Da bereue ich es nun doch nicht, gestern Morgen, entgegen der Stimmen von Vernunft und Körper, nach einer schlaflos durchzechten Nacht in Heidelberg quasi direkt aus der Altstadtkneipe in die Bahn nach Frankfurt zu fallen, und mir dort zumindest drei Filme des diesjährigen Terza Visione anzuschauen. Es sind:
LA RIVOLTA DEI SETTE (Alberto de Martino, 1964)
Der Tyrann von Sparta wird vom Bruder eines ermordeten Freiheitskämpfers gestürzt, der sich zu diesem Unternehmen nicht nur in den Bergen versteckten Rebellen angeschlossen hat, sondern vor allem – wie einst Capitaine Fracasse – Teil einer Wan-derschauspielertruppe geworden ist. Während die üblichen peplum-Ingredienzien wie Gladiatorengefechte oder eingeölte Muskelpakete etwas zu kurz kommen, merkt man dem Film an, wie viel Spaß er hat, das loyale Gefüge zwischen den titelge-benden sieben Helden und Heldinnen zu zeichnen, die ebenfalls eine eigentlich recht heitere Zeit haben, wenn sie mit ihrem Zirkuswagen von Dorf zu Dorf fahren, kleine Äffchen und Geparde zu Kunststückchen anstacheln, viel und gerne zechen und, zumindest im Fall unseres Hauptprotagonisten Tony Russel und der Tochter des Obermimen, sich ineinander verlieben. Mög-licherweise lag es an meinem noch halb betrunkenen Zustand, dass LA RIVOLTA DEI SETTE teilweise drohte, mir die Bauch-decke zu zerreißen, wenn die angeblichen Spartanischen Soldaten eindeutig Kostüme aus der Abteilung „Altes Rom“ der Re-quisiten-Krabbelkiste trugen, die deutsche Synchronfassung Sprüche raushaut, für die man mancherorts Stadtverbot erteilt bekommen würde, und der generell Gesamteindruck – gerade wegen der absolut ahistorischen Schauspielgruppe, die ich in dieser Form frühestens im sechzehnten Jahrhundert erwartet hätte - irgendwie in die Richtung „Wilhelm Meister als infantiler Sandalen-Spaß“ tendierte.
CHI È SENZA PECCATO… (Raffaello Matarazzo, 1952)
Douglas Sirk auf Italienisch, freilich ohne dessen opulente Technicolor-Exzesse, dafür mit ganz dezenter Gesellschaftskritik an-hand der Themen Arbeitsmigration und Teenie-Schwangerschaft, die Melodramen-Fachmann Matarazzo allerdings nicht, wie seine neorealistischen Kollegen, nutzt, um eine politische oder auch nur moralische Wertung zu formulieren, sondern einzig dazu, mir das Salz im großen Stil aus meinen Tränendrüsen pressen zu wollen. Die kaum nacherzählbare, weil recht komplexe, zerfaserte, sich ständig neu erfindende bzw. einer Spirale der Schicksalsschläge unterwerfende Geschichte voller Irrungen und Wirrungen, falscher Schuld und falscher Sühne, unehelicher Kinder und minderjähriger Mütter, einer Hochzeit über den Atlantik hinweg, natürlich einer Liebe, die stark genug ist, Zeit und Leid zu überdauern, und mit Yvonne Sanson einer Heldin, die sich nun wirklich jede persönliche Tragödie gefallen lassen muss, der einer schlichten, liebenden Frau im Italien der frühen 50er zustoßen kann, watet knietief in Mechanismen, die nahezu perfide auf emotionalen Effekt abzielen, ist dabei ziemlich kurzweilig – vor allem, da das Mühlrad der Handlung so gut wie nie stillsteht -, wird erzählt mittels teilweise außerordentlich interessanten Nebenfiguren – von hexenhaften Gräfinnen bis hin zu sleazy Geldeintreibern - und endet zugleich schrecklich verlogen, schrecklich kitschig und schrecklich schön mit der Zusammenführung einer (falschen) Heiligen Familie. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Namen Matarazzo in Zukunft noch öfter tippen werde.
ARCANA (Giulio Questi, 1972)
Mein Gefühl damals, vor vielen Jahren, als ich eine im Netz kursierende, dem Film völlig unwürdige Fassung gesehen habe, dass wir es hier mit einem Meisterwerk des transgressiven Kinos der 70er Jahre zu tun haben, das auf eine Höhe mit Zéno, Zulawski oder Borowczyk angesiedelt werden sollte, hat mich kein bisschen verlassen, im Gegenteil: ARCANA ist das Produkt eines Re-gisseurs, der Konventionen höchstens vom Hörensagen kennt, dafür vertraut ist mit (visuellen) Tabubrüchen jeder Art, und sich trotzdem die Zeit nimmt, nichts zu überstürzen und seine beinahe kammerspielartig angeordneten Figuren mit präzisem Voyeurismus ganz genau beobachten. Teilweise wirkt ARCANA, wenn wir minutenlang esoterisch angehauchter Mutter und Sohn bei ihren (überhaupt nicht alltäglichen) Verrichtungen zuschauen, als werde Chantal Akermans JEANNE DIELMAN in einen komplett derangierten okkult-magischen Kontext transportiert, bevor der Film sich dann wieder weit hineinlehnt in das nebulöse Reich irgendwo zwischen Arthouse und Grindhouse: In Fluren herumlungernde und Erhängen spielende Kinder werden wie kleine Monster inszeniert, und inzestuöse Phantasien kochen in einer Weise hoch, bei der Hitchcock kalte Schweiß-träume bekommen hätte, und in einer der vielleicht atemberaubendsten Szenen der italienischen Kinogeschichte wird ein Esel-chen per Seilwinde auf ein Bauernhüttendach gehievt wird, während parallel dazu Fröschlein aus einem Frauenmund hüpfen. ARCANA ist ein Film wie für mich gemacht: Spielerisch balancierend auf der Grenze zwischen Narration und formalem Expe-riment, zwar vollgestopft mit Symbolen und geheimen Falltüren, aber trotzdem zumindest ansatzweise bereit, über Figuren eine Art von Geschichte zu erzählen, und dabei kompromisslos wie man nur sein kann.
Da ich heute einige Termine in der Pfalz habe, musste ich Scattinis Reise ins sexuelle Schweden im Stich lassen und bin dann nach ARCANA direkt zum Bahnhof gehuscht, um den letzten Zug zu erwischen. Der Plan ist, am Sonntag zurückzukehren. Seltsam, dass ich keinen der Delirianer erspäht habe. Vielleicht lag es daran, dass ich die Pausen zumeist schlafend am Neckar verbrachte? Dafür erfuhr ich interessante Details aus der Familiengeschichte eines auch hier hochgeschätzten Heimatfilmforschers, die an sich schon einen spannenden Film abgeben würden.