Originaltitel: Opfergang
Produktionsland: Deutschland 1944
Regie: Veit Harlan
Darsteller: Kristina Söderbaum, Carl Raddatz, Irene von Meyendorff, Franz Schafheitlin, Ernst Stahl-Nachbaur
Gerne wird dabei übersehen, dass Harlan in seiner recht umfangreichen Filmographie einige Titel stehen hat, die es, meine ich, lohnen wiederentdeckt zu werden. Da wäre zum Beispiel JUGEND von 1938, eine ziemlich fesselnde Adaption des gleichnamigen Stücks des Naturalisten Max Halbe, in dem Harlan zum ersten Mal Kristina Söderbaum, seine spätere Ehefrau, mit der weiblichen Hauptrolle betraut, und unter Beweis stellt, dass er politische Botschaften – in diesem Fall steht die katholische Amtskirche im Visier – und herzergreifendste Dramatik geschickt miteinander zu verbinden versteht. Noch überraschender fällt sein Nachkriegsmelodram HANNAH AMON von 1951 aus, eine äußerst eigenwillige Mischung aus Heimatfilm, Familientragödie, film noir und unbeschreiblichen Traumszenen, in denen Heldin Söderbaum mit altägyptischen Gottheiten in Kontakt tritt, und die selbst in einem Experimentalfilm wie Kenneth Angers LUCIFER RISING nicht wesentlich deplatziert wären. Am hellsten strahlt aber, finde ich, Harlans Agfacolor-Trilogie aus den frühen 40ern, angefangen von DIE GOLDENE STADT über IMMENSEE hin zu OPFERGANG, den ich, wie man gleich lesen wird, als sein eigentliches unangefochtenes Meisterwerk betrachte. Schön kann man bei diesen drei Filmen mitverfolgen wie Harlan sich nach und nach von der typischen nationalsozialistischen Lichtspielkunst löst, um am Ende in fast schon surrealen Welten zu landen. DIE GOLDENE STADT lässt sich noch problemlos in Deckungsgleichheit mit den politischen Parametern des Dritten Reiches bringen. In diesem Heimatfilm wird Kristina Söderbaum von den Reizen der Großstadt Prag verlockt, den väterlichen Hof zu verlassen und sich kopfüber in die moralfreien Niederungen der modernen Zivilisation zu stürzen. Konsequent sind alle Tschechen schmierige Typen oder schlotartig rauchende Mannsweiber, die in gebrochenem Deutsch kauderwelschen, während die edlen Deutschen aufrecht und mit den eigenen Händen die Heimaterde bebauen. Wenn Söderbaum im Finale zu Wasserleiche wird, ist sie eindeutig ein Opfer des volksfeindlichen Stadtlebens. Wie die offizielle NS-Politik vertritt DIE GOLDENE STADT die Reagrarisierung Deutschlands und die Rückgewinnung der verlorenen Ostgebiete, und diesen Statuten ist die melodramatische Geschichte weitgehend unter-geordnet. In der Theodor-Storm-Adaption IMMENSEE muss man nach politischen Implikationen schon länger suchen, doch auch hier ist die Stadt mit ihrem Lotterleben schließlich daran schuld, dass sich Söderbaums Liebster, der zum Musizieren in die Ferne zieht, von ihr abwendet, und sein flüchtiges Glück in italienischen Sängerinnen sucht, während Söderbaum ihr eigenes Glück bei einem Bild von Mann findet, der gar nicht daran denkt, den Hof seiner Eltern zu verlassen. Beide Filme, DIE GOLDENE STADT und IMMENSEE, sind hübsch anzuschauen, voll schöner Farbbilder, die leicht konsumierbare, manchmal triviale, manchmal ergreifende Herzschmerzgeschichten erzählen, und fügen sich homogen in das Kino ihrer Zeit. Bei OPFERGANG sieht die Sache da schon anders aus, und tatsächlich fällt es mir wirklich schwer zu glauben, dass dieser knallbunte Rausch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs unter Goebbels entstanden sein soll.
Wie bei IMMENSEE dient Harlan ein Stück Literatur zur Vorlage. Die Novelle, auf der sein Film basiert, heißt wie dieser OPFERGANG und wurde von Rudolf G. Binding bereits im Jahre 1912 verfasst. Dass ihren Autor heute höchstens noch ein paar Literaturwissenschaftler kennen, liegt wahrscheinlich an zwei Dingen. Zum einen hat Binding sich bereits in den 20ern für die nationalsozialistische Sache engagiert, 1933 stand sein Name - gemeinsam übrigens mit dem von Otto Flake und Gottfried Benn - unter dem Gelöbnis der treuen Gefolgschaft, das insgesamt 88 (sic!) deutsche Schriftsteller dem frischgebackenen Reichskanzler Hitler leisteten, und der gute Mann ließ sich danach bis zu seinem Tod 1938 gerne als Aushängeschild des Dritten Reichs gebrauchen. Zum andern ist zumindest OPFERGANG zwar ein Text, der mit Politik rein gar nichts am Hut hat, dafür aber heutigen Augen eine wenig unterhaltsame, sehr umständlich geschriebene und äußerst anstrengend zu lesende, altbackene, prätentiöse Dreiecksgeschichte von immerhin nur knapp 50 Seiten präsentiert, die wenigstens oft genug unfreiwillig komisch anmutet und erst weit gegen Ende ein bisschen an Fahrt aufnimmt. Schlicht unfassbar ist jedoch, was Veit Harlan, obwohl er sich eng an sie hält, aus dieser Vorlage herausgeholt und wie er das Herausgeholte in vorzüglicher Weise auf die Leinwand gebracht hat. Im Folgenden möchte ich anhand meiner sieben Lieblingsszenen meine absolute Verzückung über diesen traumhaften Film bekunden, der, wie ich finde, zu Unrecht niemals die Anerkennung erfahren hat, die ihm zusteht.
Erste Szene: Nietzsche-Dithyramben am Sonntagvormittag
Albrecht Froben ist von einer mehrjährigen Reise in die Fremde zurück in den Hamburger Hafen gekehrt. Nicht nur sein alter Freund Matthias freut sich über seine Wiederkunft und bestaunt dessen exotische Mitbringsel aus Asien und Afrika, auch und vor allem dessen Schwester Octavia, Albert schon früher mehr als freundschaftlich verbunden, kann, soweit das bei ihrer angeborenen Kühle und Strenge möglich ist, kaum an sich halten, als der Jugendfreund plötzlich vor ihr steht. Schnell, beinahe förmlich ist besiegelt, dass Albrecht und Octavia das Band der Ehe knüpfen werden. Albrecht ist ein Weltenbummler, ein Träumer, ein Abenteuer, und Octavia, wie ihr Name unmissverständlich verrät, eher so etwas wie eine zum Leben erwachte römische Statue: selbst in den hitzigsten Momenten noch auf seltsame Weise unnahbar. Um zu verdeutlichen, dass Albrecht sich in der Villa von Octavias Eltern, sobald die ersten Bauchschmetterlinge verflogen sind, zunehmend unwohl fühlt, inszeniert Harlan einen äußerst grotesken Vormittag, in dem die Familie Froben ihre, wie Octavias Mutter es nennt, „geistige Vorspeise für unseren Sonntagsbraten“ genießen. Das sieht wie folgt aus: man schließt sämtliche Fensterläden und setzt Octavia ans Klavier, wo sie ausnahmslos Nachtstücke Chopins spielt. Ihren Senatorenvater muss man ebenfalls nicht lange bitten bis er sich bereiterklärt, die eine oder andere Dionysos-Dithyrambe Nietzsches vorzulesen. Albrecht ist irritiert: Dionysos-Dithyrambe? Was soll das denn sein? Octavia, die den Band aus dem Bücherregal zieht, lacht ihn an: Das wirst Du bald schon wissen. Was folgt, ist eine Szene, bei der ernster Pathos und unfreiwillige Komik derart dicht aneinandergeschmiegt sind, dass es mir unmöglich ist, die Grenze zu bestimmen, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Octavias Vater thront in seinem Sessel, den Nietzsche-Band im Schoß und deklamiert dessen Gedicht mit dem bezeichnenden Titel DIE SONNE SINKT. Dazu bietet der seinerzeit vielbeschäftigte Filmkompo-nist Hans-Otto Borgmann so ziemlich alles auf, was man aus einem Orchester an Bombast herausholen kann: es klingt, als ob mindestens eine, wenn nicht gar zwei Götterdämmerungen bevorstünden. Nachdem Senator Froben geendigt hat, will er von Albrecht, der die ganze Zeit über skeptisch in Fensternähe stehengeblieben ist, wissen wie ihm der Vortrag denn gefal-len habe. Seine Antwort ist so unmissverständlich, dass Matthias vergeblich versucht ihn zum Schweigen zu bringen. Er finde das furchtbar, sagt er und reißt die Fensterläden auf. Ihr sitzt hier drinnen im Dunkeln und lest Texte von einem Genie am Rande der geistigen Umnachtung, während draußen die grellste Sonne scheint. Tatsächlich taucht im Fensterrahmen nun der See auf, an dem die Froben-Villa liegt, und auf dem, in bester Sommerstimmung, Segelboote kreuzen, Badegäste plantschen und vor allem die Sonnenstrahlen hell auf den sachten Wellen glitzern. Lange darüber rätseln, was Harlan uns mit dieser Szene sagen möchte, muss man nicht. Die Rollen, Positionen sind klar verteilt. Der Konflikt, der sich anbahnt zwischen Albrechts Freiheitsliebe und der drückenden Atmosphäre im Haus seines Schwiegervaters, liegt offen zutage. Durch all seine Übertreibungen – der Soundtrack, bei dem es schwerfällt, ihn nicht ironisch zu verstehen, die überzogene Nietzsche-Rezitation, die affektierten Monologe und Dialoge sämtlicher Schauspieler – wirkt das indes nicht einfach nur plakativ, sondern geht weit über bloße Plakativität hinaus und stößt, wie der gesamte Film, in merkwürdige Regionen vor, die noch weit über dem stehen, was man herkömmlicherweise Camp, Trash oder Kitsch nennt.
Zweite Szene: Die Söderbaum-Nixe
Eine Extra-Portion Nietzsche reicht einem Regisseur wie Harlan allerdings natürlich nicht, um OPFERGANG vollzustopfen mit bedeutungsschwangeren Symbolen aus der deutschen Kulturgeschichte. Eines Tages nämlich, als Albrecht genug hat von Schwermut und Todesahndung, unternimmt er eine Bootsfahrt auf besagtem See. Plötzlich tauchen zwei schlanke Frauenarme aus dem Wasser und halten sich an der Reling fest, aber nicht aus Verzweiflung und Panik vorm Ertrinken, sondern offenbar um von dem Ruderboot ein Stückchen mit hinaus zur Seemitte gezogen zu werden. Viel mehr als diese beiden Arme bekommen Albrecht und wir, die wir seine Perspektive einnehmen, zunächst nicht von dem lautlos herangeschwommenen Wasserwesen zu sehen. Es scheint eine Nixe zu sein, die sich unseren Helden als ihr nächstes Opfer ausgepickt hat. Dafür spricht nicht zuletzt der unaufhörlich noch jedes Bild mit zentnerdickem Klangteig zukleisternde Score Borgmanns – oder besser singt: denn von ihm ertönen nunmehr schrecklich hohe und schrecklich beschwörende Sirenengesänge. Das vermeintliche Fischschwanzmädchen scherzt auf Dänisch und Deutsch mit dem sichtlich erheiterten, gelösten Albrecht darüber, ob sie denn nun eine Nixe sei oder nicht, und verabschiedet sich irgendwann so schnell wie sie gekommen ist, indem sie das Boot einfach wieder loslässt. Mit dieser Szene wie aus einem Lorelei-Märchen bricht Harlan der Festung Realismus den nächsten Zacken aus der Krone. Offensichtlich möchte er OPFERGANG ganz bewusst in einer diffusen Zwischenwelt ansiedeln, auf der einen Seite das menschliche, gesellschaftliche Leben wie wir es kennen, auf der anderen, und ungleich stärker, das der Träume und Sagen, das der Trivialität und des Kitsches.
Dritte Szene: Die Dänischen Doggen
Freilich ist die junge Frau, die so unverhofft in Albrechts Leben schwamm, keine, deren Körper in einen schuppigen Schwanz ausläuft, vielmehr hört sie auf den Namen Äls Flodéen und bewohnt eine herrschaftliche Villa ganz in der Nähe derer von Froben. Octavia kennt sie schon seit ihrer Schulzeit, wo sie bereits als Wildfang aufgefallen ist, sonst weiß sie dem neugierigen Albrecht jedoch nichts zu verraten über das lebhafte Mädchen, das sich hartnäckig in seinem Kopf festgesetzt hat. Harlan indes ist gnädig und führt uns mitten hinein in Äls einsamen Salon, den sie allein mit einem Rudel Dänischer Doggen bewohnt. Als sei sie eine frühe Form solcher durch die Anwesenheit von Hunderüden fetischisierten Heldinnen des europäischen Kinos wie Barbara Steeles Asa Vajda in Mario Bavas LA MASCHERA DEL DEMONIO (1960) oder Brigitte Lahaies namenloser Blondinne in Jean Rollins LES RAISINS DE LA MORT (1978), umgeben sie die schwarzweiß gescheckten großen Tiere wie eine Gruppe Höflinge, die wenig verhohlen die erotische, wenn nicht sogar offensiv sexuelle, Energie verkörpern, von der Äls wie von einem Netz umgeben ist, in dem Albrecht sich wiederum hoffnungslos verfängt. Doch nicht alles ist rosig im Leben der kleinen Dänin: Sanitätsrat Terboven ist zu Besuch und spricht mit ihr über eine geheimnisvolle Krankheit, die Äls schon seit Jahren mit sich herumschleppt, die sie in jähen Anfällen überwältigt und dann für längere Zeit ans Bett fesselt. Zugleich ist die Rede von einer kleinen Tochter, die Äls aus einer früheren Beziehung hat, die aber fern von ihr bei einer Amme in Hamburg aufwächst, da Äls ihr nicht den rastlosen Lebenswandel ihrer Mutter zumuten möchte. Ebenfalls Erwähnung findet Äls eigene Mutter, die an der gleichen Erbkrankheit, die auch Äls plagt, jämmerlich dahingesiecht sein soll. Für jemanden, der mit der Lupe nach noch dem feinsten Staubkörnchen NS-Ideologie in OPFERGANG suchen möchte, wird die Dialogszene zwischen Terboven und Äls eine der wenigen Stellen sein, an der er möglicherweise fündig werden kann. Um zu verdeutlichen, wie furchtbar sie es fand, dass das sowieso dem Tod geweihte Leben ihrer Mutter, und damit ihr Leiden, von den Ärzten künstlich verlängert worden ist, erzählt sie ihrem Hausarzt die Geschichte einer ihrer Doggen. Die sei nämlich ebenfalls erkrankt, doch Äls habe sich ihrer erbarmt, eines Tages, als sie feststellte, wie aussichtslos die Lage sei, ein Gewehr genommen und ihrer Qual ein Ende bereitet. Wer unbedingt will, kann in diesem offenen Bekenntnis zur Sterbehilfe eine Analoge ziehen zum sogenannten Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten, und OPFERGANG somit in Bezug setzen zu dem ungleich bekannteren Melodram ICH KLAGE AN von Wolfgang Liebeneiner aus dem Jahr 1941, in dem ebenfalls ein Arzt seiner an Multipler Sklerose erkrankten Frau auf deren Wunsch hin bei der Selbsttötung hilft, und der oft und gerne herangezogen wird, wenn es darum gehen soll, den menschenverachtende Umgang mit Behinderten und Todkranken im Dritten Reich zu illustrieren. Für jemanden, der indes auf der Suche ist nach wahnwitzigen Bildkompositionen, bei denen man sich fragen muss, was Harlan sich nur bei ihnen gedacht haben mag, ist die gleiche Szene jedoch genauso eine Fundgrube. Während des Dialogs zwischen Äls und Terboven schneidet Harlan ganz klassisch im Schuss-Gegenschuss-Prinzip vom Gesicht der einen zu dem des andern – was jedoch irritiert, ist, dass rechts hinter Terboven stets ein weiterer Kopf, nämlich der einer Dänischen Dogge zu sehen ist, die ihm über die Schulter schaut, und das hat mich nicht wenig irritiert und amüsiert.
Vierte Szene: Die Söderbaum-Walküre
Weiter geht es damit, dass Harlan Äls und damit indirekt seine Lebens- und Bettgefährtin Kristina Söderbaum, hochstilisiert von der Nixe zur Walküre, indem er sie in einigen schlicht unglaublichen, weil in keiner Weise ironisch gebrochenen Szenen allerhand Abenteuer mit Albrecht, der zunehmend Zeit mit ihr verbringt und zunehmend sein Herz an sie verliert, bestehen lässt. Sie schießt mit Pfeil und Bogen, wie eine germanische Kriegerin, die in einer Schlacht gegen feindliche Stämme ihren Mann steht, sie reitet ihr Ross ohne mit der Wimper zu zucken ins gischtschäumende Meer hinein, dass selbst Albrecht es schon fast zu toll wird, und sie spricht in einem Strandkorb in für Albrecht unverständlichen, für uns aber nur allzu verständlichen Allegorien von ihrem drohenden Tod, erzählt von Möwen, die Leuchttürme für Sonnen halten, gegen sie fliegen und sterben – und dazu steht Borgmanns Pathos-Jukebox nicht einen Sekundenbruchteil still. Während Albrecht sich gar nicht bewusst zu sein scheint, dass er sich in für einen verheirateten Mann gewagtes Terrain begibt, ist die Lage sowohl für Octavia als auch für Äls in ihrer ganzen Tragweite kein Geheimnis. Letztere unterhält in einer weiteren verrückten Szene ein Zwiegespräch mit ihrem Lieblingspferd und schüttet diesem ihr Herz aus: wie sehr sie Albrecht liebe und wie sehr sie überzeugt sei, dass das alles in Schmerzen und Katastrophen münden müsse. Der Gaul ist ein Kavalier und schweigt, dafür sind die Doggen umso lauter, sie winseln regelrecht, als Matthias überraschend vor Äls Tür steht. Er möchte sie bitten, die Finger von Albrecht zu lassen, immerhin sei der mit Octavia, seiner Schwester, glücklich. Was er Äls vorschlägt, ist eine räumliche Trennung von Albrecht. Nur dadurch könne, so Matthias, ein schwelendes Unglück abgewendet werden. Äls Gesicht daraufhin ist zwar leer wie ein weißes Blatt Papier, doch sie stimmt ihm insgeheim zu, packt ihre Sachen, verlässt das Märchenreich mit unbekanntem Ziel, um Albrecht seiner Octavia zu lassen.
Fünfte Szene: Die Rutschbahn
Womit wir zu meiner liebsten Szenen des gesamten Films kommen, d.h. zu der, die mich am meisten schlicht umgeblasen hat. Octavia beschließt, nun, wo Äls erstmal aus Albrechts Leben entschwunden ist, für ihn ihre Rolle einzunehmen, und sich mit ihm in ähnliche aufregende Abenteuer zu stürzen. Ein Maskenball mit dem vielsagenden Titel Die Rutschbahn soll der Ort sein, wo sie das Herz ihres Angetrauten für sich zurückgewinnt. Der Plan sieht folgendes vor: Albrecht, Matthias und Octavia erscheinen unabhängig voneinander in Verkleidungen, die keiner der andern vorher zu Gesicht bekommen hat, auf dem Narrenfest und müssen sich dort dann unter all den übrigen Larven ausfindig machen. Ich sage: Maskenball, doch was Harlan und sein Kameramann, der seinerzeit vielbeschäftigte Bruno Mondi, in den folgenden Minuten als Feuerwerk aus kunterbunten Farben abfackeln, das kann man durchaus schon als Vorstudie zu solchen kinematographischen LSD-Trips wie beispielweise Dario Argentos SUSPIRIA oder, erneut, Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA auffassen. In Massenszenen, die OPFERGANG plötzlich völlig herausreißen aus seinem bisherigen kammerspielartigen Charakter, tummeln sich Narren und Närrinnen in einer Ausgelassenheit, die schon an Rauschzustände grenzt. Cowboys schießen mit Pistolen in die Lüfte, Luftschlangen fliegen überall umher, neben den unermüdlich dröhnendem Borgmann-Score sind es vor allem Gekreisch und Gelächter, das die Festhalle erfüllt. Hauptattraktion ist aber das, was der Party den Namen gegeben hat: Eine überdimensionale Rutschbahn, die aus dem geöffneten Maul eines Clownskopfes herausführt, der mich sofort an den kinderfressenden Moloch im italienischen Stummfilmmonumentalklassiker CABIRIA erinnert hat, mit dem Unterschied, dass er in OPFERGANG nicht verschlingt, sondern ausspuckt, und zwar eine Woge purzelnder, schreiender, übereinander stürzender, miteinander rangelnder Körper in den verrücktesten Anzügen, für die Harlan scheinbar sämtliche Kostümverleiher des Reichs geplündert haben muss. In all dem irren, auf sämtliche Regeln, sämtlichen Anstand pfeifenden Treiben wirken Matthias und Octavia, letztere angetan mit einer strengen Goldmaske, wie zwei Fremdkörper, als sie gravitätisch die Saaltreppe heruntergeschritten kommen. Albrecht ist da schon mehr in seinem Element, auch oder gerade weil er eine Begegnung der Art hat wie man sie normalerweise eher von einem Regisseur wie David Lynch kennt: Zwei Frauen, mit ihren Masken komplett identisch ausschauend, und dabei frappierende Ähnlichkeit mit Äls besitzend, angeln sich unseren auf der Suche nach Octavia umherlaufenden Helden, ziehen ihn mit zur Bar, reden dort nicht viel, starren ihn stattdessen derart eindringlich an, dass ihre vier Augen ihm scheinbar die Vision Äls eingeben, die irgendwo weit weg vor ihrem Tagebuch sitzt, in das sie Briefe an Albrecht schreibt, von denen sie nicht vorhat, sie jemals abzuschicken. Die Überblendung, mit der das geschieht, ist ein kleines Glanzstück für sich: Albrechts wie hypnotisiert in Richtung der beiden automatenhaften, sich synchron zueinander bewegenden und verhaltenden Frauen stierendes Gesicht verschwimmt unter einer Großaufnahme von Äls offenem Tagebuch, in dem die Spitze eines Füllfederhalters ihre Kreise zieht. Dann wird zu Äls selbst geschnitten, die laut vorliest, was sie gerade an sehnsuchtsvollen Worten niedergekritzelt hat, nur um dann zurück zu Albrecht zu leiten, der plötzlich forscher, leutseliger wird, und mit den beständig kichernden Mädchen einen Flir beginnt. Erst das Auftreten Octavias unterbindet das, er lässt die beiden Masken linksliegen und schließt sich seiner Ehefrau und seinem Schwager an. Neben der Tatsache, dass die Karnevalsszene einfach nur göttlich montiert, gefilmt und komponiert ist, und der mich nicht loslassenden Frage, wie denn ein solcher Ausbund künstlerischer Subversion, der schon fast wie ein Wetterleuchten der Nachkriegsavantgarde wirkt, es im Deutschland des Jahres 1944 auf die Kinoleinwände geschafft hat, ist es vor allem ein Umstand, der mich Harlans Rutschbahn rückhaltlos lieben lässt: Statt dass all die bisher aufgebauten Rätsel irgendeine Auflösung erfahren, oder auch nur die Andeutung einer solchen, belässt Harlan uns völlig im Nebel. Wir erfahren weder wer die beiden Frauenzimmer gewesen sein sollen noch inwieweit sie mit Albrechts plötzlichem Gedanken- oder Gefühlsaustausch mit Äls in Verbindung stehen und schon gar nicht, was das für ein völlig gegen den Strich gebürsteter Maskenball sein, auf dem unsere Helden sich wiederfinden, und der wie etwas wirkt, das einem in Träumen oder Drogenräuschen begegnet, nur nicht in der Realität, und schon gar nicht in der des Dritten-Reich-Kinos. Lose hängen die Fäden herab und ich muss sie selbst zusammenbinden, während Octavia von einem krakeelenden Büttenredner zur Ballkönigin gekürt wird, sie sich gegen die Übergriffe der Menge aber verwehrt und die Flucht antritt, worauf Matthias und Albrecht ihr in einer eigenen Kutsche folgen, und der Morgen anbricht, und die Narren der Nacht verblassen wie etwas, dem man sich nur für ein paar Minuten hingeben kann ohne selbst den Verstand zu verlieren.
Sechste Szene: Die Verfolgungsjagd
Harlan hat noch immer nicht genug. Wie kann man OPFERGANG nun noch steigern? Vielleicht mit einer Verfolgungsjagd zu Fuß quer durch ein Hamburg, das sich im Jahre 1944 noch völlig unversehrt von jeglichen Kriegsschäden zeigt? Genau. Äls nämlich ist zurück und Octavia spürt, dass sich zwischen Albrecht und ihr wieder etwas anzubahnen beginnt, und sie heftet sich an Äls Fersen, aus dem irrationalen Gedanken heraus, zu ergründen, was es ist, das Albrecht an ihr findet. Matthias, der angeblich gespürt hat, dass etwas mit seiner Schwester nicht stimmt, stößt aus dem Nichts hinzu und gemeinsam stellen sie der jungen Dänin nach, und verfallen, Schritt für Schritt, ebenfalls der Muse Söderbaum, die inzwischen schon dem kompletten Film mit ihrem nordischen Charme den Kopf verdreht hat. Männer bleiben auf offener Straße stehen, grüßen sie, gucken ihr hinterher. An Octavia gehen sie achtlos vorbei. Das regt sie, wie in Bindings Novelle, auf. Matthias beschwichtigt sie: sie solle doch froh sein, dass ihr nicht jeder Mann hinterherpfeife. Das befriedigt Octavia aber überhaupt nicht. Je länger sie Äls folgt desto deutlicher wird ihr, in welchen Belangen sie nie mit ihr konkurrieren wird können, und dass das genau die Belange sind, die Albrechts Herz gefesselt halten. Dann aber die große Überraschung: Äls besucht ihr Töchterchen, und Matthias und Octavia erfahren von ihrem einstigen Fehltritt. Mehr noch: Typhus – und nicht die Cholera wie in Bindings Vorlage – grassiert in Hamburg, Äls steckt sich bei ihrer sowieso angegriffenen Gesundheit damit an, und endet im Krankenbett, von dem ihr Arzt Terboven nicht ausschließt, dass es ihr Sterbelager werden wird. Wann kommt es denn nun aber endlich zu dem titelgebenden OPFERGANG?
Siebente Szene: Die Sonne sinkt
Den größten und entscheidensten Eingriff in die literarische Vorlage Bindings hat Harlan sich bis zum Finale aufgespart - und, wie er in seiner Autobiographie schreibt, nicht freiwillig, sondern auf Drängen Goebbels hin. Während in der Novelle OPFERGANG Äls, die dort übrigens Joie heißt, der Cholera nicht ihr Leben hingibt, dafür ihr aber Albrecht erliegt, weil er ihr uneheliches Töchterchen aus Hamburg geholt und sich bei diesem angesteckt hat, ist es in Harlans Filmfassung genau anders herum. Hier können Albrecht und Octavia in einen Sonnenuntergang schreiten und Äls einen letzten Gruß übers Meer schicken, in den ihre Asche gestreut worden ist. Was dem jeweiligen Tod vorausgeht, ist bei Binding und Harlan indes identisch: Äls liegt krank im Bett und nur Albrecht hält sie am Leben, indem er allabendlich vor ihr Gartentor reitet, das sie vom Fenster aus sehen kann, und ihr zuwinkt – näher darf er ihr wegen der Ansteckungsgefahr nicht kommen. Doch das reicht auch schon aus, um Äls Mut zu stärken, wie auch Terboven bestätigt, der Albrechts Zuwendung für die beste Medizin der Kranken hält. Dann aber, nachdem Albrecht mit Äls Tochter in Berührung gekommen ist, bricht er selbst unter dem Typhus-Virus zusammen und kommt ins Krankenhaus. Seine größte Furcht vertraut er Octavia an: er glaubt, nun, wo er sich ihr nicht mehr in der Abenddämmerung zeigt, sei es um Äls geschehen. Der Opfergang, auf den der gesamte Film hinausläuft, ist nun dieser: Octavia zieht Albrechts Reiteroutfit über und übernimmt für Äls selbst seine Rolle. So kann die Kranke, auf die Täuschung hereinfallend, zufrieden und glücklich einschlafen – allerdings erst nachdem Harlan dem reinsten Kitsch noch eine ganze Schafsherde geopfert hat. Sterbend kommunizieren Albrecht und Äls miteinander, es scheint, als führten ihre Seelen ein Zwiegespräch, Überblendungen bringen ihre Gesichter zueinander, und unbeschreibliche Farbspiele verwandeln die Leinwand in einen überschäumenden Cocktail aus ästhetischen und formalen Entscheidungen, die die meisten Regisseure wohl aus Angst vor Reputationsverlust nicht getroffen hätten. Um es nochmal deutlich zu machen: Im Gegensatz zu den letzten fünf Minuten von OPFERGANG wirkt jede Rosamunde-Pilcher-Verfilmung im Vorabendprogramm Öffentlich-Rechtlicher Sender wie eine nüchterne Studie gröbsten Realismus.
Trotz der vielen Worte bleibe ich am Ende vor diesem Film doch stehen wie vor einem Buch mit siebenundsiebzig Siegeln. Wie konnte diese eigenartige und eigenwillige Mischung aus Wagner-Pathos, Avantgarde-Spielereien, zuckrigstem Kitsch und pathetischstem Emotionsüberschuss bloß zu solch einer Zeit in der vorliegenden Form gedreht und veröffentlicht werden? Ich meine, dass sich zu Beginn des Dritten Reichs innerhalb der deutschen Kinolandschaft noch das eine oder andere Experiment findet – man denke an das allerletzte Aufbäumen des Stummfilmexpressionismus in Frank Wisbars FÄHRMANN MARIA (1936) oder einen reinen Avantgarde-Film wie Oskar Fischingers KOMPOSITION IN BLAU (1935) -, ist leicht verständlich, doch OPFERGANG stammt, wie gesagt, aus einer Zeit, in der die erfolgreich durchgeführte Gleichschaltung der Filmindustrie unter den Willen Goebbels und der zunehmend für das Deutsche Reich ungemütlicher werdende Zweite Weltkrieg freies Schöpfertum im Grunde kaum noch zuließen. Dabei hat OPFERGANG aber nicht einen Hauch von NS-Propaganda in sich, und selbst die Möglichkeiten, die es gegeben hätte, diesen in den Film hineinzupusten, lässt Harlan ungenutzt liegen. Zum Beispiel wäre es doch kein Problem gewesen, Octavias aufopfernde Liebe zu Albrecht umzudeuten in die aufopferungsvolle Liebe, die ein jeder Reichsbürger seinem Vaterland an der Kriegs- oder Heimatfront leisten sollte. Genau das geschieht aber nicht, stattdessen bleibt OPFERGANG, trotz seiner morbiden Sterbesehnsucht und erlösenden Todesgedanken, von Anfang bis Ende in einer betörenden Kunstwelt stecken, in der von Dingen wie Politik und Krieg, scheint es, niemand jemals etwas gehört hat. OPFERGANG glimmt wie ein kostbarer Funken in der doch eher grauen Kinolandschaft Hitler-Deutschlands, und hätte es mehr als verdient, endlich in einer vorbildlichen DVD-Edition den Beweis dafür antreten zu können, dass man wirklich überall, selbst im Oeuvre eines als NS-Handlanger verschrienen Regisseurs kurz vor der Kapitulation, noch etwas Schönes findet, das dadurch, dass man überhaupt nicht damit gerechnet hat, noch viel schöner wird.