, um ihm den Kopf zu zerpicken. (Wäre dieser Film einige Jahrzehnte früher gedreht worden, kann ich mir nicht vorstellen, dass er angesichts der exorbitanten Grausamkeit, die hier vor allem in Zusammenhang mit Tieren entfacht wird, ohne Animal Snuff hätte auskommen können.) Am meisten verstört hat mich aber wahrscheinlich jener Moment, der Film und Romanvorlage seinen/ihren Titel gibt: Ein Bauer, bei dem unser Held kurzzeitig unterkommt, hat ein eigenartiges Hobby. Er bemalt Vögel mit bunten Farben, um sie in die Freiheit zu entlassen, sobald sich am Himmel ein verwandter Vogelschwarm zeigt. Die buntgescheckten Piepmätze flattern natürlich ihren Brüdern und Schwestern entgegen, versuchen, Anschluss an die Herde zu finden; der Schwarm indes erkennt den Neuling aufgrund seiner bunten Federn nicht als einen der ihren, identifiziert ihn als feindseligen Eindringling, was zur Folge hat, dass sich eine Übermacht auf den Einzelnen stürzt und ihn in der Luft förmlich zerfetzt. Am Ende stürzt der Vogel tot zur Erde – und unser Held steht daneben, abwechselnd dem davonziehenden Schwarm hinterherschauend und den zerfledderten gefiederten Leichnam betrachtend. Eine Metapher, die nicht nur die Welt, in der NABARVENE PTACE spielt, auf den Punkt bringt, sondern auch den „Genuss“ veranschaulicht, den mir die Sichtung bereitet hat: Nach 170 Minuten Parade an Furchtbarem fühle ich mich selbst wie ein in Stücke gehacktes Vögelchen, dem nichts bleibt, als regungslos vom Horizont zu fallen – und kurz vorm Aufkommen noch schnell in ein paar Zeilen allen Mitlesenden zu empfehlen, sich diesen audiovisuellen Alptraum im Kino anzuschauen, solange er dort noch läuft.
purgatorio
Beiträge: 15618
Registriert: Mo 25. Apr 2011, 19:35
Wohnort: Dresden

Re: The Painted Bird - Václav Marhoul (2019)

Beitrag von purgatorio »

Klingt 1:1 nach dem Inhalt des Buches. Eine episodische Aneinanderreihung von Grausamkeiten (hat man der Einsiedlerprostituierten im Film auch Flaschen mit Jauche eingeführt und zertreten? :kotz: ). Im Buch fing das Schema mangels Variation und Überraschung irgendwann an zu langweilen - "Langweilen" mag in diesem Kontext vielleicht das falsche Wort sein. "Ermüden"! Aber eben nur, weil dieses triste, immer gleiche Episodenschema ohne Hoffnung einfach kein Ende fand. Kann man aber gerne auch als Stilmittel deuten - sowohl im Buch als auch im Film. Letzteren sollte ich wohl zeitnah mal sichten.
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
- nicht nach Mitternacht füttern
- kein Wasser
- kein Sonnenlicht
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 2992
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: The Painted Bird - Václav Marhoul (2019)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

purgatorio hat geschrieben: Fr 24. Sep 2021, 07:21 (hat man der Einsiedlerprostituierten im Film auch Flaschen mit Jauche eingeführt und zertreten? :kotz: ).
Uah, Du hast sogar die Romanvorlage gelesen. Und, ja: Es wird zwar nicht explizit gezeigt, aber es ist durchaus zu erkennen, dass der armen Frau irgendwas eingeführt und sie danach minutenlang mit Tritten traktiert wird... :(

Im Nachgang fand ich diesen Streifen wirklich schlimm und, ja, vielleicht passt auch Dein fürs Buch gefundende Adjektiv "ermüdend": Drei Stunden lang einfach nur Grausamkeit an Grausamkeit gereiht, irgendwann tendiert die Aufnahmebereitschaft gen Null-Sektor.
Antworten