Re: Gangs of New York - Martin Scorsese (2002)
Verfasst: Mi 26. Jun 2024, 12:07
„Wie heißt du?“ – „Amsterdam, Sir!“ – „Amsterdam? Ich bin New York!“
Nach „Bringing Out the Dead – Nächte der Erinnerung“ – einem seiner besten Filme überhaupt und ein trefflicher Kommentar auf die auslaufenden depressiven 1990er-Jahre – besann sich der US-amerikanische, italienischstämmige Martin Scorsese Anfang des neuen Jahrtausends zum einen wieder auf sein Steckenpferd, vom Leben europäischer Einwanderer und ihrem Mikrokosmos innerhalb New Yorks zu erzählen, zum anderen veränderte er die Vorzeichen: Statt in der italienischen Community ist der 2002 nach überlangen, ausufernden Dreharbeiten veröffentlichte „Gangs of New York“ in der irischen Gemeinschaft angesiedelt, statt in der Gegenwart spielt er im 19. Jahrhundert und statt einer kleineren, persönlichen Geschichte bettet er einen ausgedehnten Racheplan in ein dramatisches Historien-Epos von rund zweieinhalb Stunden Nettolaufzeit ein, das in US-amerikanisch-italienisch-britisch-niederländisch-deutscher Koproduktion realisiert wurde.
„Ich schätze Männer, die für ihre Beute durchs Feuer gehen…“
In den 1840er-Jahren bekämpfen sich im New Yorker Viertel „Five Points“ verschiedene Gruppen, darunter auch irische Einwanderer, bis aufs Blut. Es gilt das Recht des Stärkeren und Skrupelloseren und es geht um Einflussnahme und Macht. Als Bill „The Butcher“ Cutting (Daniel Day-Lewis, „Mein wunderbarer Waschsalon“) dabei den Iren Vallon (Liam Neeson, „Darkman“) umbringt, sinnt Vallons Sohn Amsterdam (Leonardo DiCaprio, „The Beach“) auf Rache. Nachdem er 16 Jahre lang in einer Erziehungsanstalt untergebracht war, kehrt er 1862 ins Viertel zurück, das sich mittlerweile fest in den Händen Bills und dessen Gangsterbande befindet. Er dient sich ihnen an, um nah genug an Bill heranzukommen. Dabei lernt er auch die Taschendiebin Jenny Everdeane (Cameron Diaz, „Being John Malkovich“) kennen, von der er fasziniert ist – und sie scheint es gleichermaßen von ihm zu sein…
„Wir müssen den Schein der Rechtmäßigkeit wahren!“
Mit den Filmen „Catch Me If You Can” und „Gangs of New York“ wandelte sich DiCaprio zum ernstzunehmenden Darsteller auch mal ruppigerer Erwachsenenrollen, und der Begriff Ruppigkeit wäre für diesen Film stark untertrieben: Er beginnt direkt mit brutalem, blutigem Gemetzel, in dessen Zuge Amsterdams Vater getötet wird. Scorsese inszenierte diese Szenen so, dass ihnen nichts Ehren- oder Heldenhaftes innewohnt, und lässt sie von Amsterdam rekapitulieren, der als Voice-over-Erzählinstanz im Präteritum durch den Film führt. Auf den Straßen herrscht der pure Sozialdarwinismus, der Alltag ist bestimmt von Anomie und Korruption. Schier alle Grüppchen sind miteinander verfeindet, sogar Bullen und Feuerwehren.
„Unsere Welt steht am Abgrund!“
Der Hauptteil der Handlung spielt dann in den 1860er-Jahren, kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs. Flashbacks Amsterdams rufen jedoch immer wieder die Exposition in Erinnerung. Es gibt viel Irish Folk, viel Schweinefleisch – und weiterhin viel Brutalität. Bauernoper werden öffentlich hingerichtet – vor den Augen ihrer Kinder. Da nicht alles haarklein ausformuliert wird, stellt sich eine Weile sogar die Frage, ob Amsterdam überhaupt tatsächlich einen Racheplan verfolgt; immerhin tötet er sogar einen Attentäter, der es auf Bill abgesehen hat. Wie sich sämtliche Iren mehr oder weniger an Bill anbiedern, wirkt erbärmlich und wirft kein allzu gutes Licht auf sie. Das gegenseitige Interesse Amsterdams und Jennys aneinander bringt eine aufregende Messerwerf-Sequenz mit sich, und wann immer die Handlung auf der Stelle zu treten droht, verstehen es Scorsese bzw. der Schnitt, wieder Spannung aufzubauen.
„Dieser Krieg ist 1000 Jahre und älter!“
Das Drehbuch Jay Cocks‘, Kenneth Lonergans und Steven Zaillians nutzt Amsterdams Racheplan als erzählerische Klammer, um ein desillusionierendes Porträt des damaligen Zustands der USA bzw. New Yorks zu liefern: Korruption bis in hohe politische Kreise hinein, der Einzug Armer und Ärmster für den Bürgerkrieg, ein rassistisch geführter Wahlkampf der einwandererfeindlichen „Natives“ (die gar keine sind) gegen die Irinnen und Iren, Politik in Form von Mord und Totschlag, skrupellose Gang-Oberhaupte, die diese bestimmen. Das macht aus „Gangs of New York“ so etwas wie Scorseses „Es war einmal in Amerika“, wenn auch nicht ganz so überragend – aber die Inspiration ist unverkennbar. Unter Scorsese geht diese Verquickung eines persönlichen, lebenssinnstiftenden Antriebs mit historischen Ereignissen jedoch anders als unter Leone etwas zu Ungunsten der Charakterzeichnungen. Immerhin ließ er Bill, gespielt von einem hier zwar wie Frank Zappa aussehenden, aber einen formidablen Schurken abgebenden Day-Lewis, so etwas wie Ambivalenz angedeihen, wenn auch auf ein wenig unentschlossene Weise.
„Man kann immer eine Hälfte der Armen kaufen, um die andere Hälfte umzubringen.“
Im großen Finale, das zwar reichlich unübersichtlich ausfällt, diese Bezeichnung aber mehr als redlich verdient, herrschen widrige Umstände, die kongenial die verschiedenen Erzählebenen miteinander verbinden. Der Epilog beantwortet sodann indirekt die Frage nach der Motivation dieses Films: Gegen das Vergessen. Und das dürfte tatsächlich schwerfallen nach dem Genuss dieses in opulenten Bildern und mit einem hervorragendem Ensemble (Scorsese persönlich schaut in einem Cameo als wohlhabender Hausbesitzer vorbei) erzählten, gerade mit seiner Rachegeschichte auch an Italo-Western erinnernden Abgesangs auf US-amerikanische Gründungs- und Konsolidierungsmythen, der, ein wenig Abstraktionsvermögen vorausgesetzt, auch hilft, die heutigen USA zu verstehen.
Nach „Bringing Out the Dead – Nächte der Erinnerung“ – einem seiner besten Filme überhaupt und ein trefflicher Kommentar auf die auslaufenden depressiven 1990er-Jahre – besann sich der US-amerikanische, italienischstämmige Martin Scorsese Anfang des neuen Jahrtausends zum einen wieder auf sein Steckenpferd, vom Leben europäischer Einwanderer und ihrem Mikrokosmos innerhalb New Yorks zu erzählen, zum anderen veränderte er die Vorzeichen: Statt in der italienischen Community ist der 2002 nach überlangen, ausufernden Dreharbeiten veröffentlichte „Gangs of New York“ in der irischen Gemeinschaft angesiedelt, statt in der Gegenwart spielt er im 19. Jahrhundert und statt einer kleineren, persönlichen Geschichte bettet er einen ausgedehnten Racheplan in ein dramatisches Historien-Epos von rund zweieinhalb Stunden Nettolaufzeit ein, das in US-amerikanisch-italienisch-britisch-niederländisch-deutscher Koproduktion realisiert wurde.
„Ich schätze Männer, die für ihre Beute durchs Feuer gehen…“
In den 1840er-Jahren bekämpfen sich im New Yorker Viertel „Five Points“ verschiedene Gruppen, darunter auch irische Einwanderer, bis aufs Blut. Es gilt das Recht des Stärkeren und Skrupelloseren und es geht um Einflussnahme und Macht. Als Bill „The Butcher“ Cutting (Daniel Day-Lewis, „Mein wunderbarer Waschsalon“) dabei den Iren Vallon (Liam Neeson, „Darkman“) umbringt, sinnt Vallons Sohn Amsterdam (Leonardo DiCaprio, „The Beach“) auf Rache. Nachdem er 16 Jahre lang in einer Erziehungsanstalt untergebracht war, kehrt er 1862 ins Viertel zurück, das sich mittlerweile fest in den Händen Bills und dessen Gangsterbande befindet. Er dient sich ihnen an, um nah genug an Bill heranzukommen. Dabei lernt er auch die Taschendiebin Jenny Everdeane (Cameron Diaz, „Being John Malkovich“) kennen, von der er fasziniert ist – und sie scheint es gleichermaßen von ihm zu sein…
„Wir müssen den Schein der Rechtmäßigkeit wahren!“
Mit den Filmen „Catch Me If You Can” und „Gangs of New York“ wandelte sich DiCaprio zum ernstzunehmenden Darsteller auch mal ruppigerer Erwachsenenrollen, und der Begriff Ruppigkeit wäre für diesen Film stark untertrieben: Er beginnt direkt mit brutalem, blutigem Gemetzel, in dessen Zuge Amsterdams Vater getötet wird. Scorsese inszenierte diese Szenen so, dass ihnen nichts Ehren- oder Heldenhaftes innewohnt, und lässt sie von Amsterdam rekapitulieren, der als Voice-over-Erzählinstanz im Präteritum durch den Film führt. Auf den Straßen herrscht der pure Sozialdarwinismus, der Alltag ist bestimmt von Anomie und Korruption. Schier alle Grüppchen sind miteinander verfeindet, sogar Bullen und Feuerwehren.
„Unsere Welt steht am Abgrund!“
Der Hauptteil der Handlung spielt dann in den 1860er-Jahren, kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs. Flashbacks Amsterdams rufen jedoch immer wieder die Exposition in Erinnerung. Es gibt viel Irish Folk, viel Schweinefleisch – und weiterhin viel Brutalität. Bauernoper werden öffentlich hingerichtet – vor den Augen ihrer Kinder. Da nicht alles haarklein ausformuliert wird, stellt sich eine Weile sogar die Frage, ob Amsterdam überhaupt tatsächlich einen Racheplan verfolgt; immerhin tötet er sogar einen Attentäter, der es auf Bill abgesehen hat. Wie sich sämtliche Iren mehr oder weniger an Bill anbiedern, wirkt erbärmlich und wirft kein allzu gutes Licht auf sie. Das gegenseitige Interesse Amsterdams und Jennys aneinander bringt eine aufregende Messerwerf-Sequenz mit sich, und wann immer die Handlung auf der Stelle zu treten droht, verstehen es Scorsese bzw. der Schnitt, wieder Spannung aufzubauen.
„Dieser Krieg ist 1000 Jahre und älter!“
Das Drehbuch Jay Cocks‘, Kenneth Lonergans und Steven Zaillians nutzt Amsterdams Racheplan als erzählerische Klammer, um ein desillusionierendes Porträt des damaligen Zustands der USA bzw. New Yorks zu liefern: Korruption bis in hohe politische Kreise hinein, der Einzug Armer und Ärmster für den Bürgerkrieg, ein rassistisch geführter Wahlkampf der einwandererfeindlichen „Natives“ (die gar keine sind) gegen die Irinnen und Iren, Politik in Form von Mord und Totschlag, skrupellose Gang-Oberhaupte, die diese bestimmen. Das macht aus „Gangs of New York“ so etwas wie Scorseses „Es war einmal in Amerika“, wenn auch nicht ganz so überragend – aber die Inspiration ist unverkennbar. Unter Scorsese geht diese Verquickung eines persönlichen, lebenssinnstiftenden Antriebs mit historischen Ereignissen jedoch anders als unter Leone etwas zu Ungunsten der Charakterzeichnungen. Immerhin ließ er Bill, gespielt von einem hier zwar wie Frank Zappa aussehenden, aber einen formidablen Schurken abgebenden Day-Lewis, so etwas wie Ambivalenz angedeihen, wenn auch auf ein wenig unentschlossene Weise.
„Man kann immer eine Hälfte der Armen kaufen, um die andere Hälfte umzubringen.“
Im großen Finale, das zwar reichlich unübersichtlich ausfällt, diese Bezeichnung aber mehr als redlich verdient, herrschen widrige Umstände, die kongenial die verschiedenen Erzählebenen miteinander verbinden. Der Epilog beantwortet sodann indirekt die Frage nach der Motivation dieses Films: Gegen das Vergessen. Und das dürfte tatsächlich schwerfallen nach dem Genuss dieses in opulenten Bildern und mit einem hervorragendem Ensemble (Scorsese persönlich schaut in einem Cameo als wohlhabender Hausbesitzer vorbei) erzählten, gerade mit seiner Rachegeschichte auch an Italo-Western erinnernden Abgesangs auf US-amerikanische Gründungs- und Konsolidierungsmythen, der, ein wenig Abstraktionsvermögen vorausgesetzt, auch hilft, die heutigen USA zu verstehen.