Blap hat geschrieben: ↑Sa 12. Jun 2010, 02:27
Eigentlich ist hier bereits alles gesagt, ich packe meinen Kurzkommentar trotzdem dazu:
Alice, sweet Alice (Alfred Sole, 1976) 6/10
Alice ist 12 Jahre alt, unbeliebt, verkannt, und wird von Mutter Catherine, Tante Annie und Schwester Karen einfach nur wie Dreck behandelt. Vom fetten Hausvermieter wird Alice begrapscht, und irgendwie glaubt ihr keiner, dass sie eigentlich auch ganz nett sein könnte. Doch, einer glaubt es: Ihr Vater. Aber der ist längst mit einer anderen Frau verheiratet und lebt sonstwo … Klingt erstmal nach einem ganz normalen Teenager-Dasein während der Pubertät: Alle nörgeln an einem rum, keinem kann man es recht machen, und egal ob man links rum oder rechts rum geht, es ist immer verkehrt. Alice ist, mit Verlaub, der Arsch vom Dienst. Bei ihrer Kommunion wird Karen grausam ermordet und alle fragen sich wo Alice während der Tat war. Als dann auch noch nach einem Streit ein Angriff mit einem Messer auf die verhasste Tante Annie geschieht, und Annie sicher ist dass nur eine die Täterin gewesen sein kann, wird Alice in die Kinderpsychiatrie gesteckt. Der Mann am Lügendetektor will sie überführen, der Polizist will sie einsperren, die Tante will sie im Gefängnis sehen, und alle hacken auf Alice rum. Nur einer nicht: Der Vater! Der kommt extra aus Sonstwohausen und verspricht, erst wieder abzureisen, wenn er den Täter gefunden hat. Er hat die Nichte Angie im Verdacht, das kleine dicke Kind der Tante, die seit dem Mord verschwunden ist, und als Angie eines Tages anruft und um Hilfe fleht, springt der gute Mann sofort in sein Auto und will sie retten. Mächtig böser Fehler …
Wenn das kein US-amerikanischer, sondern ein italienischer Film wäre, dann wäre die Klassifizierung leicht. Dann nämlich wäre klar, dass es sich bei ALICE um einen Giallo handelt: Die gestörten und unsympathischen Charaktere. Die deutliche Kritik an der Kirche und an den sozialen Verhältnissen. Der Whodunnit-Plot, der zu einem völlig unerwarteten Zeitpunkt aufgelöst wird und mit einem Perspektivwechsel in der Geschichte einhergeht. Die schwachen Cops, die entweder rumäffen oder gleich völlig falsche Entscheidungen treffen … Fehlen eigentlich nur Nuditäten und eine eingängige Musik, dann wäre der Euro-Genrekracher aus der zweiten Reihe fertig.
So aber wird mir ALICE, SWEET ALICE vor allem als der Film in Erinnerung bleiben, in dem ganz viele garstige und unausstehliche Frauen zu sehen sind, und alle entsetzlich viel durch die Gegend schreien. Vor allem die garstigen und unausstehlichen Frauen. Ganz ehrlich, nachdem Karen tot ist konnte ich erstmal etwas durchschnaufen. Was für ein widerliches Gör!
Dann diese schreckliche Tante. Auch hier eine Wohltat, als die Frau im Krankenhaus, und damit weitgehend aus der Geschichte verschwindet. ALICE, SWEET ALICE ist prinzipiell kein schlechter Film, aber bei den Charakteren sind solche Arschgeigen dabei, dass einem der Film durchaus verleidet werden kann.
Positiv dagegen der Umstand, dass nach 70 Minuten die Perspektive auf den Mörder wechselt! Die Demaskierung erfolgt sehr unvermittelt, und anschließend bleiben wir auch beim Mörder. Ein erstklassiger erzählerischer Trick, den Alberto De Martino ein paar Jahre später in DAS HAUS DER VERFLUCHTEN kopierte, und einen ähnlich starken Effekt erzielte. Wir lernen die Motive und die Vorgeschichte des Mörders zumindest ansatzweise kennen, während die andern Personen allmählich in den Hintergrund treten. Zusammen mit der miefig-bürgerlichen Atmosphäre (der Film spielt in einer kleinen amerikanischen Stadt im Jahr 1961) und den erstklassigen Schauspielern (Paula E. Sheppard als Alice ist eine Wucht! Genauso wie Mildred Clinton als Mrs. Tedoni, die Haushälterin des Priesters) wird die Zeit überhaupt nicht lang, und der Film zieht mehr in seinen Bann, als man es eigentlich wahr haben wollte.
Vielleicht ist ALICE, SWEET ALICE ja auch gar kein Slasher, und schon gar kein Horrorfilm, auch wenn er im ersten Drittel Ansätze eines solchen hat. Vielleicht ist der Film viel mehr ein Drama, das mit großem Ernst aus einer Zeit erzählt, in der noch vieles von der Kirche geregelt wurde. Vor allem Dinge wie Erziehung und zwischenmenschliche Beziehungen unterlagen damals in der Regel der Obhut des örtlichen Pfaffen, der seinen Job auch durchaus ernstnahm. So ernst, dass der fette pädophile Hausbesitzer überhaupt nicht auffällt. Dass ein (geistig) eingesperrtes und freiheitsliebend-pubertierendes Kind in die Psychiatrie kommt. Und dass das, was dann folgerichtig aus der Familie der Kirche und der Glaubensgemeinschaft selber sprießt, dass dies dann nur noch krank ist, dass wiederum verwundert dann auch nicht mehr. Der Regisseur Alfred Sole wurde in Paterson, New Jersey, geboren, und in Paterson wurde auch ALICE, SWEET ALICE gedreht. Und nun stelle ich mal die Frage in den Raum, ob da nicht unter Umständen autobiographische Züge zu erkennen sind? Ob da nicht vielleicht jemand versucht hat, sich seine Dämonen von der Seele zu arbeiten? Unter diesem möglichen Gesichtspunkt nämlich ergeben so einige Charaktere und ihre Schicksale Sinn …
ALICE, SWEET ALICE hätte ich gerne von jemandem wie Lucio Fulci gedreht gesehen. Mit eindringlichen Bildern, mit dieser Leichtigkeit, welche die italienischen Filmemacher vor allem in den 60ern und 70ern so gut hinbekommen haben, und die so gekonnt von heftigen Gewalteruptionen konterkariert wird. Dazu eine gute Portion Kritik an den herrschenden Umständen, und ein Terrorklassiker mehr hätte das Licht des Projektors erblickt. ALICE, SWEET ALICE ist aber nicht von Lucio Fulci sondern von Alfred Sole, und also, als Drama mit leichtem Terror-Einschlag, durchaus sehenswert. Zumindest dieses. Wenn da nur dieses Gekreische und Gezicke nicht wäre …