Die grausamen Drei
Fango bollente
Italien 1975
Regie: Vittorio Salerno
Joe Dallesandro, Enrico Maria Salerno, Martine Brochard, Gianfranco de Grassi, Ada Pometti, Salvatore Borghese, Luigi Casellato, Umberto Ceriani, Guido de Carli
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OFDB
Italo-Cinema
Die Ausweitung der Kampfzone. Das Füllen der Leere im Inneren des Selbst. Womit? Mit allem was geht. Bier, Drogen, Weiber. Anderen die Zähne einschlagen und die Rippen brechen - Spaß haben. Die eigene Existenz mit irgendwas füllen, egal wie, bloß dieses vollkommen leere und idiotische Alltagsleben vergessen …
Wenn man voneinander getrennte weiße Mäuse zusammenkommen lässt, dann zerfleischen sich die Mäuse gegenseitig. Dass das mit Menschen genauso gut funktioniert testen Ovidio, Giacomo und Beppe im Turiner Fußballstadion aus. Ergebnis: 40 Verletzte, ein Toter, 3 Schwerverletzte. Danach steht man mit dem geklauten Ferrari im Stau, also was tun? Der nächste Motorradfahrer wird per aufgerissener Tür zum Halten verdammt, und mit dem gekapertem Motorrad kann der Stau umgangen werden.
Im normalen Leben, als Programmierer oder ähnliches, sind die drei Männer Freiwild für ihren autokratischen Chef (Ovidio), der ewige „junge Mann“ für die eigene Mutter (Giacomo) und ein Nervenbündel in einem Haushalt von 50 oder so armen Verwandten aus dem Süden, die keine eigene Bliebe haben oder gerade mal vorbeischauen oder was essen wollen oder einen Schwank aus ihrer Jugend erzählen wollen …
Da staut sich natürlich jede Menge Frust an: Ovidio ist wenigstens noch verheiratet, doch seine Frau sorgt sich mit vollem Körpereinsatz um den Fortgang ihrer Karriere als Ärztin, da bleibt für ein Eheleben nicht wirklich Platz. Zwischen den Schwanz des Oberarztes und der nächsten Nachtschicht passt Ovidio jedenfalls nicht mehr rein.
Was macht man also, wenn einem ein LKW die Vorfahrt nimmt? Richtig, man prügelt sich mit dem Fahrer und sticht ihm schlussendlich einen Schraubenzieher ins Gedärm. Mag ja sein, dass das rüde Methoden sind, aber das ist so befreiend. So unglaublich befreiend! Man lebt! Man spürt, dass man atmet und lebt und fühlt sich wie ein König. Wie ein Krieger nach einer gewonnen Schlacht. Jeder Fußball-Hooligan und jeder Straßenkämpfer kann das heute, mehr als 40 Jahre nach der Entstehung des Films, bestätigen. Das Leid der anderen vergrößert nur den eigenen Triumph. Da muss noch mehr gehen. Die Nutte zickt rum, und der Zuhälter will Terz machen? Na wartet …
In Italien, und beileibe nicht nur dort, waren die 70er-Jahre eine Zeit der Veränderungen und der Frustration, aber auch der Angst und der Gewalt. Die Industrialisierung schritt damals mit 7-Meilen-Stiefeln voran und hinterließ Menschen, die ihrer Tätigkeit entfremdet waren, die den Konsum von Alkohol und Drogen für ein soziales Leben hielten, und welche die Traditionen ihrer Eltern, und damit die Verbindung zu einer sicher ärmeren, dafür aber ganzheitlichen, Welt komplett verloren hatten (1). Gleichzeitig tobte ein verdeckter Bürgerkrieg zwischen den Alpen und den Pelagischen Inseln, bei dem zwischen 1969 und 1983 mehr als 14.000 Anschläge mit 374 Toten und über 1.170 Verletzten verübt wurden (2). Eine permanente Angst um das eigene Leben hielt die Menschen im Griff, genauso wie der Niedergang der Wirtschaftslage, der Anstieg der Armut und die damit verbundene Ausdehnung der Kriminalität. Eine gängige Methode war es, mit dem Motorrad nah an einer Frau vorbeizufahren und ihr die Handtasche aus der Hand zu reißen, der sogenannte Scippo. Was passierte, wenn die Frau nicht rechtzeitig losließ oder der Riemen der Handtasche sich irgendwo verhedderte, kann man sich in EISKALTE TYPEN AUF HEISSEN ÖFEN anschauen. Schön ist das nicht …
In dieser grauen Zeit, den bleiernen Jahren, haben die Menschen genauso einen Sinn im Leben gesucht wie sie es heute tun, und wie sie es immer gemacht haben. Aber durch den äußeren Druck der Gesellschaft und der Politik, der miesen sozialen Verhältnisse und der Kriminalität, war nicht nur die Bereitschaft höher selber gewalttätig zu werden, sondern diese Bereitschaft brach sich auch schneller Bahn. Die Hemmschwelle zu einem nicht-sozialen Verhalten sank zunehmend. Die Menschen standen unter Druck, und dieser Druck musste entweichen. Und so wie der Druck aus einem Ventil entweicht, so wurde auch schneller mal überreagiert. Erklärt uns zumindest FANGO BOLLENTE. Der LKW-Fahrer greift selber sofort zum Schraubenschlüssel wenn ihm jemand blöd kommt, der Taxifahrer ist selbstverständlich bewaffnet und benutzt die Knarre auch, und die Frau des Abgeordneten ist einer Nummer mit drei knackigen jungen Kerlen sichtlich nicht abgeneigt. Hauptsache, der Druck kann raus. Und so unübersichtlich wie die Kabelwülste im Vorspann, genauso unübersichtlich sind auch die Welt und das moderne Leben geworden. Wie einfach ist es doch dagegen, das Arschloch, das einen gerade nervt, kaltzumachen …
Der (menschliche) Schlamm kocht (3). Und der Film FANGO BOLLENTE zeigt was dann passiert. Wir folgen Ovidio, Giacomo und Beppe auf ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Bürgerlichkeit, beim Kampf gegen Normalität und Langeweile. Wir ahnen, dass das langsame Abgleiten in den Wahnsinn, zumindest bei Ovidio, zu erstaunlichen Ergebnissen führen wird, und wir schaudern bei den letzten Sätzen des Films, die deutlich in die Zukunft zeigen. In unsere Zeit. Die grausamen Drei sind Angry Young Men, die aber nicht mehr der Arbeiterklasse angehören und gegen das Establishment aufbegehren. Die drei gehören selber zum Establishment und begehren gegen die Sinnlosigkeit auf, die uns die schöne neue Welt scheinbar aufoktroyiert. Angenehmerweise (für uns hier und heute) wurde dann irgendwann das Privatfernsehen erfunden, der legitime Nachfolger der Gladiatorenkämpfe, und der Selbstzerfleischung wurde Einhalt geboten. Das aber nur nebenbei. Wer wissen will wie die Geschichte im wirklichen Leben weitergeht, der wird über HOOLIGANS und FOOTBALL FACTORY dann recht schnell bei ULTRA und bei A.C.A.B.: ALL COPS ARE BASTARDS, und damit auch weder in Italien landen …
Filmisch ist FANGO BOLLENTE in erster Linie dem Genrekino verhaftet. Das bedeutet es gibt jede Menge blutreiche Action, es gibt einiges an Toten, an nackten Frauen, und an ausgelebter Gewalt gegen alles und jeden. Der Rausch der Drei Grausamen wird ausgiebig und nachdrücklich bebildert, aber nicht ohne zu vergessen, dass es eigentlich Vier Grausame sind. Der Kommissar Santagà, der den dreien auf der Spur ist, kennt deren Probleme genau. Er ist ein alter Hase in Sachen Kriminalität, und weiß wie die jungen Männer ticken. Wie sie im Rausch der Gewalt aufgehen. Hat er doch selber einmal im Einsatz diesem Rausch nachgegeben, und darf seitdem sein Leben als Lackel der Polizeistation fristen. Und doch ist er der einzige, der die Verbindungen zwischen den einzelnen Toten spürt, der ahnt worum es tatsächlich geht. Sein Kollege, dem die Fälle zugeschanzt wurden, macht natürlich politische Beweggründe aus. Ist ja auch so einfach im Europa der späten 70er-Jahre, die ungelösten Probleme der Straße auf die Politik zu schieben. Es wird zwar nicht explizit erwähnt, dafür muss man dann zu Jorge Graus etwas früher entstandenem DAS LEICHENHAUS DER LEBENDEN TOTEN schauen, aber es ist klar, dass nur langhaarige Gammler und drogenabhängige Bombenleger für solche Taten verantwortlich sein können. Dass der biedere Mittelstand unter den gleichen Frustrationen leidet wie der, sich politisch unterdrückt fühlende, Student, diese Erkenntnis war damals unbekannt, und ob dieses Wissen heute weiter verbreitet ist möchte ich bezweifeln. Oder warum war AMERICAN PSYCHO so ein Riesenerfolg?
Denn Ovidio ist der direkte Vorgänger von Patrick Bateman, und Ovidio macht im Prinzip nichts anders als Bateman, nur das er es planloser tut. Somit repräsentiert jener die heutige amerikanisch-kapitalistische Welt mit ihren exzessiven Auswüchsen, während Ovidio im Gegensatz im ganz normalen Leben des europäischen Mittelstandes angesiedelt ist. Die Identifizierung des Zuschauers mit Ovidio fällt darum auch heute nicht schwer, leichter jedenfalls als mit Bateman, der mitunter eher einem Comic entsprungen scheint. Doch es wird an Giacomo liegen, den Wahn in die Welt hinauszutragen, die zufälligen Akte sinnloser Gewalt in eine Ordnung zu bringen, und letzten Endes die Brücke zu schlagen zum Feierabendprügler moderner Ausprägung.
Und der Film? Da schreibt sich der Maulwurf einen Elch, und verliert scheinbar kaum ein Wort über den Film? Der Film ist zutiefst nihilistisch und brachial! Er reiht blutige und brutale Bilder wie eine Perlenkette aneinander, und das betrifft nicht immer nur die physische Gewalt. Auch der ganz alltägliche Umgang der Menschen miteinander, der Chef zum Untergebenen, der Chefarzt zur ambitionierten Ärztin, ein Ehepaar untereinander, all dies sind ebenfalls gewalttätige Akte, welche die Stimmung des Films subtil bekräftigen und ausdrücken. Der Computerkurs, den Kommissar Santagà gezwungen ist zu absolvieren, resümiert die Probleme, von denen der Film spricht, auf bemerkenswerte Weise: Ein Mann redet unverständliches Zeug, eine Menge anderer Männer verstehen kein Wort, wagen es aber nicht dies zu sagen aus Angst vor persönlichen Nachteilen, und am Ende entscheidet der Computer was gut und was schlecht ist. Willkommen in der schönen neuen Welt …
(1) Vgl. Pier Paolo Pasolini: Vom Verschwinden der Glühwürmchen, in: Freibeuterschriften, Berlin 1975
(2) Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschicht ... Kompromiss
(3) Fango Bollente (ital.) = kochender Schlamm
9/10