FÜNFZEHNTES OFFIZIELLES FORENTREFFEN: DELIRIA ÖVER HANNOVER

Die Info- und Diskussionsthemen zu allen vergangenen Forentreffen

Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Re: FÜNFZEHNTES OFFIZIELLES FORENTREFFEN: DELIRIA ÖVER HANNOVER

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Mein letztes Forentreffen für 18 Jahre (und zugleich mein zehnjähriges Jubiläum) war erneut eine angenehme Sause mit vielen netten Leuten, einer engagierten Kommunalkinoleitung, erhellenden Einführungsreferaten sowie der einen oder anderen Skurrilität wie einem Onkel Joe, der beim Anblick meines unbejackten Leibes in der Abendkälte so wirkte, als wolle er dem "Struwwelpeter" eine Geschichte hinzufügen, in dem es um einen Jüngling geht, der seine Weigerung, eine Jacke anzuziehen, mit dem Erfrierungstod bezahlt, mit Filmtipps, die, unter anderem, ein Video beinhalteten, in dem zwei Meernixen und ein Meermann zur (erotischen?) Belustigung stundenlang in einem Aquarium umherschwimmen, sowie diverse deutschsprachige Vorabendserien, in denen viel geweint, viel kopuliert, viel herumgedoktert wird, (zum Beispiel auch an Zirkusmäuschen!), mit einem Verlosungsgewinn, bei dem es sich ausgerechnet um den wohl schmierigsten Streifen der gesamten Lostrommel handelte (PATRICK VIVE ANCORA, ugh!)

Zu den einzelnen Filmen (inklusive Bonusdreingabe: PROFONDO ROSSO auf 35mm am Samstagmorgen) gibt es folgende Handvoll Worte zu vermelden:


LA MALA ORDINA (Fernando di Leo, 1972)

Entgegen dem deutschen Verleihtitel liegt der Fokus nicht unbedingt auf dem titelgebenden Mafiaboss und wie Schakale tötet hier auch niemand, denn bei diesen Tierchen handelt es sich, wie Arkadin und Karlabundzu in ihrer Einführung klarstellten, prinzipiell ja um Aasfresser, stattdessen haben wir es mit einer One-Man-Show Mario Adorfs zu tun, der in seinem letzten stiefelländischen Gangsterfilm unter Beweis stellen darf, was für ein begnadeter Mime er doch ist: Als Zuhälter, der plötzlich ins Visier von Auftragskillern gerät, die extra zu seiner Eliminierung aus den USA anreisen, und der dabei zunächst überhaupt nicht weiß, was er denn eigentlich verbrochen haben soll, um die Todeskugel zu verdienen, bringt Adorf eine ganze Reihe von Emotionen kongenial zum Ausdruck, von Verzweiflung über pure Panik bis hin zu Raserei, die ihm dazu dienen, der Kamera seine Beißleiste in einer Weise zu zeigen, dass es fast die Leinwand sprengt. Genre-Routinier Fernando di Leo inszeniert Adorfs Tour de Force rasant, kompromisslos und gewalthaltig, sodass mir als Erstsichter dieses kleinen, wilden Films letztlich kaum Wünsche übrigbleiben: Ein fulminanter Auftakt.


Keoma (Enzo G. Castellari, 1976)

Italowestern und ich, wir werden in diesem Cineastenleben wohl keine Freunde wie Pech und Schwefel mehr. Zuletzt gesehen habe ich KEOMA in Teenager-Tagen - und hatte ihn tatsächlich besser in Erinnerung als er sich mir nunmehr auf der großen Leinwand präsentierte. Möglicherweise lag es auch daran, dass die vorliegende Kinokopie, wie der Magdebürger anschaulich herausarbeitete, einige Federn hatte lassen müssen - oder eher doch daran, dass meine Erwartungshaltung im Vorfeld doch ein wenig zu sehr in die Höhe geschraubt worden war: Ein surrealistischer Western mit Gothic-Horror-Einschlag, herrlich! Die Trockeneismaschine wabert, die Westernstadt könnte ruinöser kaum sein, die Mutter-Courage-Figur mit ihrem Karren, die entweder hoffnungslos verlorenen oder innerlich verrotteten Figuren, die gesamte nihilistische Atmosphäre à la Eröffnungsstatement "Die Welt ist schlecht" - das alles kann ich intellektuell wertschätzen, emotional hat mich der Film kaum gepackt, und mich vielmehr durch die mäandernde Struktur, die zuweilen deplatziert wirkenden Zeitlupensequenzen, den ostentativ ausgestellten Pessimismus mehr irritiert als irisiert. Ich denke, ich bleibe erstmal bei Giulio Questi, Sergio Corbucci, Sergio Garrone...


L'ANTICRISTO (Alberto de Martino, 1974)

Mein persönlicher Höhepunkt des diesjährigen Happenings - trotz (oder gerade weil) ich Alberto de Martinos vielleicht schönsten Film auf ganz neue Weise erleben durfte. Die unter dem Titel DIE HEXE VON ROM firmierende Kopie nämlich ist ursprünglich wohl für Kinogänger gedacht gewesen, die noch schnell die U-Bahn nach Hause erwischen müssen. In anderen Worten: Mindestens eine Viertelstunde dürfte der Schere zum Opfer gefallen sein, darunter ein kompletter Subplot, in dem die titelgebende "Hexe" im Umland Roms einem minderjährigen Touristen im wahrsten Wortsinne den Kopf verdreht, ein kompletter Charakter, einen Wunderheilen nämlich, den Haushälterin Alida Valli konsultiert, damit er dem (vermeintlichen?) Teufelsspuk mit Volksaberglaube den Garaus macht, sowie die wohl mit Abstand schockierendste Szene des Films, namentlich: die innige Bekanntschaft zwischen einer menschlichen Zunge und einem Ziegenbockanus. Da de Martinos fälschlicherweise oftmals als bloßes EXORCIST-Rip-Off abgekanzelter Film, der aber vielmehr ein regelrecht polyphones Arrangement von allen möglichen und unmöglichen Versatzstücken aus der Okkultismus-Horror-Ecke darstellt, in einem eher gemächlichen, grazilen, gravitätischen Tempo abläuft - quasi Visconti im Bahnhofskinozwirn - wirkte diese radikal zusammengestutzte Fassung ungleich temporeicher, erinnerte noch deutlicher an ein theatrales Kammerspiel. Eine ganz neue Seherfahrung: Den Ziegenhintern hätte man aber dennoch gut und gerne im Film belassen können!


Profondo Rosso (Dario Argento, 1975)

Auf Italienisch ohne jedwede Untertitel hat man erstmals die Chance, sich völlig in Argentos pittoreskem Farbrausch versinken zu lassen - und diesmal entgeht einem auch nicht Salvatore Baccaro in einer besseren Statisten-Rolle als Markthändler. Ansonsten ist Argentos Transzendierung des Giallo-Genres für mich über jedweden Zweifel erhaben, und selbst nach der zehnten oder fünfzehnten Sichtung reißt mich der Film als Wirbelwind aus Bildern, Tönen, Blutlachen hemmungslos mit. Für mich bedeutet PROFONDO ROSSO ja gewissermaßen ein Neubeginn für Argento nach seiner Tier-Trilogie sowie einem Ausflug in den komödiantisch grundierten Historienfilm: Die Metaphysik nimmt breiteren Raum ein; mit zunehmender Laufzeit zerknirscht jedwede narrative Logik förmlich unter den barock-opulenten Set-Pieces, die wie Vignetten isoliert für sich stehen, und brüsk darauf verzichten, sich zu einem logischen Erzählfluss zusammenzuschließen; mit SUSPIRIA, an den hier bereits eine Einstellung erinnert, in der ein keuchender POV-Shot David Hemmings aus der Ferne beäugt, und vor allem mit INFERNO, an den hier bereits ein halb unter Wasser stehender Keller erinnert, wird Argento den eingeschlagenen Weg dann konsequent fortsetzen und sich durch völlige Umarmung des Phantastischen sukzessive dem Experimentalfilm annähern.


Once Upon a Time in America (Sergio Leone, 1984)

Bei Sergio Leones Gangster-Epos dürfte es sich sowohl um einen der kanonisiertesten wie auch epochalsten Filme handeln, die jemals bei Deliria liefen: Eine Dekade soll der Italowestern-Genius an dem Projekt gearbeitet haben; die Fassung, die letztlich in die Kinos gelangt, dauert fast vier Stunden, und ist, wie man in der fundierten Einführung von Newcomern Paco und Fritzcarraldo hören konnte, noch nicht einmal die kürzeste beziehungsweise die von Leone ursprünglich intendierte. Persönlich geben sich mir, der ich den Film zum ersten Mal bei vollem Bewusstsein sehe, Licht und Schatten die Klinke in die Hand: Stellenweise wirkt Leones Mammutwerk überambitioniert, und obwohl ich prinzipiell wenig Probleme mit monumentalen Laufzeiten habe, hätte etwas Straffung im Rückblick vielleicht doch ganz gut getan; auf die Dauer anstrengend fand ich es ebenso, wie sehr der Fokus sich zunehmend auf Robert de Niros nun wirklich wenig sympathischen Charakter verengt, und dass einige interessante Nebenfiguren weit an den Leinwandrand gedrängt werden, vor allem auch die Frauenrollen immer wieder drohen, in Klischees zu ertrinken; inszenatorisch hätte ich mir möglicherweise auch etwas mehr Mut gewünscht, zumal im Spiel mit den verschiedenen Zeitebenen, da die Mise en Scène dann doch zuweilen arg konventionell (und manchmal gar kitschig) ausfällt, (wenn auch viele Bilder wunderschön sind). Positiv indes die detailreich-liebevolle Darstellung des jüdischen Viertels in der Lower East Side der 20er; die regelrecht surreal anmutende Müllfresserszene; kurze irritierende Momente wie die Frisbee-Scheibe inklusive Schockmontage; die komplette letzte halbe Stunde, bei der ich mit einem blutigen Showdown rechnete, und stattdessen eine zurückgenommene Gesprächsrunde geboten bekam, was mich fast ein bisschen an Tarantinos KILL BILL erinnerte, wo ja auch im ersten Teil erst gemetzelt, im zweiten reflektiert wird, (was dann ja nur einmal mehr Tarantinos Epigonen-Status zementieren würde).

Da das diesjährige Forentreffen, wie ich ja schon angemerkt habe, bei mir den Eindruck erweckte, vor allem mehr oder minder "seriöses" italienisches Genrekino zu präsentieren, und tatsächlich ohne wirkliche Trash-Ausreißer auskommen musste, müsste die Waage im kommenden Jahr doch eigentlich auf die diametral entgegengesetzte Seite kippen, oder?: Ich plädiere für ein Potpourri aus einem Mondo-Film, einem Beitrag zur Caligula-Exploitation-Welle, einem Ausflug D'Amatos in die Dominikanische Republik sowie einen Zwinger voller Idioten! Oder dann dieses Höllenprogramm eben gerne in 18 Jahren, wenn ich wieder am Start bin... :D
nico giraldi
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Re: FÜNFZEHNTES OFFIZIELLES FORENTREFFEN: DELIRIA ÖVER HANNOVER

Beitrag von nico giraldi »

Hier auch noch von mir ganz herzlichen Dank an die Organisatoren dieses Forentreffens und den sonstigen Protagonisten die dazu beigetragen haben . Man merkt dann doch , wenn man genauer hinschaut , wieviel Arbeit drinsteckt umso ein Treffen durchzuziehen .
Schön war die Trailershow , aber ein bißchen wehmütig war man dann schon , denn wenn man drüber nachdachte wie lange es her ist , dass Filme wie Rocky 4 , ET oder „ Mit Vollgas nach San Fernando „ im Kino liefen , dann ist das schon eine Ewigkeit her und man merkt dabei wieviel eigene Lebenszeit inzwischen schon vergangen ist .
Super wieder die Einführungen zu den Filmen .
Auch hier merkte man , dass dazu Vorarbeit nötig ist und man so eine Rede nicht aus dem Stehgreif hält.
…und es war nett nach über 30 Jahren mal wieder im Koki Kino Filme gesehen zu haben und dazu auch noch Italo Filme .
Also macht bitte weiter so . :thup:
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Reinifilm
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Re: FÜNFZEHNTES OFFIZIELLES FORENTREFFEN: DELIRIA ÖVER HANNOVER

Beitrag von Reinifilm »

Grinder hat geschrieben: Do 10. Okt 2024, 07:12 Vielen Dank für die schönen Berichte.
Ich freue mich, dass ich mit den beiden Filmkopien einen kleinen Beitrag leisten konnte, wenn ich es selber schon nicht zum Treffen geschafft habe.
Auf die nächsten 15 :wink:
Danke… und auch Danke für die Kopien! :thup: :prost:
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sergio petroni
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Re: FÜNFZEHNTES OFFIZIELLES FORENTREFFEN: DELIRIA ÖVER HANNOVER

Beitrag von sergio petroni »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Do 10. Okt 2024, 10:29 Mein letztes Forentreffen für 18 Jahre ! Oder dann dieses Höllenprogramm eben gerne in 18 Jahren, wenn ich wieder am Start bin... :D
:shock:
DrDjangoMD hat geschrieben:„Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, doch ach – es wankt der Grund auf dem wir bauten.“
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Reinifilm
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Re: FÜNFZEHNTES OFFIZIELLES FORENTREFFEN: DELIRIA ÖVER HANNOVER

Beitrag von Reinifilm »

sergio petroni hat geschrieben: Fr 11. Okt 2024, 06:31
Salvatore Baccaro hat geschrieben: Do 10. Okt 2024, 10:29 Mein letztes Forentreffen für 18 Jahre ! Oder dann dieses Höllenprogramm eben gerne in 18 Jahren, wenn ich wieder am Start bin... :D
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Salvatore Baccaro
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Re: FÜNFZEHNTES OFFIZIELLES FORENTREFFEN: DELIRIA ÖVER HANNOVER

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Reinifilm hat geschrieben: Fr 11. Okt 2024, 08:50
sergio petroni hat geschrieben: Fr 11. Okt 2024, 06:31
Salvatore Baccaro hat geschrieben: Do 10. Okt 2024, 10:29 Mein letztes Forentreffen für 18 Jahre ! Oder dann dieses Höllenprogramm eben gerne in 18 Jahren, wenn ich wieder am Start bin... :D
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Aber nicht doch, lieber Reini! :D
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Re: FÜNFZEHNTES OFFIZIELLES FORENTREFFEN: DELIRIA ÖVER HANNOVER

Beitrag von Reinifilm »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Sa 12. Okt 2024, 08:42
Reinifilm hat geschrieben: Fr 11. Okt 2024, 08:50
sergio petroni hat geschrieben: Fr 11. Okt 2024, 06:31

:shock:
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:D

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Santini
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Re: FÜNFZEHNTES OFFIZIELLES FORENTREFFEN: DELIRIA ÖVER HANNOVER

Beitrag von Santini »

buxtebrawler hat geschrieben: Di 8. Okt 2024, 18:09 Gewöhnungsbedürftig lediglich der antiquarische, enge Fahrstuhl, mit dem nur jeweils eine Person fahren darf...


Ich kann Dich, auch in Anbetracht eventueller zukünftiger Hotelbesuche, nicht mit diesem gefährlichen Halbwissen zurück lassen:

Das war nicht der Fahrstuhl, du warst im Speisenaufzug. :wart:
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