Es war einmal in Amerika
New York zur Zeit der Prohibition: Die Straßenkinder Max, Noodles und ihre Kumpel kämpfen sich mit organisiertem Raub und illegalem Alkoholhandel nach oben. Dann wandert Noodles wegen Mordes ins Gefängnis. Zehn Jahre später kehrt er als Erwachsener zurück. Max und die anderen nehmen ihn wieder in ihrer inzwischen mächtigen Bande auf. Aber bald gibt es zwischen den Freunden Streit, der mit brutaler Härte ausgefochten wird.
„Ich mag den Gestank der Straße, ich rieche ihn gern. Wenn ich ihn einamte, fühle ich mich wohler.“
Mit „Es war einmal in Amerika“, basierend auf dem zumindest vorgeblich autobiographischen Roman „The Hoods“ von Harry Grey, schloss Sergio Leone 1984 seine „Amerika“-Trilogie, die neben jenem aus den weiteren beiden Filmen „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „Todesmelodie“ besteht, ab. Es sollte leider sein letzter Film sein. Aber was für einer!
Leone hat tatsächlich das Kunststück vollbracht, einen über dreieinhalbstündigen (und ursprünglich anscheinend sogar noch länger geplanten) Film zu kreieren, ohne zu langweilen oder sich abzunutzen. „Es war einmal in Amerika“ unterhält von der ersten bis zur letzten Sekunde prächtig und auf verdammt hohem Niveau. Statt eines zähen Geschichtsepos präsentiert Leone vordergründig die Geschichte einer New Yorker Verbrecherorganisation zu Zeiten der Prohibition bzw. nach Aufhebung selbiger und zeichnet dabei den damaligen Überlebenskampf armer Straßenkinder, ihre Entwicklung nach dem „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Prinzip abseits des Gesetzes sowie die kapitalistischen Mechanismen zur Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft, Korruption, Erpressung und Auftragsmorde nach. Doch damit nicht genug, eigentlich geht es um viel mehr: Männerfreundschaft und –feindschaft, Loyalität und Verrat, Bodenständigkeit und Ehrgeiz, Moral und Sünde, Wahrheit und Lüge, Lebensfreude und unglückliche Liebe, Jugend und Alter… – und das vielleicht mitunter ziemlich dick aufgetragen, aber nie in die Kitschfalle tappend. Stattdessen ist man sehr erfolgreich um Realismus bemüht: Es gibt keine Heldengestalten, keine makellosen Sympathieträger. Wird jemand erschossen, spritzt Blut, wenn auch zugegebenermaßen ungewöhnlich helles, doch Gewaltanwendungen haben sichtbare Konsequenzen. Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung und weder für ihr Opfer nur für den Zuschauer angenehm. Dass diese nüchtern, aber nie zynisch eingesetzten Elemente wohldosiert und nicht selbstzweckhaft Verwendung fanden, braucht wohl nicht wirklich erwähnt werden.
Leones Film erstreckt sich über drei Zeitebenen, die in loser, nichtchronologischer Abfolge und episodenartig aneinandergereiht werden. Die einzelnen Ereignisse zeitlich korrekt im Kontext zum brutalen, undurchsichtigen Prolog einzuordnen, erfordert einige Konzentration und erhält bis zum Schluss die Spannung aufrecht, doch auch wenn man den roten Faden mal verliert oder gar vergisst, dass es einen gibt, funktioniert „Es war einmal in Amerika“ insbesondere aufgrund seines pointierten episodenartigen Charakters. Am Ende fügen sich alle Puzzleteile zu einem überraschenden Finale zusammen, das so wohl kaum jemand hervorgesehen haben dürfte.
Für die 1922 spielenden Szenen verpflichtete man eine Reihe Jungdarsteller, die nicht nur großartig das Schauspiel beherrschen, sondern auch ihren erwachsenen Äquivalenten verblüffend ähnlich sehen (unter ihnen debütiert übrigens die bezaubernde Jennifer Connelly). Man lernt die jugendlichen bis kindlichen Noodles, Max & Co. kennen und schließt sie schnell ins Herz. Zu beobachten, wie sie sich in den Straßen New Yorks durchschlagen, hat etwas von juveniler Ausreißerromantik und trotz aller Widrigkeiten, denen sie ausgesetzt sind, macht es Spaß, ihnen beim Erwachsenwerden zuzuschauen. Dass sie zwangsläufig bereits eine beachtliche kriminelle Energie entwickeln und eine verschwörerische Gang bilden, ist einerseits erschreckend, andererseits aber ein Hoffnungsschimmer in einer Welt, in der manch unterprivilegiertes Individuum unter die Räder kommt. Die Hoffnung zerbricht jäh, als der Streit mit einer älteren Gang eskaliert und Noodles den Anführer ersticht, woraufhin er eine Gefängnisstrafe antreten muss.
In den 1932 spielenden Szenen trumpfen dann Robert De Niro als Noodles und James Woods als Max mächtig auf. Als Noodles aus dem Gefängnis entlassen wird, ist die alte, kleinkriminelle Clique zu einer mächtigen Untergrundorganisation geworden, die illegale Kneipen und Bordells betreibt und „Auftragsarbeiten“ verrichtet. Doch nach anfänglicher Wiedersehensfreude – u.a. mit Noodles Jugendliebe Deborah – kristallisieren sich Diskrepanzen zwischen Noodles Erwartungshaltung und der gänzlich anders gearteten Realität heraus. Nicht zuletzt aufgrund des Loyalitätsschwurs bleibt Noodles aber an der Spitze der Organisation und betreibt sie zusammen mit Max weiterhin sehr erfolgreich. Man steigt gar in den politischen Kampf ein und unterstützt die Gewerkschaften in ihrem Kampf gegen den Terror des Arbeitgeberverbands und anderer reaktionärer und korrupter Kräfte. Das mutet für einen Gangsterfilm zunächst etwas seltsam an und ich bin mir nicht sicher, ob hier nicht evtl. Leones (bzw. Greys) Idealismus mit ihm durchging oder ob derartige Fälle geschichtlich verbürgt sind. An dieser Stelle beobachtete ich interessanterweise eine Art Stilbruch: Im Zuge des Polit-Zirkusses wird der Film humorvoller und ich wähnte mich bisweilen in einer parodistischen Satire. Das Stilmittel der karikierenden Überzeichnung von Charakteren wird beispielsweise für den korrupten Polizisten angewandt, der kurzzeitig eine Rolle im Geschehen einnimmt. Das lockert den schweren Stoff einerseits auf, reißt den Zuschauer aber andererseits aus der bisherigen Stimmung des Films. Letztlich handelt es sich aber um ein im Vergleich zur Gesamtlaufzeit relativ kurzes Intermezzo. Max und Noodles scheinen sich immer weiter in entgegengesetzte Richtungen zu entwickeln. Oder entwickelt Max sich weiter und Noodles tritt auf der Stelle, seine Entwicklung stagniert? Diese Momente gehören zu meinen persönlichen Favoriten innerhalb des Films – wohin wird diese Interessendivergenz führen? Wie viel hält diese Freundschaft aus? Siegt das Loyalitätsbekenntnis über das eigene ungute Gefühl? Wie geht Noodles mit der Situation um, welche Entscheidungen werden getroffen? Leone zieht die Spannungsschraube an.
Die dritte Zeitebene wurde 1968 angesiedelt. Die Schauspieler wurden durch hervorragende Maskenkünste auf alt getrimmt, man bekommt es also glücklicherweise weiterhin mit De Niro und Konsorten zu tun und beobachtet einen sonoren, in sich ruhenden, in einer Mischung aus Desillusion und Abgeklärtheit schwer aus dem Konzept zu bringenden Noodles auf der Suche nach seinem vergangenen Leben, mit dem anscheinend abgeschlossen hat. Ein einsamer, alternder Mann auf der Suche nach der Wahrheit. Strenggenommen findet er sie anscheinend ohne wirklich nach ihr gesucht zu haben. Erst ein ominöser Brief mit der Aufforderung, zurück nach New York zu kommen, bringt diesen Prozess in Gang. Ein Prozess, der sowohl für Noodles als auch den Zuschauer mit einigen Überraschungen gespickt ist. Wir erleben, wie wichtige Parameter in Noodles Leben auf den Kopf gestellt werden, eine Art beschwerlichen Selbstreinigungsprozess, eine Bilanzierung. Mehr verrate ich nicht.
Die Ausstattung aller drei Zeitebenen erscheint detailliert und realistisch, man fühlt sich in die jeweilige Epoche zurückversetzt. Nettes Detail: Das Wort „Mafia“ kommt – ähnlich wie in Coppolas „Der Pate“ und sofern ich mich nicht verhört habe – kein einziges Mal vor, wobei man es hier aber auch mit keiner typischen Mafia zu tun hat. Leone und sein Team schienen nichts dem Zufall zu überlassen, jede Einstellung, Kameraperspektive, Geste und Mimik scheint durchdacht. Die Gänsehaut wird in einer Reihe von Szenen strapaziert, ohne dass Leone auf seinen typischen Western-Pathos hätte zurückgreifen müssen. Seine Sensibilität im Umgang mit der Melancholie des Films und dessen Protagonisten sorgt für manch leisen Moment in einem ruhig erzählten Film, der sich – eher ungewöhnlich für die 1980er – alle Zeit der Welt nahm und von der Musik des Maestros persönlich, Ennio Morricone, veredelt wurde. In der Retrospektive – entweder noch während des Ansehens bereits bezogen auf vorausgegangene Szenen oder unmittelbar danach vor allem hinsichtlich des wahnwitzigen Finales – wird zumindest mir die Wirkung bedeutungsvoller Einzelszenen bzw. des gesamten Films erst richtig bewusst. Ich spüre richtiggehend, wie sich „Es war einmal in Amerika“ im Langzeitgedächtnis festsetzt und ich Noodles Erfahrungen als Teil meiner eigenen von nun an mit mir tragen werde; schließlich habe ich fast vier ereignisreiche Stunden seines Lebens mit ihm geteilt. Und das Tollste: Das Ende lädt direkt zur Zweitsichtung ein.
Ganz, ganz großes Kino. Mit Sicherheit einer der sehenswertesten Filme überhaupt. Sergio Leone war einfach der Beste.