Die Mafia-Story
Sequestro di persona
Italien 1968
Regie: Gianfranco Mingozzi
Franco Nero, Charlotte Rampling, Frank Wolff, Ennio Balbo, Pierluigi Aprà, Margarita Lozano, Steffen Zacharias,
Enrico Osterman, Enzo Robutti, Fabrizio Jovine, Paolo Todisco, Gino Cassani
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OFDB
Italo-Cinema.de (Gerald Kuklinski)
Ein Land, zerrissen zwischen Armut und Gewalt. Ein Land, dessen Wurzeln bäuerlich sind, und dessen Zukunft offensichtlich in der bedingungslosen Hinwendung zur Moderne zu liegen scheint. In dem Touristen die wilde Schönheit der Natur bewundern und kaum merken, dass diese Wildheit und Natürlichkeit in erster Linie Armut und Gewalt beherbergen.
Der Sarde Francesco Marras zeigt seiner römischen Freundin Christina seine Heimat. Nach einem Unfall(?) wird er gezwungen Christina aussteigen zu lassen und alleine weiterzufahren. Christina wird von zwei Männern aufgegabelt und zur Küste gebracht: Francesco wurde soeben entführt. Das Lösegeld beträgt 80 Millionen Lire, und der Vater Francescos hat nur eine Möglichkeit soviel Geld aufzutreiben, nämlich indem er seine Ländereien verkauft. Gavino, der Jugendfreund Francescos, versucht zwischen den Entführern und dem Vater zu vermitteln. Versucht Christina davon abzuhalten zur Polizei zu gehen. Versucht einen Weg zu finden, Francesco da alleine herauszuholen. Denn ihn stört, dass die „Banditen“, die dahinterstecken, über die dahinterliegenden Grundstücksgeschäfte mitnichten die für sie wertvollen Weidegründe in den Bergen bekommen, sondern das Gelände in Küstennähe, welches für sie, kleine und mittellose Hirten und Bauern die sie sind, wertlos ist. Und er kombiniert, dass hinter den Banditen noch jemand anderes steckt, der intelligenter ist und die Entführungen sehr gezielt steuert. Gavino bietet sich als Köder an.
Ein Land, zerrissen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Kleine Dörfer in den Bergen, nur über schmale Pfade zugänglich, wenn überhaupt. Häuser die eher Ruinen gleichen. Bitterste Armut. Alte Frauen in schwarz, die ihre Wäsche am Dorfbrunnen waschen, und junge Männer in verwaschener und zerrissener Kleidung. Die sich mit Gewehren über der Schulter und harten und verschlossenen Gesichtern im steinigen Gelände so gekonnt bewegen wie Bergziegen. Eine wilde und schöne Landschaft, die die Härte und Einsamkeit dieser Menschen in ihrer Sinfonie aus Stein und Wald fortsetzt. Und dazwischen immer wieder die Zeichen der Moderne. Neue Straßen aus Asphalt, die die Landschaft erbarmungslos zerschneiden. Eine historisierende Ferienanlage am Meer, gebaut für die Touristen, mit Luxuskarossen auf dem Parkplatz. Eine Zugverbindung, die von vielen jungen Menschen genutzt wird, welche auf einem tragbaren Plattenspieler die neusten Schlager hören, während in der Bar alte Männer die traditionellen Lieder singen. Bilder eines Landes …
Und in diesen (für uns) pittoresken Eindrücken dann Menschen, die zusehen müssen wie ihre Heimat nach und nach verkauft wird, ohne dass sie selber davon etwas haben. Was treibt einen Schäfer dazu, sich von der Schäferei abzuwenden und das einträgliche Geschäft der Entführung von Menschen zu betrieben? Die Antwort lautet Geld, aber auch Land. Der Schäfer braucht Land für seine Schafe, und das Land ist im Besitz einiger weniger Familien, die es nicht hergeben wollen. Also betreibt der Schäfer eine Art Tauschhandel: Familienangehöriger gegen Land. Doch was ist, wenn der Schäfer nicht mehr das wertvolle Weideland im Landesinneren für seine menschliche Ware bekommt, sondern das für ihn wertlose Land am Meer. Das, wo seine Schafe keine Nahrung finden, und von dem sich in erster Linie Immobilienhaie ernähren können?
Und über diesem ganzen fragilen Konstrukt schweben immerzu zwei Zustände: Angst und Gewalt. Jeder, der aus einer besseren Familie kommt, hat Angst entführt zu werden. Die andern haben Angst in diese Geschichten hineingezogen zu werden. Oder plötzlich als Verräter dazustehen. Was zu Gewalt führt. Gewalt ist allgegenwärtig. Es muss auch gar keine Gewalt angewendet werden um Francesco dazu zu bringen, dass Christina aussteigt. Die Stimme. Die aus den Bergen ruft, reicht bereits, um ihm Angst zu machen. Die in der Wortwahl mitschwingende Gewalt ist gleich entsetzlicher Angst. Die Worte „
Lass die Frau aussteigen“ sagen ihm klar, was jetzt passieren wird. Und wie sein Schicksal sein wird.
In den Blicken, die sich Francesco und Christina zuwerfen, ist diese Angst deutlich zu spüren, genauso wie in den Blicken zwischen Gavino und seinem Vater. Ganz zu schweigen von den Bauern, die mit dieser Angst ununterbrochen leben müssen. Angst vor den Soldaten oder vor den Carabinieri. Angst vor der Zukunft. Angst vor allem Fremden. Regisseur Giancarlo Mingozzi gibt diesen Menschen viel Raum. Er zeigt ihre Gesichter, ihre ärmlichen Lebensumstände, er deutet ein klein wenig ihrer Kultur an und er zeigt immer wieder ihre Angst. Und wenn am Ende der Hintermann der Entführungen seiner mutmaßlichen Exekution entgegenfährt, dann wirkt dies auch nicht wie eine Befreiung von der Angst, sondern eher wie ihre Kulmination. Die Luft im Auto ist zum Schneiden dick, und jeder, aber auch wirklich jeder, hat Angst.
Angst braucht ein Ventil, und dieses Ventil heißt im Film genauso wie im wirklichen Leben Gewalt. Die „sanfte“ Gewalt der Männer gegenüber ihren Frauen, denen sie befehlen können wie sie gerade wollen, genauso wie die Gewalt gegenüber den Besserverdienenden, deren Reichtum umverteilt wird in die Hände klandestiner Organisationen. Gewalt heißt aber auch, dass, wenn ein Schäfer ein Schaf durch einen Unfall verliert, er sich woanders ein Schaf stiehlt. Und dafür ins Gefängnis kommt. Gewalt kann genauso ein Auto bedeuten, dass hinter einem herfährt. Oder Männer die dastehen und beobachten.
Der gebürtige Norditaliener Giancarlo Mingozzi schaut genau hin in diese für ihn fremde Welt, und er zieht den Zuschauer mit in eine spannende und entsetzlich abgründige Geschichte, die für einen Städter genauso wie für einen Mitteleuropäer auch auf dem Mond spielen könnte, so fremd und anders ist das was uns da gezeigt wird. Und bei aller Faszination, und vor allem bei aller Spannung die Mingozzi in seine Geschichte legt, das allmählich wachsende Grauen ist auch heute, mehr als 55 Jahre nach der Entstehung des Films, immer noch da, und schleicht sich langsam das Rückgrat des Zuschauers hinab. Und mit ein klein wenig Recherche im Internet wird auch schnell klar, dass das organisierte Verbrechen im Italien des 21. Jahrhunderts genauso funktioniert wie „damals“. Und die Gänsehaut wird umso größer.
DIE MAFIA-STORY ist großartiges, spannendes, anklagendes, kritisches und packendes Genrekino, wie es in dieser Schärfe und gleichzeitig mit diesem Unterhaltungswert heute nicht mehr gedreht wird.
8/10