Abt. Der Haus- und Hof-Dichter Delirias I
Nach achteinhalb Jahren und mehr abseitigen, absonderlichen, abenteuerlichen in dieser Zeit besprochenen Filmen als mir (oder irgendwem anders) wahrscheinlich guttut, tippe ich nun also meine erste Auftragsarbeit für diese heiligen Hallen. Wie es dazu kam? Der liebe Canisius mistet VHS-Kassetten aus, und ihm fällt eine deutsche Fassung von Mario Sicilianos Okkult-Porno ORGASMO ESOTICO in die Hände, den ich kürzlich in einer Euphorie, die mir selbst im Nachhinein fragwürdig vorkommt, ohne mit der Wimper zu zucken mit David Lynchs MULHOLLAND DRIVE verglichen hatte. Die Kassette selbst hat bereits der Schimmel geholt, dafür wird mir die angeblich wunderschöne Hülle angeboten. Gekoppelt ist deren Erhalt allerdings an eine Bedingung: Zugesendet werden mir ebenfalls noch einige Filme aus Canisius‘ persönlichem Giftschrank, die sehnsüchtig darauf warten, einmal von jemandem größere Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen als ihre eigenen Verantwortlichen ihnen zukommen ließen. Gestern ist es draußen so kalt, dass mir die Kieferknochen erstarren, wenn ich nur daran denke, meine Festung zu verlassen. Ich entdecke unter einem Stapel Notizen und Büchern auf meinem Schreibtisch besagte Rohlinge in ihren jungfräulichen Papierverpackungen. Blind wie Justitia greife ich mir den erstbesten heraus. Bei ihm ist nicht nur das Kleidchen, in dem er steckt, die personifizierte Unschuld, sondern auch sein Titel: ABFLUG BERMUDAS. Gehört habe ich von einem solchen Werk noch nie. Schlimmer als ein üblicher Ausflug D’Amatos in die horizontalen Gefilde der Dominikanischen Republik, an die ich spontan sofort denken muss, kann es nicht werden, oder? Regisseur Alan Vydra, von dessen Existenz ich zuvor ebenfalls nichts gewusst habe, bezeichnet seinen 1976 in Bundesdeutschland gedrehten und publizierten Film im Vorspann als „erotischen Thriller“. Vielleicht ist das ein guter Ansatz, um sich diesem Werk zu nähern, das mich die halbe Nacht wachgehalten hat, während ich verzweifelt versuchte, intellektuell irgendwelche Wege zu finden, die mich auf Augenhöhe mit ihm bringen, irgendwelche Schießscharten oder angelehnte Kartoffelkellertüre, durch die ich zu ihm hineinschlüpfen kann, um es in seiner Essenz irgendwie zu fassen bekommen kann.
Schauen wir uns doch zunächst einmal die verkündete Erotik an: ABFLUG BERMUDAS ist eine Milieustudie, und zwar eine, die die Parallelwelten aus Mädchenhandel, Drogenkonsum und Nachtclubs, wie man sie noch aus den bunten Edgar-Wallace-Krimis der späten 60er kennt, aussehen lässt wie die Puppenabteilung im örtlichen Kinderspielzeuggroßmarkt. Unter dem knallharten Regime des „Boss“, der zumeist finsteren Blicks in spärlich beleuchteten Hinterzimmern von mit spärlich bekleideten Damen bevölkerten Etablissements thront, werden wehrlose junge Frauen ins Rotlichtmilieu geködert, abhängig von Stoffen gemacht, die wiederum dazu führen sollen, dass sie die Stoffe, die sie am Leib tragen, loswerden, und sodann verkauft – an lokale Hamburger Freier oder auch mal nach Südamerika, wenn der Preis stimmt. An diesem hauchdünnen Plot hangeln sich Szenen entlang, die größtenteils offenbar nach schierem Würfelprinzip aufeinanderfolgen: Die rechte und linke Hand des Kiezteufels, ein gewisser Fred, führt die Vorstellungsgespräche mit den Anwärterinnen – sprich, er erforscht empirisch ihre Qualitäten als Kopulationspartnerinnen. Ebenfalls mit an Bord sind solche illustren Gestalten wie ein Korse, der keinen Ton mehr rausbringt, weil er, wie es heißt, einmal im falschen Moment zu viel geredet hat, weshalb man ihm kurzerhand die Zunge entfernte, und ein Lüstling namens Heinz, zu deren Zeitvertreib es gehört, Mädchen in Bauruinen zu jagen, zu fesseln, auszupeitschen. Wenn das Drehbuch droht, zu einer gewissen Dramaturgie oder Kohärenz zu finden, unterbricht Vydra seine sowieso schon reichlich disparaten Storyfragmente durch dokumentarische Aufnahmen beispielweise eines Travestie-Kabaretts, bei dem die oder der Gastgeber(in) einige der geschmacklosesten Scherze vom Stapel lässt, die ich seit langem in derartig konzentrierter Form gehört habe. („Was heißt Abtreibung auf Spanisch? – Addios Embryos!“)
Alle diese Ereignisse stehen reichlich isoliert, und kaum in irgendeinem erkennbaren räumlich-zeitlichen Verhältnis zueinander. Es ist nicht so, als würde Vydra mehrere Geschichten parallel erzählen, und immer mal wieder virtuos von der einen zur andern schwenken. Eher erweckt ABFLUG BERMUDAS für mich den Eindruck eines dieser Franco-Vehikel, bei denen der gute Jesús aus gleich mehreren nicht vollendeten Projekten einen Neunzigminüter zusammenkompiliert – obwohl selbst dessen Filme im direkten Vergleich mit ABFLUG BERMUDAS aufgrund ihres surrealen Gestus noch weitaus homogener wirken als Vydras merkwürdige Zapping-Tour durch die Abgründe des norddeutschen Untergrunds der 70er Jahre. Aber möglicherweise steht eine etwaige Story auch deshalb nicht im Vordergrund, um der vollmundig versprochenen Erotik mehr Raum zu bieten? Sex jedenfalls gibt es, und zwar von der Hardcore-Fraktion, dem Sujet angemessen schön schmuddelig in einer Weise dargeboten, als solle ich für die nächsten Wochen von jeder Leistenregung geheilt werden. Prinzipiell ist Sex für Vydra eine weitgehend stumme Angelegenheit; extradiegetische Musik ist hier Fehlanzeige. Mit zahllosen elliptischen Überblendungen, die überhaupt den gesamten Film weniger strukturieren als seine fehlende Struktur technisch-ästhetisch untermauern, und nahezu veristisch zeigt der Regisseur uns beispielweise Fred beim Befummeln argloser Mädchen, oder die Frau des Chefs, Cora, wie sie von diesem innerhalb eines wiederkehrenden Rollenspiels, bei dem sie offenkundig ein kleines Kind verkörpern soll, eine Spermaladung ins Gesicht erhält. Oft stagniert der Bilderfluss im entscheidenden Moment der Ejakulation, und die Tonspur bricht unter ohrenbetäubendem Dröhnen regelrecht zusammen, so, als bedeute jeder dieser männlichen Orgasmen einen halben Weltuntergang. Vydras Sex ist meilenweit entfernt von den hochnotpeinlichen, mit flotten Sprüchen und Zirkusmusik angereicherten Bumsereien Alois Brummers‘ oder einschlägiger Lederhosen-Filme. Ebenso trennt ihn aber auch viel von im Grunde verklemmten pseudo-realistischen Fabrikationen wie den Schulmädchen-Reporten. Der Realität wird Vydra mit seiner emotionslosen, herben Präsentationsweise des Liebesspiels, das in ABFLUG BERMUDAS nie etwas mit Liebe zu tun hat, und schon gar kein Spiel ist, sondern bitterer Ernst, durchaus nahekommen, und gerade in den harten Bildern von sich eher verzweifelt als trunken vor Ekstase aufeinander wälzenden Körpern spüre ich eine der (versteckten) Qualitäten dieses erschütternden Films auf. Wenn die Vaseline immer neben den versifften Sofas zur Hand ist, um allzu trockene Vorder- oder Hintereingänge geschmeidiger zu machen, wenn während der Großaufnahme eines erigierten Penis auf einmal das ferne Summen von Aasfliegen zu hören ist, oder wenn Cora das Ejakulat ihres Bosses wie Tränen über die Wange rinnt, und auch dieses Bild in einer von infernalischen Sounds unterlegten Standaufnahme eingefangen wird, um die hagiographischen Implikationen noch deutlicher zu unterstreichen, dann ist das alles nicht unbedingt etwas, für das ich ABFLUG BERMUDAS ins Herz schließen kann, aber ich nicke anerkennend der spröden Montage, den schnörkellosen Bildern, der angriffslustigen Kamera zu, da sie Wunden dort aufreizt, wo Narben und Kosmetik sie kaschieren sollen.
Kulminationspunkt (im wahrsten Sinne des Wortes) des Films ist (wohl nicht nur) für mich eine Szene, die mich aufgrund ihrer Subversionssucht bis zur Besinnungslosigkeit fast aus dem Sessel hat fallenlassen: An einem weiteren Nebenschauplatz (ich vermeide den Begriff Nebenplot, da das ja die Existenz eines Hauptplots voraussetzen würde) bandeln ein Schnauzbartträger und eine Dame miteinander an, um die der Film sich zuvor nicht geschert hat, und die auch danach keine Erwähnung mehr finden werden. Man landet in der Kiste. „Der ist aber hart!“, staunt sie, als sie ihm das Gemächt auspackt. Dann eröffnet sie ihm: Sie möge es am liebsten von hinten. Erst zögert unser Held, schließlich führt er ihr seinen Penis doch anal ein. Nach seinem Orgasmus möchte die Beglückte nun ebenfalls zum Zuge, und zwar, um ihm zu zeigen, welche Freuden der Analverkehr berge. „Aber nur mit dem kleinen Finger!“, bittet der schlaff und erschöpft auf dem Bauch liegende Schnauzbart. Es stellt sich wenig überraschend heraus, dass die Dame tatsächlich ein Mann mit Brustimplantaten ist, und dass statt eines kleinen Fingers etwas ganz anderen unseren Helden penetrieren soll. Auch in diesem wahnwitzigen Moment lässt Vydra meine Lautsprecherboxen implodieren, und seinen Transsexuellen in Zeitlupe auf den nackt vor ihm liegenden Körper abspritzen. Mit Erotik hat das freilich, wie man wohl schon hört, rein gar nichts zu tun, und falls es wirklich jemanden geben sollte, der sich ABFLUG BERMUDAS jemals zum autoerotischen Lustgewinn angeschaut hat, dann möchte ich dieser Person niemals nachts im Dunkeln an der Kinokasse begegnen. Deshalb: Sollte der Untertitel bloßer Zynismus gewesen sein? Und wo ist eigentlich der versprochene Thriller?
So verzettelt wie dieser Film ist, verknotet wie ein Baumwollknäuel, und völlig ohne Fokus, hätte ich beinahe vergessen, dass es sogar so etwas wie eine Hauptfigur gibt – (was verzeihlich ist, da dieser Sachverhalt dem Gedächtnis des Films selbst mehr als einmal entfällt). Mario Broda lernen wir in einer Prologsequenz als kleinen Waisenbub kennen, der, während alle anderen Kinder von ihren Eltern Besuch bekommen, von den ihn betreuenden Nonnen nur zu hören kriegt, er habe ja gar keine Mutter und keinen Vater. Folglich sucht er nach Geborgenheit, Zärtlichkeit, einer verwandten Seele, und glaubt, diese in Cora, der Frau des Chefs, für den er als Erwachsener ebenfalls arbeitet, gefunden zu haben. („Ich habe gelebt, aber ich wusste nicht, warum. Ich weiß es heute noch nicht. Aber ich stecke wenigstens nicht allein in der Tinte. Darum geht es: Jemanden zu finden, der genauso dran ist wie Du. Sich gegenseitig wärmen im eisigen Frost unserer Praxis.“) Dem Liebesglück steht zweierlei im Wege: Natürlich die verbrecherische Maschinerie, deren Kurbeldreher der Boss ist, der die von ihm eher als Luxusartikel denn als bessere Hälfte behandelte Cora niemals freiwillig freigeben wird, und, was Broda allerdings nicht ahnt, dass er für Cora, die gar nicht daran denkt, ihr ausschweifendes Leben an der Seite eines Zuhältergottes aufzugeben, nur eine kurzweilige Abwechslung darstellt. Seine Pläne, mit ihr gemeinsam in die Bermudas zu flüchten, nimmt sie jedenfalls wesentlich weniger ernst als er selbst. Er sucht einen Wissenschaftler auf, der ihm noch einen Gefallen schuldet, und diesen Rückstand dadurch ausgleicht, dass er ihm eine Bombe bastelt, die Broda daraufhin in einem Flugzeug deponieren möchte, mit dem der Chef ins Steuerparadies abzuheben beabsichtigt.
Wohlgemerkt, bis diese Chose so richtig in Gang kommt, hat der Film schon eine Stunde Laufzeit in unfassbaren Dialogen, unsentimentalem Hardcore-Sex und sich mir immer noch nicht erschließenden Szenen, in denen Personen, die ich nicht zuordnen kann, irgendwelche seltsamen oder schlimmen Dinge tun, ersäuft – und selbst jetzt, wo der angekündigte Thrill greifen könnte, unterdrückt Vydra das Aufkommen von möglichem Nervenkitzel, um seinem unterkühlten, beinahe apathischen Stil treuzubleiben. Dass der Chef in der Luft explodiert, und dass Broda letztlich von der Polizei gefasst wird, und dass Cora ihn herzlos verlässt, das alles präsentiert Vydra uns in derart beiläufiger Nonchalance, dass man es schon wieder bewundern kann. Schauwerte meidend wie der Teufel das Weihwasser, überhaupt eine Antipathie hegend gegen jedwede kinematographische Attraktion, die über schmutzigen Sex schmutziger Individuen an schmutzigen Örtlichkeiten hinausgehen würde, ist ABFLUG BERMUDAS ein Antidot gegen jeden, der die traurige Wirklichkeit im Kino spektakulär überformt wissen will. Es gibt keine Identifikationsfiguren – (Broda, den man über weite Strecken des Films tatsächlich völlig aus den Augen verliert, eignet sich dazu kaum) -, es gibt keine Momente, in denen es wenigstens so wirkt, als würde das Schicksal den verkrachten Gestalten einen Ausweg aus ihrer Hölle bereitstellen, es gibt nicht mal establishing shots – (und wenn, dann an unmotiviert an Stellen, wo man sie am wenigsten erwarten würde.) Dafür: Lokalkolorit, zitierfähige Kalauer („Es ist nicht alles Strich, was schlendert!“), und einige der (im positiven Sinne) unerträglichsten Sexszenen, die ich seit langem zu Gesicht bekommen habe. Gerade letztere können als eine einzige Anklage gegen ein Milieu, eine Gesellschaft, eine Welt gelesen werden, in der Menschen zu Wirtschaftsfaktoren, zu austauschbaren, verhandelbaren, konsumierbaren Objekten, letztlich zu Raubtieren auf zwei Beinen werden. („Geld ist wie eine schöne Frau. Es erregt und stinkt nicht. Wird es aber nicht betreut, kann es morgen schon einem anderen gehören.“)
Noch ein Wort zu den Darstellern und Darstellerinnen – beziehungsweise dazu, dass ich keine Worte über sie verliere: Ich kenne all diese Nasen schlicht nicht. Sicher wird jemand, der in den 70ern im Hamburg sozialisiert worden ist (oder auch später noch) in diesem oder jenem Lokal, diesem oder jenem Paradiesvogel, oder diesem oder jenem Charakterschauspieler Altbekanntes wiederfinden. Ich, der ich aus einem südpfälzischen Dorf stamme, kann sämtliche Bewohner des katholischen Heiligenpantheons herunterbeten, habe aber keinen Plan, wer von diesen Leuten vorher oder später welche Bars eröffnet hat, in welchen Hardcore-Filmen mitwirkte, oder wann in welcher TATORT-Folge erschossen wurde. Letztlich ist das aber auch unwichtig: ABFLUG BERMUDAS hat mich ganz ohne Nostalgie-Bonus ziemlich heftig an den Eiern gepackt, und überhaupt nicht unterhalten, amüsiert oder – Gott bewahre! – erotisch affiziert, stattdessen irritiert, schockiert und in ein Staunen darüber versetzt, was im bundesdeutschen Kino abseits des Hauptstroms seinerzeit alles möglich gewesen ist. Ein Wort zauch noch zu der VHS-Box von ORGASMO ESOTICO: Vielleicht noch nie habe ich ein derart scheußliches *Ding* in den Händen gehalten. Sämtliche abgedruckten Bilder stammen nicht mal aus Sicilianos Film, sondern zeigen die unattraktivsten Frauen aller Zeiten unattraktiv abgelichtet in Aktion mit den unattraktivsten Männern aller Zeiten. Ich verstehe die Porno-Industrie immer weniger. Sollte man nicht versuchen, eine Verpackung so ansprechend wie möglich zu gestalten, d.h. ideal ausgerichtet auf das anvisierte Zielpublikum? Wenn ich Jess Francos DIE SÄGE DES TODES vermarkte, packe ich doch auch die Handvoll Splatter-Szenen aufs Cover, und unterschlage die endlosen Spazier-gänge durch die Nacht, die unmotivierten Zooms, das Teenie-Gegacker, oder nicht? Allein dieser Kassetteneinleger kann, glaube ich, dazu führen, dass bei manchem, der ihn sich zu lange betrachtet, für Wochen erstmal gar nichts mehr unterhalb der Gürtellinie geht!