Re: Nightmare in a Damaged Brain - Romano Scavolini
Verfasst: Sa 30. Mär 2013, 20:29
Mit NIGHTMARE drehte der italienische Regisseur Romano Scavolini einen Film, den man anhand seiner Entstehungszeit, seines Produktionslandes und einer flüchtigen Inhaltsangabe für einen weiteren herkömmlichen US-Slasher im Gefolge von HALLOWEEN oder FRIDAY THE 13TH halten könnte, der sich mir jedoch, hat man sein versteckteres Innenleben erst einmal freigelegt, als eine hochkomplexe Genre-Reflexion und Metaebenen-Studie entpuppte. Tatsächlich scheint die eigentliche Geschichte, die sich um einen gewissen George Tatum rankt, einen jungen Mann, der nach langem Psychiatrieaufenthalt als geheilt in die Freiheit entlassen wird, nur um dort dann feststellen zu müssen, dass die schrecklichen Alpträume, die ihn seit seiner Kindheit plagen und ihn bereits zu dem einen oder anderen Mord trieben, erneut überhandnehmen und allmählich zum blutdürstigen Serienkiller mutieren lassen, nicht einmal Scavolini selbst besonders in dem Sinne zu interessieren, sie stringent, rund zu erzählen, denn sie ist skizzenhaft angelegt, bewusst unfertig, mit vielen offenen Fragen und Lücken, die der Rezipient selbst füllen oder beantworten muss, will er sich des unbefriedigenden Gefühls widersetzen, dass ihm Wesentliches vorenthalten worden ist. Zu Beginn wirkt NIGHTMARE dabei wie eine Dokumentensammlung, in der an Polizeireporten, psychiatrischen Gutachten und biographischen Details zusammengetragen wird, was Aufschluss gibt über die lädierte Psyche des Protagonisten. Jedoch nicht nur die offiziellen Stimmen der Institutionen, die die Person George Tatum zu analysieren versuchen, kommen zu Wort. Scavolini blickt mit einer fast schon dokumentarischen, schonungslosen Kamera in das kleine Zimmer, in dem Tatum erst mal untergekommen ist und allnächtlich aus seinen brutalen Träumen hochschreckt. Er begleitet ihn während seiner schlaflosen Nächte durch die Rotlichtviertel der Stadt, wo er nach etwas Ablenkung sucht. Nicht zuletzt bohrt er sich in seinen derangierten Kopf hinein, um seine subjektive Sicht zu übernehmen und den Zuschauer teilhaben zu lassen an den ihn quälenden Visionen, in der immer wieder einen kleinen Jungen und Unmengen an Blutfontänen erblicken muss. Gerade die Szenen, in denen Tatum eine Peepshow besucht, sind in ihrem unbeschönigten Naturalismus ein Paradebeispiel für den dreckigen, hoffnungslosen, düsteren und irgendwie auch wütend-verzweifelten Stil, der NIGHTMARE durchzieht. Scavolinis Hand-kamera fokussiert aus einer der im Kreis angeordneten Wichskabinen heraus eine Stripperin, die von Guckglas zu Guckglas tänzelt, um von den dort geifernden oder onanierenden Männern Geldscheine zugesteckt zu bekommen, und bringt in einer anderen Szene, wenn eine weitere Dame sich vor Tatum mit einem Dildo stimuliert, nur um Haaresbreite keine eindeutigeren Einblicke. Tatums Abenteuer in der Freiheit, die sich als ihr exaktes Gegenteil herausstellt, bleiben dabei im Grunde unkommentiert. Scavolini zeigt uns nur, erklärt aber nichts. Was wir über Tatum wissen, stammt aus Dokumenten, die andere über ihn verfassten, autoritäre Instanzen, die uns in Szenen wie denen in der Peepshow indes mit unseren deprimierenden Eindrücken so weit allein lassen, dass wir uns zu Tatum eigenständig in Bezug setzen müssen. NIGHTMARE ist daher nicht wirklich so etwas wie das Psychogramm eines Psychopathen. Dafür fehlt Scavolini einerseits ein didaktischer Stil und andererseits ist die Distanz, die die Bilder zu uns einnehmen, eine viel zu große. George Tatum, das ist ein exotischer Insekt, angeglotzt durch ein Vergrößerungsglas, ein Insekt, das sich selbst nicht versteht, und wir im Übrigen auch nur so weit wie wir uns eine eigene, selbst erdachte Interpretation zurechtbiegen. Bis zum Schluss bleiben im Grunde wesentliche Fragen, die Tatums Wahn und seine Metzeleien betreffen, entweder ungestellt oder unbeantwortet. Erneut gilt: Scavolini führt vor, aber er leugnet eine Wahrheit, in der alles kulminiert. Die schmutzige, trostlose Welt, in der Tatum sich wiederfindet, sowohl die äußere wie auch seine innere, erscheint disparat mit allgemeingültigen und finalen Erklärungen, die einem, wie beispielweise im Genre-Ahnherr PSYCHO, nach der letzten Szene mit dem Gefühl entlassen, zumindest verstanden zu haben, was man da an Gräueln mit angesehen hat. Nur logisch ist es da, dass sich die Meinung von Tatums Psychologen, sein Patient sei tatsächlich aufgrund eines neu entwickelten Medikaments als völlig geheilt zu betrachten, in keiner Weise bestätigt, die Autorität hierbei nicht nur nicht weiterhelfen kann, sondern fulminant falschliegt.
Neben diesem Serienkillerdrama, sozusagen dem Film A, bietet NIGHTMARE indes noch einen Film B, der von Anfang an parallel zu ersterem verläuft. Zunächst ohne erkennbaren Zusammenhang schildert Scavolini eine Anti-Familienidylle irgendwo an der Küste Floridas, demontiert Figuren und Momenten des klassischen family movies in einer ähnlich unver-blümten Weise, wie er uns durch Bordellstraßen und Tatums peinigende Visionen führt. Susan ist überforderte Mutter von drei Kindern, aus denen ihr Sohn C.J. unangenehm hervorsticht, weil er seine Umgebung mit den morbidesten Einfällen tyrannisiert. Regelmäßig muss vor allem seine Babysitterin Kathy darunter leiden, von ihm zu Tode erschreckt zu werden, er hat jedoch ebenso eine diebische Freude daran, seine beiden Geschwister, seine Mutter oder deren neuen Freund mit fingierten Horrorszenarien immer wieder aufs Neue zu entsetzen oder wenigstens zu irritieren. So erschrickt er Kathy als angeblich maskierter Killer, täuscht vor, dass ihn ein fremder Mann mit einem Messer schwer verletzt habe, indem er sein Shirt mit Ketchup durchtränkt und sich unter Krämpfen auf dem Boden windet, oder erfindet seltsame Geschichten, in denen er behauptet, jemand beobachte ihn nachts im Schlaf, bloß um seiner Umgebung Angst einzujagen und sich offenbar als der Überlegene zu fühlen, derjenige, der die Fäden in der Hand hat, nach denen seine Nächsten handeln. Diesen Film B, aufgrund der großartigen Montage homogen und organisch mit Film A verbunden, der wiederum sich ihm mit der Zeit sukzessive annähert bis er im letzten Drittel eine Symbiose mit ihm eingeht, ist im Grunde nichts weiter als ein reiner false scare movie, der mit der Erwartungshaltung seines Publikums spielt und es permanent hinters Licht führt. Eigentlich passiert nämlich dort, mal abgesehen von C.J.s ausgefeilter Terrorkreativität, nicht viel. Szenen, in denen eine Gefahr vorgetäuscht wird, die sich schlussendlich als nicht existent erweist, gehören im Slasher-Genre freilich zum Inventar, so inflationär wie Scavolini hat sie jedoch wohl nie jemand zuvor oder danach eingesetzt. Die gesamte Geschichte um C. J. und seine Familie hangelt sich von einer Täuschung zur nächsten, und Scavolini hilft mittels POV-Shots und dem Heraufbeschwören einer wirklich unheilschwangeren Atmosphäre, die selbst die wenigen leichteren, sonnigeren Momente des Films wie ein Nebelschleier überdeckt, eifrig dabei mit, sein Publikum stets aufs Neue in seine Fallen tappen lässt. Dadurch, dass Tatums reale Morde und die nur vorgetäuschten Killerattacken und unheimlichen Begebenheiten im Haus der Temper-Familie synchron zueinander verlaufen, wird die Illusion, Film A würde bereits vorzeitig auf Film B übergreifen und endlich in ihn eindringen, an den dichtesten Stellen des Films perfekt. Da hat man gerade gesehen, dass Tatum, von dem einem früh klar ist, dass ihn irgendwas mit den Tempers verbinden muss, C.J. vor dessen Anwesen be-gegnet ist, und einen Schnitt später stürzt der Junge angeblich blutverschmiert seinen Geschwistern in die Arme. Ein anderer grandioser Moment ist der, wenn Scavolini den Täuschungsmanövern des Bengels mehr Interesse zuwendet als den wirklichen Bluttaten Tatums. Während der nämlich off-screen eine Frau abschlachtet, ist C.J. mal wieder damit beschäftigt, seiner Babysitterin nachzustellen. Statt Tatums Mord en detail zu bebildern und ihn nicht nur zu zeigen wie er in einer sehr bewegenden Szene sein totes Opfer unter lauten Verzweiflungsschreien irgendwo zwischen Sanddünen bettet, kümmert sich Scavolini mehr darum, seinem Publikum vorzugaukeln, Tatum sei bereits in das Temper-Haus eingestiegen und die Tötung der Babysitterin, an sich sowieso eine als Kanonenfutter prädestinierte Figur, stünde kurz bevor. Mit zunehmenden Laufzeit wird klar, dass Film B reflektiert, was in Film A geschieht, oder anders gesagt: Scavolini nutzt Film B, um ganz offen die Mechanismen aufzudecken, nach denen Filme wie NIGHTMARE funktionieren, eben die Mechanismen, die in Film A ohne die Enttäuschung ineinandergreifen, dass es sich letztlich nur um einen weiteren Lausbubenstreich handelte, und es spricht nur für Scavolinis Methodik, dass er nicht versäumt eindeutige Verweise auf die Filmgeschichte einzubauen, mit denen er sie zumindest ansatzweise theoretisch untermauert. Nehmen wir den Moment, in dem Film A sich zum ersten Mal wirklich in Film B hineinbegibt. Tatum ist endlich in das Temper-Haus eingestiegen und kann sich gerade noch in einem Schrank verstecken, nachdem er von Susan, die mit ihrem Lover Bob vor dem Anwesen ein paar Photos schoss, auf einer der Polaroid-Aufnahmen am Fenster entdeckt worden ist. Es könnte natürlich auch nur ein Schatten sein, beruhigt sie ihr Freund, während Tatum, bewaffnet und bereit, im Notfall zu töten, nur ein paar Schritte weiter im Schrank steckt. Schließlich kann Bob Susan davon überzeugen, dass der angebliche Mann am Fenster nichts weiter als eine Illusion ist. Dass ihr Gespräch im Folgenden zu Michelangelo Antonionis Meisterwerk BLOW UP schweift, unterstreicht nur, wie durchdacht diese Szene ist, in der ein lügendes Medium die Wahrheit verkündet, die schlussendlich als Lüge begriffen wird. Eine andere Szene, früher im Film, macht noch deutlicher, dass wir es mit einem Film zu tun haben, der sich völlig bewusst ist, dass es sich bei ihm bloß um einen solchen handelt, und dass nur seine Figuren es sind, die davon keine Ahnung haben. Tatum befindet sich bei einem Gespräch mit seinem Psychologen. Eine breite Glasscheibe in dessen Büro fungiert als Kamera, als sich herausstellt, dass dahinter, für Tatum unsichtbar, eine ganze Riege Wissenschaftler sitzt, die ihn bei der Unterhaltung belauschen und sich mit Forscherinteresse über seine Psyche beugen wie ein naturalistischer Autor über seine Fiktionen. Nichts weiter als eine Kinosituation führt Scavolini uns damit vor. Die Psychologen sind das Publikum, das sich von Tatums Traumschilderungen und Seelenschmerzen unterhalten lässt, der in einer Sekunde fast so wirkt, als würde er durchschauen, dass er selbst nur eine Imagination ist, wenn er die Zuschauer durch den Spiegel direkt anblickt. Gleichzeitig sind die Psychologen jedoch auch nicht besser dran als Tatum. Ihre Ebene ist zwar eine wissendere, allerdings keine allwissende, denn sie wiederum ahnen freilich nicht, dass sie selbst ebenso beobachtet werden wie sie beobachten, nämlich von uns, dem wahren Publikum. Aber auch wir sind Manipulationen unterworfen, die Scavolini, der Gott seines Universums, an uns erprobt, wenn er dauernd C.J. benutzt, um uns zu necken und zu frustrieren. Deutlicher als bei dem von ihm vorgetäuschten Attentat kann es kaum werden, wenn Bob feststellt, dass das vorgebliche Blut an den Kleidungsstücken des Jungen nichts weiter als Ketchup ist. In Film B ist demnach alles reine Fassade, reine Oberfläche, eben auch das, was in Film A so hellrot schäumt und sprudelt. Die Splatterorgien in Film A, die wahrlich nicht zimperlich sind und in ihrer Überästhetisierung von Leid und Sterben weit mehr in der Tradition der kunstvoll-schwelgerischen Gewaltballette eines Argento, den surrealen Blutfontänen in Kubricks SHINING und dem naiv-kindlichen Schauwerten des Grand Guignol stehen als einfach nur stumpf und dumpf die Blutgeilheit des gemeinen Horrorfans zu befriedigen, erfahren eine regelrechte Entzauberung, wenn C.J. uns ins Gedächtnis ruft, dass es sich bei ihnen ja ebenfalls nicht um reale Morde handelt, dass sie genauso eine Täuschung darstellen, dass die zersägten Körperteile, die Blutpfühle, die Agonien von Tatums Opfern nur einen weiteren Trick darstellen, mit dem dieser Film oder das Medium Film im Allgemeinen uns eingefangen hat.
Bezeichnend ist nunmehr wie die Verschmelzung von Film A und Film B vonstattengeht, es entsteht nämlich keine Demokratie, in der beide Filme gleichwertig nebeneinander herrschen würden, vielmehr wird Film A, der „echte“ Film, der „realistische“ Film von Film B, dem „täuschenden“ und „ent-täuschenden“ Film förmlich aufgesaugt. Tatum verschwindet unter C.J.s Maske, um ein gesichts- und emotionsloser Killer wie Michael Myers oder Jason Voorhees zu werden, ein Kniff, der den Film im Finale zu einer offensichtlichen Parodie des Showdowns von Carpenters HALLOWEEN verwandelt. Tatum ist nun nicht mehr der zerbrochene und zerbrechende Charakter von Film A, er mutiert zu einem Stereotyp, einer Tötungsmaschine, einer Genre-Konvention, die kein Schicksal, keine Biographie zu haben scheint, und, ganz getreu der Slasher-Regeln, Kathy und deren Boyfriend, die sich mittels Joints und vorehelichem Sex schuldig machten, auszumerzen und überdies unzählige Kugeln einstecken kann, die C.J. auf ihn abfeuert, ohne von ihnen gestoppt werden zu können, eben weil das Genre es so verlangt. Scavolini zerstört indes ein weiteres Mal eine Illusion, der man sich gerade hatte hingeben wollen, wenn er in Tatums Sterben eine lange Rückblende setzt, die er sorgfältig vorbereitete und die Aufschluss gibt über Tatums Vergangenheit und ein Schlüssel ist zu seinen Traumbildern. Niemand wird verkennen, dass dieser Flashback ganz in der Tradition des italienischen Giallo steht. Namentlich Argentos PROFONDO ROSSO, der sich übrigens mehr als ein bisschen von BLOW UP inspirieren ließ, sticht mir überdeutlich ins Auge. Nicht nur, dass Scavolini hier laienpsychologisch ein ziemlich amüsantes und ironisches Kindheitstraumata konstruiert, das mit einer Freudschen Urszene seinen Anfang nimmt, zugleich kann man den Rückblick filmhistorisch lesen, da ja bekanntlich der US-amerikanische Slasher seine Antizipation in originär italienischen Thrillern wie Martinos TORSO oder Bavas BAY OF BLOOD erfuhr, und sich somit ein Kreis schließt, der die Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft vereint, analog zu Tatum, der in eben jenem Haus seinen Tod findet, in dem er als Kind seinen ersten Mord beging. Die letzten Einstellungen heben den Film dann noch weiter in jenen Bereich der Metaebenen, die in Filmen wie SCREAM zu einem nur augenzwinkernden, humorvollen Zitatenspiel dienen. Scavolini zeigt uns nun zwei Kinder. Kind A ist der junge Tatum, blutbefleckt vor einem Spiegel, in den er ernst, beinahe vorwurfsvoll stiert bevor er die Blicke senkt. Kind B ist C.J., in einem Polizeiauto sitzend, nachdem er Tatum zur Strecke gebracht hat, und recht ausdruckslos aus der Scheibe starrend bis er direkt in die Kamera zu blinzeln scheint und zu lächeln beginnt. Sicher kann man diese Szene auch so interpretieren, dass C.J. nun das Erbe seines Vaters, denn um niemand anderes handelte es sich bei Tatum, antritt und alsbald selbst zum Serienkiller werden wird, für mich ergibt sich nach all dem oben Gesagten eine weitaus sinnigere Interpretation. Es ist Hanekes FUNNY GAMES, an den ich mich bei C.J.s Blinzeln erinnert fühle, an diese überraschende Szene, wenn Arno Frisch sich plötzlich zur Kamera, d.h. zu uns, umwendet und uns zuzwinkert. C.J., so scheint es mir, ist sich in diesem Moment ebenso wie der junge Tatum eindeutig bewusst, dass es sich bei ihm um eine Filmfigur handelt. Beide begreifen, dass sie Werkzeuge sind, Werkzeuge Scavolinis, die dieser schmiedete, nur um uns, seine Zuschauer, mit ihnen die Zeit zu vertreiben. Tatums vorwurfsvoller Blick wirkt wie eine Anklage und der von C.J. verschwörerisch, komplizenhaft, so, als wolle er uns mit ihm sagen, dass er bereit sei, noch mehr für uns zu morden, in einem Sequel zum Beispiel oder einer ganzen Slasher-Reihe mit dreizehn, vierzehn Aufgüssen. Damit führt Scavolini mit erschütternder Konsequenz eine Publikumsirritation zu Ende, die, mag sie auch subtiler und gleichsam schwer fassbarer sein als in vergleichbaren Filmen wie CANNIBAL HOLOCAUST oder dem bereits erwähnten FUNNY GAMES, nichtdestotrotz ähnlich erfolgreich darin ist, mich wie ein ertappter Voyeur fühlen zu lassen.
Neben diesem Serienkillerdrama, sozusagen dem Film A, bietet NIGHTMARE indes noch einen Film B, der von Anfang an parallel zu ersterem verläuft. Zunächst ohne erkennbaren Zusammenhang schildert Scavolini eine Anti-Familienidylle irgendwo an der Küste Floridas, demontiert Figuren und Momenten des klassischen family movies in einer ähnlich unver-blümten Weise, wie er uns durch Bordellstraßen und Tatums peinigende Visionen führt. Susan ist überforderte Mutter von drei Kindern, aus denen ihr Sohn C.J. unangenehm hervorsticht, weil er seine Umgebung mit den morbidesten Einfällen tyrannisiert. Regelmäßig muss vor allem seine Babysitterin Kathy darunter leiden, von ihm zu Tode erschreckt zu werden, er hat jedoch ebenso eine diebische Freude daran, seine beiden Geschwister, seine Mutter oder deren neuen Freund mit fingierten Horrorszenarien immer wieder aufs Neue zu entsetzen oder wenigstens zu irritieren. So erschrickt er Kathy als angeblich maskierter Killer, täuscht vor, dass ihn ein fremder Mann mit einem Messer schwer verletzt habe, indem er sein Shirt mit Ketchup durchtränkt und sich unter Krämpfen auf dem Boden windet, oder erfindet seltsame Geschichten, in denen er behauptet, jemand beobachte ihn nachts im Schlaf, bloß um seiner Umgebung Angst einzujagen und sich offenbar als der Überlegene zu fühlen, derjenige, der die Fäden in der Hand hat, nach denen seine Nächsten handeln. Diesen Film B, aufgrund der großartigen Montage homogen und organisch mit Film A verbunden, der wiederum sich ihm mit der Zeit sukzessive annähert bis er im letzten Drittel eine Symbiose mit ihm eingeht, ist im Grunde nichts weiter als ein reiner false scare movie, der mit der Erwartungshaltung seines Publikums spielt und es permanent hinters Licht führt. Eigentlich passiert nämlich dort, mal abgesehen von C.J.s ausgefeilter Terrorkreativität, nicht viel. Szenen, in denen eine Gefahr vorgetäuscht wird, die sich schlussendlich als nicht existent erweist, gehören im Slasher-Genre freilich zum Inventar, so inflationär wie Scavolini hat sie jedoch wohl nie jemand zuvor oder danach eingesetzt. Die gesamte Geschichte um C. J. und seine Familie hangelt sich von einer Täuschung zur nächsten, und Scavolini hilft mittels POV-Shots und dem Heraufbeschwören einer wirklich unheilschwangeren Atmosphäre, die selbst die wenigen leichteren, sonnigeren Momente des Films wie ein Nebelschleier überdeckt, eifrig dabei mit, sein Publikum stets aufs Neue in seine Fallen tappen lässt. Dadurch, dass Tatums reale Morde und die nur vorgetäuschten Killerattacken und unheimlichen Begebenheiten im Haus der Temper-Familie synchron zueinander verlaufen, wird die Illusion, Film A würde bereits vorzeitig auf Film B übergreifen und endlich in ihn eindringen, an den dichtesten Stellen des Films perfekt. Da hat man gerade gesehen, dass Tatum, von dem einem früh klar ist, dass ihn irgendwas mit den Tempers verbinden muss, C.J. vor dessen Anwesen be-gegnet ist, und einen Schnitt später stürzt der Junge angeblich blutverschmiert seinen Geschwistern in die Arme. Ein anderer grandioser Moment ist der, wenn Scavolini den Täuschungsmanövern des Bengels mehr Interesse zuwendet als den wirklichen Bluttaten Tatums. Während der nämlich off-screen eine Frau abschlachtet, ist C.J. mal wieder damit beschäftigt, seiner Babysitterin nachzustellen. Statt Tatums Mord en detail zu bebildern und ihn nicht nur zu zeigen wie er in einer sehr bewegenden Szene sein totes Opfer unter lauten Verzweiflungsschreien irgendwo zwischen Sanddünen bettet, kümmert sich Scavolini mehr darum, seinem Publikum vorzugaukeln, Tatum sei bereits in das Temper-Haus eingestiegen und die Tötung der Babysitterin, an sich sowieso eine als Kanonenfutter prädestinierte Figur, stünde kurz bevor. Mit zunehmenden Laufzeit wird klar, dass Film B reflektiert, was in Film A geschieht, oder anders gesagt: Scavolini nutzt Film B, um ganz offen die Mechanismen aufzudecken, nach denen Filme wie NIGHTMARE funktionieren, eben die Mechanismen, die in Film A ohne die Enttäuschung ineinandergreifen, dass es sich letztlich nur um einen weiteren Lausbubenstreich handelte, und es spricht nur für Scavolinis Methodik, dass er nicht versäumt eindeutige Verweise auf die Filmgeschichte einzubauen, mit denen er sie zumindest ansatzweise theoretisch untermauert. Nehmen wir den Moment, in dem Film A sich zum ersten Mal wirklich in Film B hineinbegibt. Tatum ist endlich in das Temper-Haus eingestiegen und kann sich gerade noch in einem Schrank verstecken, nachdem er von Susan, die mit ihrem Lover Bob vor dem Anwesen ein paar Photos schoss, auf einer der Polaroid-Aufnahmen am Fenster entdeckt worden ist. Es könnte natürlich auch nur ein Schatten sein, beruhigt sie ihr Freund, während Tatum, bewaffnet und bereit, im Notfall zu töten, nur ein paar Schritte weiter im Schrank steckt. Schließlich kann Bob Susan davon überzeugen, dass der angebliche Mann am Fenster nichts weiter als eine Illusion ist. Dass ihr Gespräch im Folgenden zu Michelangelo Antonionis Meisterwerk BLOW UP schweift, unterstreicht nur, wie durchdacht diese Szene ist, in der ein lügendes Medium die Wahrheit verkündet, die schlussendlich als Lüge begriffen wird. Eine andere Szene, früher im Film, macht noch deutlicher, dass wir es mit einem Film zu tun haben, der sich völlig bewusst ist, dass es sich bei ihm bloß um einen solchen handelt, und dass nur seine Figuren es sind, die davon keine Ahnung haben. Tatum befindet sich bei einem Gespräch mit seinem Psychologen. Eine breite Glasscheibe in dessen Büro fungiert als Kamera, als sich herausstellt, dass dahinter, für Tatum unsichtbar, eine ganze Riege Wissenschaftler sitzt, die ihn bei der Unterhaltung belauschen und sich mit Forscherinteresse über seine Psyche beugen wie ein naturalistischer Autor über seine Fiktionen. Nichts weiter als eine Kinosituation führt Scavolini uns damit vor. Die Psychologen sind das Publikum, das sich von Tatums Traumschilderungen und Seelenschmerzen unterhalten lässt, der in einer Sekunde fast so wirkt, als würde er durchschauen, dass er selbst nur eine Imagination ist, wenn er die Zuschauer durch den Spiegel direkt anblickt. Gleichzeitig sind die Psychologen jedoch auch nicht besser dran als Tatum. Ihre Ebene ist zwar eine wissendere, allerdings keine allwissende, denn sie wiederum ahnen freilich nicht, dass sie selbst ebenso beobachtet werden wie sie beobachten, nämlich von uns, dem wahren Publikum. Aber auch wir sind Manipulationen unterworfen, die Scavolini, der Gott seines Universums, an uns erprobt, wenn er dauernd C.J. benutzt, um uns zu necken und zu frustrieren. Deutlicher als bei dem von ihm vorgetäuschten Attentat kann es kaum werden, wenn Bob feststellt, dass das vorgebliche Blut an den Kleidungsstücken des Jungen nichts weiter als Ketchup ist. In Film B ist demnach alles reine Fassade, reine Oberfläche, eben auch das, was in Film A so hellrot schäumt und sprudelt. Die Splatterorgien in Film A, die wahrlich nicht zimperlich sind und in ihrer Überästhetisierung von Leid und Sterben weit mehr in der Tradition der kunstvoll-schwelgerischen Gewaltballette eines Argento, den surrealen Blutfontänen in Kubricks SHINING und dem naiv-kindlichen Schauwerten des Grand Guignol stehen als einfach nur stumpf und dumpf die Blutgeilheit des gemeinen Horrorfans zu befriedigen, erfahren eine regelrechte Entzauberung, wenn C.J. uns ins Gedächtnis ruft, dass es sich bei ihnen ja ebenfalls nicht um reale Morde handelt, dass sie genauso eine Täuschung darstellen, dass die zersägten Körperteile, die Blutpfühle, die Agonien von Tatums Opfern nur einen weiteren Trick darstellen, mit dem dieser Film oder das Medium Film im Allgemeinen uns eingefangen hat.
Bezeichnend ist nunmehr wie die Verschmelzung von Film A und Film B vonstattengeht, es entsteht nämlich keine Demokratie, in der beide Filme gleichwertig nebeneinander herrschen würden, vielmehr wird Film A, der „echte“ Film, der „realistische“ Film von Film B, dem „täuschenden“ und „ent-täuschenden“ Film förmlich aufgesaugt. Tatum verschwindet unter C.J.s Maske, um ein gesichts- und emotionsloser Killer wie Michael Myers oder Jason Voorhees zu werden, ein Kniff, der den Film im Finale zu einer offensichtlichen Parodie des Showdowns von Carpenters HALLOWEEN verwandelt. Tatum ist nun nicht mehr der zerbrochene und zerbrechende Charakter von Film A, er mutiert zu einem Stereotyp, einer Tötungsmaschine, einer Genre-Konvention, die kein Schicksal, keine Biographie zu haben scheint, und, ganz getreu der Slasher-Regeln, Kathy und deren Boyfriend, die sich mittels Joints und vorehelichem Sex schuldig machten, auszumerzen und überdies unzählige Kugeln einstecken kann, die C.J. auf ihn abfeuert, ohne von ihnen gestoppt werden zu können, eben weil das Genre es so verlangt. Scavolini zerstört indes ein weiteres Mal eine Illusion, der man sich gerade hatte hingeben wollen, wenn er in Tatums Sterben eine lange Rückblende setzt, die er sorgfältig vorbereitete und die Aufschluss gibt über Tatums Vergangenheit und ein Schlüssel ist zu seinen Traumbildern. Niemand wird verkennen, dass dieser Flashback ganz in der Tradition des italienischen Giallo steht. Namentlich Argentos PROFONDO ROSSO, der sich übrigens mehr als ein bisschen von BLOW UP inspirieren ließ, sticht mir überdeutlich ins Auge. Nicht nur, dass Scavolini hier laienpsychologisch ein ziemlich amüsantes und ironisches Kindheitstraumata konstruiert, das mit einer Freudschen Urszene seinen Anfang nimmt, zugleich kann man den Rückblick filmhistorisch lesen, da ja bekanntlich der US-amerikanische Slasher seine Antizipation in originär italienischen Thrillern wie Martinos TORSO oder Bavas BAY OF BLOOD erfuhr, und sich somit ein Kreis schließt, der die Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft vereint, analog zu Tatum, der in eben jenem Haus seinen Tod findet, in dem er als Kind seinen ersten Mord beging. Die letzten Einstellungen heben den Film dann noch weiter in jenen Bereich der Metaebenen, die in Filmen wie SCREAM zu einem nur augenzwinkernden, humorvollen Zitatenspiel dienen. Scavolini zeigt uns nun zwei Kinder. Kind A ist der junge Tatum, blutbefleckt vor einem Spiegel, in den er ernst, beinahe vorwurfsvoll stiert bevor er die Blicke senkt. Kind B ist C.J., in einem Polizeiauto sitzend, nachdem er Tatum zur Strecke gebracht hat, und recht ausdruckslos aus der Scheibe starrend bis er direkt in die Kamera zu blinzeln scheint und zu lächeln beginnt. Sicher kann man diese Szene auch so interpretieren, dass C.J. nun das Erbe seines Vaters, denn um niemand anderes handelte es sich bei Tatum, antritt und alsbald selbst zum Serienkiller werden wird, für mich ergibt sich nach all dem oben Gesagten eine weitaus sinnigere Interpretation. Es ist Hanekes FUNNY GAMES, an den ich mich bei C.J.s Blinzeln erinnert fühle, an diese überraschende Szene, wenn Arno Frisch sich plötzlich zur Kamera, d.h. zu uns, umwendet und uns zuzwinkert. C.J., so scheint es mir, ist sich in diesem Moment ebenso wie der junge Tatum eindeutig bewusst, dass es sich bei ihm um eine Filmfigur handelt. Beide begreifen, dass sie Werkzeuge sind, Werkzeuge Scavolinis, die dieser schmiedete, nur um uns, seine Zuschauer, mit ihnen die Zeit zu vertreiben. Tatums vorwurfsvoller Blick wirkt wie eine Anklage und der von C.J. verschwörerisch, komplizenhaft, so, als wolle er uns mit ihm sagen, dass er bereit sei, noch mehr für uns zu morden, in einem Sequel zum Beispiel oder einer ganzen Slasher-Reihe mit dreizehn, vierzehn Aufgüssen. Damit führt Scavolini mit erschütternder Konsequenz eine Publikumsirritation zu Ende, die, mag sie auch subtiler und gleichsam schwer fassbarer sein als in vergleichbaren Filmen wie CANNIBAL HOLOCAUST oder dem bereits erwähnten FUNNY GAMES, nichtdestotrotz ähnlich erfolgreich darin ist, mich wie ein ertappter Voyeur fühlen zu lassen.