Annie Belle - Zur Liebe geboren - Massimo Dallamano (1976)

Alles aus Italien, was nicht in die anderen Themenbereiche gehört.

Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Re: Annie Belle - Zur Liebe geboren - Massimo Dallamano (1976)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Irgendwann findet wohl jeder einmal sein ureigenes Kryptonit – und meines durfte ich während der Sichtung von LA FINE DELL’INNOCENZA literweise aus dem sprichwörtlichen Schierlingsbecher saufen. Ich habe mich fast durch das gesamte Oeuvre Andreas Bethmanns gekämpft, ich bin mit etlichen Shockumentaries der menschenverachtendste Sorte à la TRACES OF DEATH auf Tuchfühlung gegangen, ich verbrachte über 13 Stunden in einem Kinosaal, unterbrochen nur von kurzen Toilettenpausen, um mir die Langfassung von Jacques Rivettes OUT 1 in einem Rutsch zu besehen – und dann kommt ein italienisches Erotikdrama mit einem vollkommen unschuldigen Titel daher, und scheucht mich vorzeitig aus dem Kommunalkino Lübeck. Tatsächlich riss mein Geduldsfaden relativ spät, etwa zehn Minuten vor Abspann: Die Sequenz, in der unsere Titelheldin von einer buddhistischen Nonne mit Glückskeks-Kalendersprüchen konfrontiert wird, bildete den letzten Tropfen, der noch fehlte, um mein inneres Fass zum Überlaufen zu bringen. Zuvor malträtierte mich LA FINE DELL’INNOCENZA mit einer absolut abscheulichen Vergewaltigungsszene, bei der das (weibliche) Opfer nur lange genug bearbeitet werden muss, um Lust zu empfinden; mit einer Holzhammermetaphorik, die Annie Belle zu Beginn, obwohl längst im fortgeschrittenen Teenager-Alter, ständig im Spiel mit irgendwelchen Püppchen zeigt, von denen sie dann, je weiter sie zur Frau heranreift, zunehmend die Finger lässt; mit einem dahingehauchten Titelsong aus der Feder, unter anderem, Fabio Frizzis, der derart permanent und penetrant in unterschiedlichen Versionen dudelt, dass meine Ohren Blut weinten; mit humorvoll gemeinten Entgleisungen wie einer sich in rassistischen Fernost-Klischees suhlenden Spielkasinosequenz, bei der – welch Spaß! – Annie Belle, nachdem sie beim Glücksspiel verloren hat, dem Croupier und seinem überdimensionalen Glied zur Verfügung stehen soll; mit einem Sugar Daddy, der sich im Laufe des Films zur einer Figur mausert, mit der ich offenbar Mitleid und Sympathie empfinden soll; mit einer derart uninspirierten Inszenierung, dass man kaum glauben mag, Massimo Dallamano, immerhin der Schöpfer einiger interessanter Gialli und Polizeithriller, soll auf dem Regiestuhl gesessen haben. Im Grunde vereint LA FINE DELL’INNOCENZA wie im Brennglas all die Dinge, die mich an einem Film vergraulen, und es fällt mir schwer, irgendein lobendes Wort über dieses Machwerk zu verlieren, dessen Postkartenästhetik mich genauso abtörnt wie seine gedankenlose Sexualisierung (zumindest intradiegetischer) Minderjähriger, sein neo-kolonialistischer Blick auf die asiatische Welt, seine ganze Attitüde, wir hätten es mit einem profunden Liebesdrama zu tun, wo größtenteils doch nur eklige Altmännerphantasien abgefackelt werden. Puh, selbst die Blödeleien von LA COMPAGNA DI BANCO beim Forentreffen 2021 in Freiburg erscheinen mir im Rückblick golden im direkten Vergleich. Zu diesem schrieb ich damals: „Mit diesem Streifen wurde ich während eines Deliria-Forentreffens zum ersten Mal in unmittelbare Nähe zu meiner eigenen Belastbarkeitsgrenze gebracht, und überhaupt ist mir kein Film bekannt, den ich in letzter Zeit gesichtet hatte, und der mir derart wie ein hartes Brot erschienen ist, dass mir sämtliche Zähne abzubrechen drohten.“ LA FINE DELL’INNOCENZA beließ es nunmehr nicht bei der Drohung, sondern hat mir die gesamte Kauleiste mit gezielten Tritten aus dem Mund befördert – und mich dazu gebracht, zahnlos vor Ende der Vorstellung durch das verregnete Lübeck ins Hotel zu eilen, um im süßen Schlaf Vergessen zu suchen.
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jogiwan
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Re: Annie Belle - Zur Liebe geboren - Massimo Dallamano (1976)

Beitrag von jogiwan »

Leider wirklich kein sonderlich guter Film, in dem doch so einiges zusammenkommt. Von einem seltsamen Sittenbild, hin zu fragwürdiger Sexualmoral, bis hin zu rassistischen Klischees, die man heutzutage auch gar nicht mehr so bringen kann. Manchmal kann man ja nur verwundert den Kopf schütteln, wie unbedarft mit diesen Themen in früheren Jahrzehnten umgegangen wurde, ohne sich dabei offensichtlich große Gedanken zu machen. Männer sind reich, gönnerhaft und nehmen sich dafür was sie wollen – die Frauen sind der hübsche und allzeit bereite Aufputz, der nach Belieben weitegegeben wird. Kein Wunder, dass manche Dinge sind wie sie sind, wenn ein derartiges Rollenbild fern sexueller Selbstbestimmung in so vielen Filmen manifestiert wird. Im Grunde unterscheidet sich „Annie Belle“ ja auch nicht viel von den sonstigen italienischen Sexploitation-Filmen mit exotischer Kulisse, episodenhaften Mondo-Charakter, hübschen Frauen, weniger hübschen Männern und angedeuteten Gepoppe, dass hier heruntergespult wird. Nur wirkt es in „Annie Belle“ immer noch einen Ticken unsympathischer, unreflektierter und uninteressanter als in vergleichbaren Werken.
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buxtebrawler
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Re: Annie Belle - Zur Liebe geboren - Massimo Dallamano (1976)

Beitrag von buxtebrawler »

jogiwan hat geschrieben: Fr 27. Okt 2023, 08:07 Leider wirklich kein sonderlich guter Film, in dem doch so einiges zusammenkommt. Von einem seltsamen Sittenbild, hin zu fragwürdiger Sexualmoral, bis hin zu rassistischen Klischees, die man heutzutage auch gar nicht mehr so bringen kann. Manchmal kann man ja nur verwundert den Kopf schütteln, wie unbedarft mit diesen Themen in früheren Jahrzehnten umgegangen wurde, ohne sich dabei offensichtlich große Gedanken zu machen. Männer sind reich, gönnerhaft und nehmen sich dafür was sie wollen – die Frauen sind der hübsche und allzeit bereite Aufputz, der nach Belieben weitegegeben wird. Kein Wunder, dass manche Dinge sind wie sie sind, wenn ein derartiges Rollenbild fern sexueller Selbstbestimmung in so vielen Filmen manifestiert wird. Im Grunde unterscheidet sich „Annie Belle“ ja auch nicht viel von den sonstigen italienischen Sexploitation-Filmen mit exotischer Kulisse, episodenhaften Mondo-Charakter, hübschen Frauen, weniger hübschen Männern und angedeuteten Gepoppe, dass hier heruntergespult wird. Nur wirkt es in „Annie Belle“ immer noch einen Ticken unsympathischer, unreflektierter und uninteressanter als in vergleichbaren Werken.
Welche Fassung hast du dir angesehen? Die deutsche DVD? Wenn ja, kannst du etwas zu deren Qualität sagen?
Ich will mir den Film unbedingt noch einmal ansehen, bevor ich etwas dazu schreibe.
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Re: Annie Belle - Zur Liebe geboren - Massimo Dallamano (1976)

Beitrag von jogiwan »

buxtebrawler hat geschrieben: Fr 27. Okt 2023, 08:47
Welche Fassung hast du dir angesehen? Die deutsche DVD? Wenn ja, kannst du etwas zu deren Qualität sagen?
Ich will mir den Film unbedingt noch einmal ansehen, bevor ich etwas dazu schreibe.
Die deutsche DVD und die ist maximal okay, aber nicht mehr. Bildqualität mäßig, viele Tonsprünge und die ebenfalls mitgelieferte, italienische Fassung hat keine Untertitel. So fehlen in der deutschen Fassung auch fast alle Dialoge mit Ines Pellegrini, die die Mönchin spielt. Empfehlen würde ich die DVD nicht.
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Re: Annie Belle - Zur Liebe geboren - Massimo Dallamano (1976)

Beitrag von buxtebrawler »

jogiwan hat geschrieben: Fr 27. Okt 2023, 08:54 Die deutsche DVD und die ist maximal okay, aber nicht mehr. Bildqualität mäßig, viele Tonsprünge und die ebenfalls mitgelieferte, italienische Fassung hat keine Untertitel. So fehlen in der deutschen Fassung auch fast alle Dialoge mit Ines Pellegrini, die die Mönchin spielt. Empfehlen würde ich die DVD nicht.
Ok, danke! Entspricht leider dem, was ich befürchtet habe. :-|
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Annie Belle - Zur Liebe geboren - Massimo Dallamano (1976)

Beitrag von Dick Cockboner »

Das Alles klingt nach einem kontroversen, allerdings auch höchst verzichtbarem Werk italienischer Filmkunst, äh Dingsda.
Ich gehe mal "All-In" und setze auf's Wichtelpaket. :wink:
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Re: Annie Belle - Zur Liebe geboren - Massimo Dallamano (1976)

Beitrag von Dick Cockboner »

Dank Forum-Support brauche ich nicht auf das Wichtel Paket hoffen. Bussi nach Graz!
Zuerst einmal muss man konstatieren, das dieser Film Dallamano's übliches Niveau ein klein wenig unterschreitet.
Ansonsten ist es eben ein 70er Jahre Sexfilm mit einem heutzutage nicht mehr kolportierbarem Inhalt. Früher war alles besser! :D ...Nee!
Fazit: Annie Belle is a Goddess, der Film ist (zumindest wenn man nicht gerade in einem Kino sitz) vergessenswert!
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Re: Annie Belle - Zur Liebe geboren - Massimo Dallamano (1976)

Beitrag von buxtebrawler »

Um mich noch vor Jahresende auch endlich mal ausführlicher zum Skandalfilm des diesjährigen Forentreffens zu äußern:



Nudisten und Buddhisten

„Was machen Sie so, Michael?“ – „Ach, so dies und das – aber das mach' ich international!“

Einer der leider letzten Filme des italienischen Regisseurs Massimo Dallamano („Venus im Pelz“, „Der Tod trägt schwarzes Leder“) ist das italienisch-britisch koproduzierte Coming-of-Age-Erotikdrama „Annie Belle – Zur Liebe geboren“ aus dem Jahre 1976, in dessen Mittelpunkt – der Titel lässt es erahnen – die Erotik-Aktrice Annie Belle steht und bei dem es sich um einen ihrer wenigen Filme handelt, dem auch ein deutscher Kinostart vergönnt war.

„Glaubst du etwa, dass ein richtiger Vater das für dich tun würde, was ich für dich tue?!“

Die junge, hübsche Annie (Annie Belle, „Laura“) ist als Mädchen von zu Hause weggelaufen und beim ungleich älteren, vermögenden Geschäftsmann Michael (Charles Fawcett, „Der Vampir von Notre Dame“) gelandet, der ihr ein Obdach bietet und sie umsorgt, sie aber auch missbraucht, seit sie 13 ist und sich als ihr Vater ausgibt. Als er sie auf eine Geschäftsreise nach Hongkong mitnimmt, lernen sie im Flieger Linda (Felicity Devonshire, „Rosemaries Liebesreport in 3 Dimensionen“) kennen, die Teil des internationalen Jetsets ist, der es sich in Hongkong bei Sex und dekadenten Partys gutgehen lässt. Vor Ort wird Annie bewusst, dass sie nicht wie bisher mit Michael weitermachen kann und möchte. Sie emanzipiert sich von ihm und kommt, als er wegen Devisenschmuggels verhaftet wird, bei Linda und ihrem Mann Angelo (Ciro Ippolito, „Vieni, vieni amore mio“) unter. Annie verliebt sich in den Antiquitätenhändler und Galeristen Philip (Al Cliver, „Black Emmanuelle, White Emmanuelle“), wird vergewaltigt und benutzt, sogar verkauft und verspielt, erlebt aber auch ihr eigentliches sexuelles Erwachen in der britischen Kronkolonie, das sie zu einer Sinnsuche und damit zu sich selbst führt…

„Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich richtig wohl. Ich konnte machen, was ich wollte. Ich war frei.“

Um einen möglichst detaillierten Eindruck dieses Films zu vermitteln, werde ich seine Handlung im Rahmen dieser Besprechung inklusive ihres Ausgangs rekapitulieren. Auch, wenn es sich um keinen klassischen Spannungsfilm handelt: Wer sich von der Handlung überraschen lassen möchte, sollte diese Rezension besser nicht bereits im Vorfeld lesen.

Kurios mutet es zunächst einmal an, dass Annie Belles Figur heißt wie sie, man also fälschlicherweise daraus schließen könnte, sie spiele sich selbst. Der Auftakt ist komödiantischer Natur: Ihr vermeintlicher Vater Michael holt sie aus einem Klosterinternat ab. Zu diesem Zeitpunkt hat sie noch langes, brünettes Haar. Während der gemeinsamen Autofahrt zieht sie sich auf der Rückbank Strümpfe an und obenherum um, was ein Rennradfahrer auf der Nebenspur verzückt beobachtet und umso kräftiger in die Pedale tritt. Stets dabei: Annies Stoffpuppe. Auf diese leider recht plumpe Weise versucht einem der Film zu vermitteln, dass Annie bereits über ausreichend weibliche Reize verfügt, um auf Andere anziehend zu wirken, sie sich dessen aber nicht bewusst ist und noch lieber mit Puppen als mit Männern oder Frauen spielt.

„Ihr Männer seid alle Schweine!“

In der Skifreizeit, die sie zusammen mit Michael aufsucht, lässt sie sich ihre charakteristische, fesche blonde Kurzhaarfrisur schneiden, die auch in anderen Filmen Belles Markenzeichen ist. Erst jetzt fallen erste Andeutungen, dass Michael gar nicht ihr Vater ist: Er nimmt sie nur unter der Bedingung nach Hongkong mit, dass sie ihn Daddy nennt. Am dortigen Flughafen werden sie von Lindas Mann Angelo erwartet, beide entwickeln sogleich ein starkes Interesse an Annie. Michael versucht noch, Annie von ihnen zu isolieren, was ein erfolgloses Unterfangen bleibt. Auf dem Hotelzimmer wird endgültig klar, dass sie nicht Vater und Tochter sind und Michael sie seit jeher missbraucht. Das will sie nun nicht mehr und beendet zu seiner Verzweiflung die Beziehung, die sie zueinander haben. Dies mündet jedoch in einer angedeuteten sexuellen Handlung, während er sie zu bleiben anfleht, was einerseits Sexualität und Leid miteinander vermengt (wie es sich als eines der Motive durch den Film ziehen wird), andererseits aber auch einen unangenehm schmierigen Schlusspunkt hinter diese Sequenz setzt.

„Willst du dir nicht lieber was anziehen?“

Da es im weiteren Verlaufe immer wieder heißen wird, sie sei noch Jungfrau, und sie sich auch selbst als eine empfindet, wäre die einfachste mögliche Erklärung, dass sich Michaels Missbrauch auf Oralverkehr beschränkte, aber die psychologisch interessantere mithin, dass sie Sex mit Michael nie als solchen empfunden hat und ihn psychisch aus Selbstschutz gegen freiwillig eingegangene sexuelle Erfahrungen abgrenzt. Ganz aufgeklärt wird dies nicht. Als sie in geselliger Runde mit Linda und Angelo behauptet, noch Jungfrau zu sein, werden diese jedenfalls noch hellhöriger, als sie es ohnehin schon sind. Gemeinsam besuchen sie eine Kunstausstellung Philips, der Phallusskulpturen ausstellt. Auch auf dieser Ausstellung sind keine Einheimischen zu sehen, sondern ausschließlich westliche Geschäftsleute und Tourist(inn)en. Annie kommt sich mit Philip näher, während die Frauen darum wetten, welcher ihrer Kerle sie wohl entjungfern werde. Nicht nur die eigene Partnerschaft, sondern auch die sexuelle Initiation eines Mädchens gerät zum Zeitvertreib gelangweilter Mitglieder der Oberschicht.

Nach Michaels Verhaftung, während der Fahrt zu Linda und Angelo, erspäht Annie erstmals eine Gruppe glatzköpfiger Buddhistinnen und Buddhisten – und damit zum ersten Mal so etwas wie einheimische Kultur. Linda zeigt ihr anschließend einen Hongkonger Markt, „das echte Hongkong“, wie sie betont. Der Film verweist damit noch einmal eindrücklich auf die Diskrepanz zwischen Touri- und ostasiatisch geprägtem Hongkong. Ein Stück weit scheint Dallamano nun aber in narrative Schwierigkeiten zu geraten, denn urplötzlich lässt er Annie auch als Off-Kommentatorin fungieren. Zurück im herrschaftlichen Anwesen, vögelt Linda mit ihrem Reitlehrer Harry (Tim Street), der zugleich Anwalt sei, im Pferdestall, während Annie in einer Parallelmontage genüsslich ein Eis schleckt. Aus dem einen Eis werden viele, was humoristisch zeigen soll, wie ausdauernd es die beiden miteinander trieben. Auf einer Feier der High Society trägt Linda ein durchsichtiges Oberteil und nichts darunter. Hier in Hongkong lässt man sich gehen, läuft bei jeder sich bietenden Gelegenheit nackt herum und ist dauergeil. Auf dieser Feier wird Annie vergewaltigt und weiß zunächst nicht, von wem. Sie wehrt sich erst, lässt es dann aber über sich ergehen, irgendwann scheint es ihr sogar zu gefallen – eine überaus problematische Szene, wenngleich sie nicht zu 100 Prozent eindeutig ist. Sollte sie tatsächlich aussagen wollen, dass Annie hier „zu ihrem Glück gezwungen“ wurde, ist sie eine üble Relativierung von sexueller Gewalt, wenngleich für die damalige Zeit leider nicht singulär, sondern ein beliebtes Narrativ.

Linda ist schockiert und kümmert sich um Annie, die anderen machen sich über sie lustig. Als Angelo sich für eine Woche nach Tokio verabschiedet, erkennt Annie ihn anhand seines Fingerrings als ihren Vergewaltiger. Lindas und Annies Nacktbaden im Pool sorgt für ein wenig Erotik, bevor Annie es auf Philips Ausstellung mit ihm im „Bett der Seufzer“ treibt. Komödiantischer Kniff der Szene: Die Ausstellung ist besucht. Linda jedoch reagiert darauf extrem eifersüchtig, denn sie glaubt, sich in Annie verliebt zu haben, scheint sie aber vielmehr wie ein Spielzeug besitzen zu wollen. Der aus Tokio zurückgekehrte Angelo redet Linda gut zu, steigt mit ihr ins Bett und trifft sich anschließend mit Philips Frau Susan (Patrizia Banti), um herauszufinden, wo Philip und Annie stecken. Pikant daran ist, dass er anscheinend schon länger eine Affäre zu Susan unterhält und sie, während er Sex mit ihr hat, erpresst, damit sie mit dem Aufenthaltsort der beiden herausrückt. Diese besuchen gerade einen buddhistischen Tempel und vögeln dort. Sämtliche Illusionen, dass Annie falschen Freunden entkommen ist und in Philip jemanden gefunden hat, dem sie vertrauen kann, sind dahin, als Angelo sie dort ausfindig macht und Annie von Philip für 60.000 Dollar freikauft. Annie ist daraufhin mit den Nerven am Ende und kommt zurück in den Schoß Angelos und Lindas. In einer unfassbar kitschigen Szene laufen Linda und Annie, nur in weiße Gewänder gehüllt, am Strand im Sonnenuntergang in Zeitlupe auf sich zu und tanzen Ringelreihen – Ihr Ernst, Signore Dallamano?

Eine erotisch inszenierte Lesbenszene mit Gefüßel im Pool wird dagegen leider recht schnell abgeblendet. George (Ted Thomas, „Schizophren“) und Harry beobachten Linda und Annie bei einer Ausfahrt mit dem Boot, Freizügigkeit und Voyeurismus zählen hier zum guten Ton. Die tierliebe Annie schleppt ein Hündchen an, doch Angelo ist dagegen und lässt es heimlich verschwinden. Annie vögelt nun mit Angelo und Linda, doch beim Frühstück am nächsten Morgen werden die Gedanken Lindas und Annies aus dem Off ausformuliert: Linda entwickelt dann doch eine leichte Eifersucht auf Annie, Annie wiederum scheint aus Rache beizeiten abhauen zu wollen. Dass sie sich den beiden sexuell hingibt, scheint mit Sympathie also nicht das Geringste zu tun haben. Und erneut sieht sie die eine glatzköpfige Buddhistin (Ines Pellegrini, „Erotische Geschichten aus 1001 Nacht“) vorbeiziehen.

Später besucht sie Michael im Gefängnis. Er soll abgeschoben werden. Sie eröffnet ihm, nicht mehr mit ihm mitgehen zu wollen und keine Jungfrau mehr zu sein, was er letztlich akzeptiert. Eine Überfallszene auf Annie mit Rettung durch einen Martial-Arts-Kämpfer entpuppt sich als Filmdreh, auf dem sie sich in Chen (Yao Lin Chen, „Der Mann mit dem goldenen Colt“), einen der einheimischen Schauspieler, verguckt und mit ihm durchbrennt. Er vögelt sie auf seinem Motorrad und nimmt sie zum Essen zu seiner Familie mit. Dallamano wollte nun offenbar auf Teufel komm raus ein wenig ausgiebiger das „echte“ Hongkong zeigen: Wie in Mondofilmen erzeugt die Kamera distanz- und respektlose Großaufnahmen der Asiat(inn)en beim Essen mit Stäbchen. Annie und ihr Freund besuchen eine einheimische Mischung aus Kasino, Striplokal und Bordell, wo sie ohne es zu ahnen ihren Körper verwettet, verliert und daher mit einem schmierigen, breit grinsenden Einheimischen Sex haben muss. Angesichts dessen erigierten Glieds in der Unterhose flieht sie nackt auf dem Rücksitz Chens Motorrads (hatte da jemand „Ich – Ein Groupie“ gesehen?). Die Polizei braust hinterher, bis sie Chen und Annie einholt und sich im Brunnen dabei selbst nassmacht. Was vermutlich als komödiantische Sequenz zur Auflockerung intendiert war, gerät leider zu den Einheimischen gegenüber despektierlichem, befremdlichem Klamauk.

Am nächsten Tag fährt Annie mit den Buddhist(inn)en beim Fischen mit und verbringt darüber hinaus einige Zeit mit Buddhistin Sarah, die ihr zuvor immer wieder ins Auge gefallen war. Sarah erteilt Annie weise Ratschläge und zieht sich ebenfalls aus – wie quasi alle Frauen U40 in diesem Film. Daraufhin nimmt sich Annie Geld von Angelo und Linda als Bezahlung, stellt damit infrage, dass der Sex mit ihnen wirklich ihr ureigener Wunsch war und erkennt, sich vielmehr prostituiert zu haben. Am Flughafen treffen Annie, Angelo, Linda und Michael noch einmal aufeinander, doch dieser „Showdown“ verpufft, indem Michael sie verabschiedet und freigibt, während Angelo und Linda sie zwar nur zähneknirschend, aber nun einmal ebenfalls ziehen lassen. Auf große Dramen verzichtete Dallamano am Ende.

Was eigentlich mit Annies Eltern war, erachtete man anscheinend als derart uninteressant, dass es nur kurz angerissen wurde: krank und süchtig seien sie gewesen. Dass eine sich im Erwachsenwerden begriffene junge Frau selbst dann ihrem Elternhaus derart gleichgültig gegenübersteht, wenn sie realisiert hat, von ihrem Sugar Daddy jahrelang missbraucht worden zu sein, ist eine diesem Film ebenso exklusive Eigenart wie der generelle Umgang Annies mit all den Schattenseiten des Lebens, die scheinbar ohne allzu große Mühen als Erfahrungen abgehakt werden, um sich ins nächste Abenteuer zu stürzen. Vielleicht ist es das, was Dallamano und Co-Autor Marcello Coscia für die Unbekümmertheit der Jugend hielten. Eine Vergewaltigung wird einen doch nicht gleich aus der Bahn werfen! Unablässig dudelt das leider immer gleiche Hauptthema des Films, komponiert von Fabio Frizzi & Co., immerhin in unterschiedlichen Instrumentierungen. Dass Dallamano einen leichtfüßigen Film drehen wollte, ist offensichtlich, dafür hat er sich aber zu schwere Themen ausgesucht. Dass er die menschliche Sexualität nicht unumwunden positiv darstellt, sondern seine Protagonistin zu sich selbst finden lässt, indem sie ihr zumindest zeitweilig entsagt und sie aus ihrem übersexualisiertem Umfeld entfliehen lässt, bei den Sexszenen (mit Ausnahme der Vergewaltigung) aber dennoch um eine anregend erotische Darstellung bemüht ist und auch viele Nacktszenen eher selbstzweckhaft sind, macht aus „Annie Belle – Zur Liebe geboren“ einen Sexploitation-Film mit allen Widersprüchlichkeiten, die mit diesem Genre einhergehen.

Natürlich ist Annie Belle eine Augenweide und natürlich trägt all die nackte Haut für ein dafür empfängliches Publikum entscheidend zum Unterhaltungsfaktor dieses Films bei. Unterm Strich scheint sich Dallamano mit seiner so eigenwilligen wie unausgegorenen Mischung aus Missbrauchs- und Coming-of-age/Selbstfindungs-/Emanzipationsdrama, Exotik, Erotik, Komödie und Kritik an einem trügerischen Freiheitsgefühl sowie westlicher Dekadenz kolonialistischen Ursprungs inmitten Südostasiens aber übernommen und daran verhoben zu haben; zu plump und kitschig ist er oft, zu inkonsequent in seinen dramatischen Ausprägungen, zu zurückhaltend in seinen kathartischen Momenten und zu behäbig in seiner Dramaturgie. Dass er verglichen damit, was speziell in Deutschland in den 1970ern im Erotik- und Sexploitation-Bereich so verbrochen wurde, dennoch in einer anderen Liga spielt, möchte ich aber betonen, und wer mit dem von (der zum Drehzeitpunkt 19-jährigen) Annie Belle verkörperten Frauentyp etwas anfangen und beim ‘70er-Erotikkonsum einige Augen zudrücken kann, kann mit diesem Film vielleicht trotz allem eine gute Zeit haben. Immerhin greift er auf, was aus der sexuellen Revolution und der zunächst von den Hippies adaptierten „freien Liebe“ eben auch geworden war: Ein von Missbrauch und Machtdemonstrationen durchzogenes, fragwürdiges Vergnügen für das Patriarchat und Menschen in privilegierten Positionen.

Trivium: Es heißt, Al Cliver sei während der Dreharbeiten mit Annie Belle auch real zusammengekommen, wenn auch anscheinend nur für kurze Zeit.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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