„Diese Zeilen hat ein geistig hochstehender und kultivierter Mensch geschrieben...“
Nach seinem Western „Mögen Sie in Frieden ruhen“ inszenierte der italienische Regisseur Carlo Lizzani im Jahre 1968 den mit Tomas Milian („Der Gehetzte der Sierra Madre“), Gian Maria Volonté („Von Angesicht zu Angesicht“) und Ray Lovelock („Töte, Django“) erstklassig besetzten, frühen
Poliziesco „Die Banditen von Mailand“, der als italienischer Beitrag zu den damaligen Berliner Filmfestspielen eingereicht wurde, mangels einer Heimkino-Auswertung hierzulande aber bisher leider weitestgehend unbekannt ist. Mein hier geschilderter Eindruck basiert auf der Wiederaufführung im Rahmen der „Deliria över Lübeck“-Kinoveranstaltung des Filmforums
www.deliria-italiano.de in Zusammenarbeit mit dem kommunalen Kino „KoKi“.
„Warum versuchen wir nicht gleich, ob wir nicht mit ehrlicher Arbeit zu was kommen?“
Mailand ächzt unter einer Verbrechenswelle, angefangen bei illegalem Glücksspiel über Schutzgelderpressungen und Entführungen bis hin zu Banküberfällen, Mord und Totschlag. Der junge Kommissar Basevi (Thomas Milian) steht einem Journalisten für eine Reportage Rede und Antwort, während ein ehemaliger Gangster der alten Garde dem Reporter gegenüber Sittenverfall sowie zunehmende Brutalität seitens des ihn und seine Zunft beerbenden Nachwuchses beklagt. Tatsächlich treibt just zu diesem Zeitpunkt eine Bande ihr Unwesen, die bereits zahlreiche Banküberfälle begangen hat und nun, nach ihrem siebzehnten Coup, auf der Flucht vor der Polizei mehrere zivile, unbeteiligte Opfer gefordert hat. Bartolini (Enzo Sancrotti, „Das Syndikat“), der Fahrer der Bande, konnte gestellt und aufs Revier gebracht werden, was zugleich dessen Rettung vor einem aufgebrachten Lynchmob bedeutete, doch die anderen sind noch flüchtig. Basevi versucht, Bartolini zum Reden zu bringen…
Und Bartolini redet schließlich. Mit der ausgiebigen Rückblende, die dadurch eingeleitet wird, endet vorläufig der Reportfilm-Stil – und die Hauptrolle Milians. Abgelöst wird er von Gian Maria Volonté als Piero Cavallero, dem Kopf der Bande, die zunächst noch als Trio operiert, bald aber Zuwachs in Person des Azubis Tuccio (Ray Lovelock) erhält. Piero ist ein sehr von sich eingenommener Mensch – ein wenig zu sehr, wie sich herausstellen wird –, rücksichtslos und kaltschnäuzig zudem und sich per se über andere stellend. Dahinter verbirgt sich ein offenbar einst gekränktes, allzu eitles Ego, das um gesellschaftliche Anerkennung buhlt, und sei es für seine Verbrechen. Er versendet einen anonymen Brief mit einem Verhaltenskodex für Bankangestellte/-kunden und die Polizei bei Überfällen durch seine Bande, damit die Presse ihn abdruckt, und raubt mit seinen Komplizen drei Banken innerhalb von 20 Minuten aus. Um den Schein bürgerlicher Existenz zu wahren, mietet man sogar Büroflächen für eine Scheinfirma an und stellt eine ahnungslose Sekretärin (María Rosa Sclauzero, „In the Folds of the Flesh“) ein, die sogleich als Projektionsfläche für Pieros Machismo herhalten muss. In seiner Rolle als Firmenchef im feinen Zwirn gefällt er sich augenscheinlich sehr.
Doch keine Siegesserie und keine Glückssträhne halten ewig und Größenwahn ist ein schlechter Berater. Als etwas schiefgeht, überschlagen sich die Ereignisse, die mit Schießereien und irrwitzigen Verfolgungsjagden einhergehen und zur Szene vom Filmbeginn führen, die erst jetzt in vollem Umfang verständlich wird. Dort setzt Lizzani wieder an, zeigt sowohl die auf Bartolinis Aussagen basierende Ermittlungsarbeit als auch die schließlich letzten verbliebenen Gangster – Piero und Sandro (Don Backy, „Die Degenerierten“) – auf fortgesetzter, aber wenig glamouröser, reichlich unspektakulärer und immer aussichtsloser werdenden Flucht. Nach seinem bewusst hektisch und unübersichtlich inszenierten, das Chaos auf den Straßen skizzierenden Auftakt ist der Film immer ruhiger, dabei aber nicht weniger spannend geworden, was seinen Endpunkt in den sich zum Schlaf bettenden Gangstern findet. Überraschend reaktiviert Lizzani den Reportstil gegen Ende, zum einen sicherlich, um auf einfache Weise Zusammenhänge zu erklären, möglicherweise aber auch, um den Beginn ins Gedächtnis zurückzurufen: der teilweisen Inszenierung von Verbrechen für eine semidokumentarische Reportage, die natürlich ihr Publikum finden soll – möglicherweise eines, das sich fasziniert von der vermittelten Unterwelt zeigt, möglicherweise gar eines, das in den Antagonisten so etwas wie Medienstars sieht, die es sich zum zweifelhaften Vorbild nimmt. Lizzanis Film endet nämlich mit einem Piero, der sich, trotz Verhaftung, wahnsinnig lachend über den Medienrummel freut und sich in exakt dieser Rolle zu sehen scheint.
Mit seinem Beginn hatte mich „Die Banditen von Mailand“ regelrecht übertölpelt und im weiteren Verlauf mit seiner Erzählstruktur und seinen Tempowechseln herausgefordert. Doch je länger ich über den Film reflektiere, desto höher schätze ich ihn. Lizzanis Inszenierung erweist sich als dramaturgisch und inhaltlich klug, beispielsweise wenn spätere Opfer der Verbrecher zunächst ohne klar erkennbaren Bezug zum Filmgeschehen in die Handlung integriert werden. Milian agiert hier noch recht zurückhaltend – anders als in seinen späteren Rollen, dort gern auch auf der anderen Seite des Gesetzes – und spielt einen engagierten Kommissar, dessen einzige offensichtliche Extravaganz das Rauchen mit Zigarettenspitze ist und der von zahlreichen Kollegen umringt auf den verhörten Bartolini einwirkt, wie es heutzutage wohl als unlautere Druckausübung gewertet würde. Unabhängig davon ist die Polizei hier eindeutig in der Rolle der Rechtschaffenden, wenngleich den Gangstern mehr Profil zuteilwird und ihre sozialen Hintergründe aufgegriffen werden. Volonté ist seine Rolle auf den Leib geschneidert, seinem expressiven Spiel kann man sich auch hier nicht entziehen. Das Ende des Films greift später populärer gewordenen Topoi um medienaffine Gangster vor.
Eine Mischung aus semidokumentarischem Reportfilm,
Heistfilm, Krimi, Action, Milieustudie und Medienkritik, gewürzt mit neorealistischen Einflüssen – das bedeutete der frühe
Poliziesco unter Lizzani. Riz Ortolani komponierte eine passende musikalische Untermalung; und die offensichtlichste Kernaussage des Films, dass sich (zumindest diese Art von) Verbrechen nicht lohnt, wird in Form einer kühlen Berechnung getroffen. Überaus sehenswert!