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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Sa 3. Jul 2021, 05:04
von Maulwurf
Latex (Michael Ninn, 1995) 6/10

Malcolm ist in einer psychiatrischen Haftanstalt, denn er hat die Fähigkeit, bei Körperkontakt die sexuellen Phantasien seines Gegenübers zu visualisieren. In der Welt, in welcher Malcolm lebt, ein Verbrechen, denn diese düstere und dystopische Welt lässt Gefühle nicht zu. Malcolm kommt vor Gericht, aber da ist noch Kato, die keine Geheimnisse und keine Phantasien hat, sondern immer alles auslebt was in ihr ist, weswegen Kato seine einzige Vertraute ist. Kann Kato Malcolm retten?

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Kurze Werbeunterbrechung. Eine Frau werkelt in einer Küche, ein Mann betritt das kleine Ambiente. Alles ist klein und sichtlich als Fernsehkulisse gehalten.
- Meine Güte, Jane, das ist aber mal ein schickes Kleid das Du da an hast. Was ist das eigentlich für Material?
- Das ist Latex, Liebling.
- Latex? Du meinst … Gummi?
- Haha, genau! Gummi.
- Toll! Das steht Dir wirklich ausgezeichnet, Darling. Ich bekomme eine Erektion. Sieh doch mal …
- Ooh ja, wie groß er ist. Och komm, ich nehm ihn in den Mund.
- Ja, und gleich werden wir es tun! Hier auf dem Küchentisch, Sweetheart!
Und das alles in einem Tonfall wie in diesen 50er-Jahre-Fernsehwerbungen, in denen jedes Wort eine eigene und glücklich untermalte Betonung bekommt. Oder wie in PLEASANTVILLE …

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LATEX ist ein wunderbarer und meistens düsterer Bilderrausch. Ich habe den BLADE RUNNER erkannt, MAX HEADROOM ist geradezu omnipotent vertreten, METROPOLIS wird direkt zitiert genauso wie 1984, und die abschließende Fahrt durch die Nacht dürfte Roberto Rodriguez zu einer fast gleichen Szene in SIN CITY inspiriert haben. Schade nur, dass die Sexszenen bis kurz vor Schluss des Films eher brav gehalten sind, und optisch nicht ganz so viel hermachen wie die Hintergrundgeschichte. Sehr erotisch sind die Szenen, aber es wirkt oft so, als ob Michael Ninn sich nicht traute weiter zu gehen, seine eigenen Phantasien nicht zuzulassen. Erst am Ende, bei der Gerichtsverhandlung und Malcolms Befreiung, wird auch die Kamera endlich von ihren Fesseln befreit, und beginnt orgiastisch und entfesselt zu filmen. Die Schnitte werden immer schneller und immer intensiver, ohne dabei aber die Erotik zu vernachlässigen. Im Gegenteil ist das Schnittgewitter der Verhandlung sogar die sexy Apotheose des gesamten Films, und die entstehende Struktur betäubt und erregt den Zuschauer zugleich in hohem Maße. Ninn arbeitet mit Morphing, mit Überblendungen, mit Mehrfachbelichtungen, er setzt künstliche Hintergründe und künstliche Spielzeuge ein und generiert scheinbar mühelos eine Welt, in der natürliche Gefühle unterdrückt werden und Trieb und Phantasien nicht mehr zulässig sind. Wie aufregend wäre es gewesen, wenn Ninn in jener Zeit einen starken Drehbuchautoren gehabt und sich getraut hätte, in der Welt zwischen Spielfilm und Hardcore bei den Pionieren zu sein? Dystopische SF-Filme mit Hardcore-Elementen wären das Ergebnis gewesen … *träum*

Trotzdem, auch mehr als 25 Jahre nach seiner Entstehung ist LATEX immer noch eine hocherotische und düster-sinnliche Erfahrung mit viel sexy Style und vielleicht nicht so ganz so viel Substanz wie möglich gewesen wäre…

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Mo 5. Jul 2021, 05:43
von Maulwurf
Orgasmo (Umberto Lenzi, 1969) 7/10

Nach dem schrecklichen Unfalltod ihres Mannes reist die Amerikanerin Kathryn West für einige Zeit nach Italien, um dort auf dem Landsitz ihres Freundes, Vertrauten und Rechtsanwaltes Brian für einige Zeit auszuspannen. Kathryn sonnt sich am Pool, während Brian für sie in der Weltgeschichte herumreist und versucht, das Milliardenerbe ihres Mannes für sie zu organisieren. Schon kurz nach ihrer Ankunft drängt sich ein junger Mann auf, Peter Donovan, der all das hat, was sie nicht mehr hat, und Brian ebenfalls nicht: Jugend, Schwung, Sex, Hunger nach Leben. Kathryn verliebt sich in Peter, und als dieser seine Schwester Eva mitbringt, wird aus der Liebe schnell eine Menage à Trois. Doch als es Kathryn zuviel wird mit den beiden jungen Leuten, und sie die beiden kurzerhand aus der Villa rausschmeißt, erlebt sie ihr blaues Wunder: Die beiden kommen zurück, nisten sich dauerhaft ein, und demütigen Kathryn wo es nur geht. Erpressung? Nein, das ist eine Sache im ganz großen Stil, da steckt viel mehr dahinter. Und Kathryn scheint aus dem Whisky- und Drogenrausch überhaupt nicht mehr zu erwachen …

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Und wie sich dieser Rausch so ganz allmählich steigert, fast unmerklich zuerst, und man glaubt als Zuschauer ja doch noch lange an das Gute im Menschen, und dass Peter und Eva eigentlich nur Streuner sind auf der Suche nach einer luxuriösen Unterkunft und möglichst viel Sex. Aber ab einem bestimmten Punkt fallen die Masken, und die beiden entpuppen sich als Teufel in (attraktiver) Menschengestalt, die einem perfekt ausgeklügelten Plan folgen. Weder Kathryn noch der Zuschauer wissen wo die Reise hingeht, wenngleich der Zuschauer den Vorteil hat, dass er nach dem Genuss einiger Gialli das Ziel zumindest ziemlich gut erahnen kann.
Aber der Weg ist das Ziel, und dieser Weg ist gespickt mit alptraumhaften Szenen, mit psychedelischen Kameraeinstellungen, und mit einer wahrhaft diabolischen Stimmung. Gerade diese Stimmung, die nur so ganz langsam vom Luxuslotterleben in der feinen Villa umkippt zur fiesen Home Invasion, ist so fein austariert, dass man sich dem Bann der Bilder und der Geschichte irgendwann einfach nicht mehr entziehen kann. Nicht entziehen mag. Wie ein Sog zieht uns Kathryns Untergang an und entlässt uns in ein böses und hinterhältiges Showdown, unterlegt mit einer Musik wie sie süßer und bitterer kaum sein kann.

Trotz der, aus heutiger Sicht, leicht ausgetretenen Pfade, feinste Giallokost für Kenner und alle die es werden wollen.

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Mi 7. Jul 2021, 05:53
von Maulwurf
In a Valley of Violence (Ti West, 2016) 6/10

Ein Fremder kommt in eine Stadt. Der örtliche Großkotz legt sich mit ihm an und wird schwer gedemütigt. Das kann dieser natürlich nicht auf sich sitzen lassen und tötet den Hund des Fremden. Der Fremde kommt zurück und nimmt blutige Rache.

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So einfach kann eine gelungene Handlung beschrieben werden. Und mehr braucht es auch nicht! Sämtliche angerissenen Subplots und langweiligen Erklärungen sind überflüssig überflüssig überflüssig!! Es interessiert nicht, dass Tubby sich selbst nicht dick findet, und es interessiert auch nicht, dass der Fremde eine Indianerfrau und ihr Kind getötet hat. Abigail und ihr Kind sind für’n Arsch, genauso wie die schwangere Ellen. OK, die hat vielleicht noch eine Daseinsberechtigung, soll diese kurze Sequenz doch zeigen, was für ein Arschloch ihr Mann in Wirklichkeit ist. Bloß, wer das bis dahin selber noch nicht begriffen hat, dem ist auch nicht zu helfen. Und genau in diesen Momenten offenbart sich das Problem, das dieser eigentlich liebevoll und mit vielen Referenzen auf alte Western inszenierte Film hat: Er ist zu geschwätzig. Er ist sogar erheblich zu geschwätzig. Gerade die Sache mit der Schwangerschaft zeigt die Hilflosigkeit moderner Regisseure, mit Schauspielern umgehen zu müssen und stattdessen lieber auf die Kraft der endlosen Worte zu setzen. Bilder, Blicke, Mimik, Gestik – Alles Dinge, die in einem Film so viel ausmachen können. Aber nein, es wird geredet und geredet und geredet. Der Marshal, der zwischen dem Fremden und seinem eigenen Sohn steht, und beide haben die Waffen erhoben und zielen aufeinander, und damit auch auf den Marshal. Und was macht der Marshal? Genau: Er redet. Anstatt dass die Kamera in einer Dollyfahrt um die Charaktere kreist und deren ganz privates Höllenkarussell zeigt, bleibt der Kameramann am Boden, verlässt sich darauf dass der Schnitt seine eigene Phantasielosigkeit rettet, und vertraut auf die Macht der endlosen Laberei. Ein Gegenbeispiel wäre die Narbe an der Schläfe des Fremden – Diese gibt dem Charakter so viel Tiefe, so viel Geschichte, und zwar ganz ohne Worte. Es geht doch …

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Abgesehen von dieser Geschwätzigkeit ist IN A VALLEY OF VIOLENCE gut. Allein der, an FÜR EINE HANDVOLL DOLLAR angelehnte, Vorspann macht schon Laune, genauso wie viele schöne Kameraeinstellungen, die als Hommagen an die Klassiker des Genres zu verstehen sind, von 12 UHR MITTAGS bis ERBARMUNGSLOS. Und genauso wie der erstklassige Score, der geschickt auf die Musik Ennio Morricones referenziert, ohne diese zu kopieren. Als Western taugt der Film sehr viel, gerade auch wegen seiner rudimentären Handlung, und recht stimmungsvoll ist er auch. Wenn da nur nicht so viel überflüssiges Gefasel wäre …

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Fr 9. Jul 2021, 05:51
von Maulwurf
4 Halleluja für Dynamit-Joe (Antonio Margheriti, 1967) 5/10

Joe Fox hat einen schweren Hang zu den drei großen Ds: Dollars, Damen und Dynamit. Dollars verdient er damit, dass er als Spezialagent für die Regierung unterwegs ist, dabei kann er dann Dynamit einsetzen und währenddessen Damen vernaschen. James Bond im Wilden Westen? Hm, eher Agent 077 in Almería, und in dieser Eigenschaft muss er im Auftrag eines Senators dafür sorgen, dass die großen Goldtransporte in Arizona nicht dauernd von Räubern geklaut werden. Sein Plan ist ein ganz einfacher: Er lässt aus dem Gold eine Postkutsche gießen und diese dann anmalen. Sein Buddy Buddel, der so heißt weil er, wer hätte es gedacht, an keiner Whiskyflasche vorbeigehen kann, darf das Ding dann fahren, und er selber wirft das Dynamit auf die hinterherreitenden Bösewichter. Zumindest stellt Joe sich das so vor, aber in Wirklichkeit ist das alles dann nicht nur etwas anders im Ablauf, sondern vor allem auch erheblich anstrengender. Insbesondere für den Zuschauer.

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Denn der kann höchstens anhand des achsolustigen deutschen Titels im Vorfeld erahnen, dass „Joe der Unerbittliche“ (wie der Originaltitel lautet) alles andere als ein harter Italo-Western ist. Antonio Margheriti hat mit SATAN DER RACHE und mit FÜNF BLUTIGE STRICKE zwei herausragende und knallharte Western gedreht, da sollte man doch meinen dass er das auch kann.

Kann er auch, allerdings muss man da die Reihenfolge der Drehs beachten, und da kam DYNAMIT-JOE eindeutig zuerst, kann also eher als ein Hineintasten Margheritis in das ihm fremde Genre des Western verstanden werden. Vielleicht mag das auch ein Grund sein, dass der Film zwar prinzipiell ein Western ist, inhaltlich aber einem ganz anderen Genre angehört.
Denn in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts gab es neben dem Italo-Western noch ein anderes Genre, das in dieser Zeit die Lichtspielhäuser rockte: Den, auf den Spuren von James Bond wandelnden, Eurospy. Smarte und männliche Männer im Einsatz für Volk und Vaterland, immer mit entsicherten Fäusten, Pistole und Schniedelwutz vorwiegend in Europa und Nahost unterwegs, die freie Welt zu retten. Und genauso so ist DYNAMIT-JOE auch zu verstehen. Hat Joe in der Eröffnungssequenz zwar noch den Poncho aus der Asservatenkammer von Clint Eastwood an, so zieht er sich dann aber spätestens zur Titelmelodie um und läuft den Rest des Films im feinen Zwirn umher. Was ihm auch zugegeben recht gut steht. Der Mann schaut gut aus, hat einen gewissen Charme, und wickelt die Mädels alle nur so um den kleinen Finger, insofern es der Arbeit dient.

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Der allgemeine Ton ist dabei eher derjenige der dann in den frühen 70ern in den Westernkomödien vorherrschte. So etwa im Stil von Mario Bavas DREI HALUNKEN UND EIN HALLELUJA – Ein bisschen Komödie, viel Action, ein wenig Western-Atmosphäre, aber eine Mischung aus diesen drei Zutaten, die irgendwie recht eigen schmeckt, und aus heutiger Sicht eine hohe Affinität sowohl zu Western, wie auch zu Komödien UND zu Eurospy voraussetzt.

Die Schwierigkeiten fangen dann an, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Eurospy zwar einiges an tollen und flotten Agentenabenteuern im Gepäck hatte, aber eben auch aus einer Menge Rohrkrepieren bestand. Und auch wenn DYNAMIT-JOE einigermaßen unterhält, mehr als einigermaßen ist es irgendwie nicht. Härte und Stimmung eines „klassischen“ Italo-Westerns gehen ihm ab, und Eleganz und Gewitztheit eines Eurospy passen nur bedingt in das Setting aus herabgekommener Kleinstadt und staubiger Wüste. Die Witze sind ungeheuer witzig (Vorsicht: Ironie), und eine Spannungskurve findet gleich gar nicht statt. Inhaltlich passt das Ganze aus heutiger Sicht eher in das Kinderprogramm, wobei sich die Kleinen dann wahrscheinlich eher wundern ob der unschuldigen und hanebüchenen Story und der harmlosen Umsetzung. Dass Joe aus jeder noch so gefährlich aussehenden Situation herauskommt, ohne dass sein Stutzeranzug auch nur eine Blessur davonträgt, ist im Prinzip sehr schnell abzusehen und wird damit auch schnell langweilig. Der Film rutscht damit auch schnell in Richtung Komödie, wo so ein Setting ja auch in Ordnung ist, ohne dabei aber dummerweise irgendwie besonders lustig oder gar komödiantisch zu sein. Die Ironie und Leichtigkeit eines, sagen wir, IN MEINER WUT WIEG ICH VIER ZENTNER geht ihm dabei völlig ab, und ich glaube, dass ist auch das Problem: Dass DYNAMIT-JOE sich selber ernst nimmt, obwohl er doch eigentlich nur leichtfüßige 95 Minuten bieten möchte, und dass dieser Spagat einfach nicht gelingt.

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Westernkomödien sind sowieso immer eine rechte Ansichts- und Geschmackssache, und da macht DYNAMIT-JOE keine Ausnahme. Wer auf sowas steht dürfte hier seine helle Freude haben, und wird meine skeptischen Worte überhaupt nicht nachvollziehen können. Das gleiche gilt für Freunde des heiteren Agentenfilms, aber alle anderen seien darauf hingewiesen, dass unter den Zigtausenden von ungesehenen Filmen da draußen deutlich lohnendere sind …

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: So 11. Jul 2021, 06:59
von Maulwurf
Lady Vengeance (Park Chan-wook, 2005) 7/10

Die Poesie des Massakers. Die Verträumtheit des Blutbades. Rache als Lebenszweck. Eine grundsätzliche Abwägung darüber was schwerer wiegt: Schuld? Oder Sühne? Eine Rache, die über 13 Jahre geplant wurde. 13 Jahre, in denen Frau Geum-ja im Gefängnis saß, verurteilt für den Mord an einem fünfjährigen Jungen, den sie nicht begangen hat. Ihre Rache am tatsächlichen Mörder ist extrem und rücksichtslos, aber mit westlichen Vorstellungen von Rache, irgendwo zwischen Django und den Klingonen, in keinster Weise übereinstimmend.

Man stelle sich vor: 9 Eltern, deren Kinder von einem Mann ermordet und verscharrt wurden. 9 Eltern, die an einem abgelegenen Ort die Möglichkeit haben, diesem Mann gegenüber zu treten. Die Eltern haben Messer und Äxte, der Mann ist gefesselt. Und keiner hört ihn schreien …

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Das Kunststück von Park Chan-wook ist es, diese Rache in Bildern darzustellen, die zum Niederknien schön sind. Die wie Kunstwerke aussehen, wie Tableaus eines großen Künstlers. Stillleben des Sterbens, im Portrait festgehalten vom Meister des Schmerzes. Bei diesen eindrücklichen Bildern fühle ich mich oft an Lucio Fulci erinnert, der das gleiche bildliche Gespür hatte für die Schönheit im Grauen, und für das Unvergängliche im Vergänglichen. Und wir reden hier nicht von einem Torture Porn, der das Hirn mit einem Übermaß an Ekel und Stumpfsinn überfluten will! Tatsächlich ist das zentrale Motiv in LADY VENGEANCE die Frage nach der Schuld, nicht die Antwort auf den Schmerz. Gore-Bauern werden sich enttäuscht abwenden, können sie die erwarteten und aus dem Vorgängerfilm OLDBOY auch bekannten Blutbäder hier doch so gar nicht sehen. Park Chan-wook verweigert sich dem Voyeurismus und legt die Blutfontänen zwischen die Einstellungen. Der Zuschauer sieht das Ergebnis, er sieht den Schmerz im Blick des Opfers (und auch im Blick des Rächenden!), aber nicht das Zufügen des Schmerzes. Unterlegt von barockem Gesang, der eine Reinheit und Unschuld evoziert, die sich den Charakteren auf geradezu unheimliche Art und Weise entzieht, wirkt der Film fast wie ein mittelalterliches Ornament. Verästelungen, Ranken, Blumen, Girlanden, und jedes einzelne Dekor entspricht einer einzelnen Handlung, einem Nebenplot, einem Charakter. Wie ein gigantisches Wimmelbild ergibt sich über Personen und Fantasmen, über Verschiebungen von Zeit und Raum, ein assoziatives Puzzle, ein pointilistisches Kunstwerk, dessen Gesamtbild erst nach und nach sichtbar wird. Und welches dann, wenn das Portrait dieser Kunst in ihrer Ganzheit sichtbar wird, vor Schönheit und Schmerz überwältigt.

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Di 13. Jul 2021, 05:58
von Maulwurf
Les emmerdeuses (Jess Franco, 1976) 7/10

Tina und Pina sind zwei hübsche, junge und sehr freie Mädchen, die in Nachtclubs auftreten und ansonsten vorzugsweise Liebe miteinander machen. Mittlerweile arbeiten sie für Interpol. Warum? Weil sie zwei Gaunern Diamanten abgenommen haben, die eigentlich dem fetten Radeck gehören, und dann Radeck die Dinger zurückverkaufen wollten. Allerdings ist Radeck nicht nur fett sondern auch ein Gangster, der den beiden einen Killer auf den Hals gejagt hat. Richtiger: Die Killerin Lola, die Tina in Hypnose versetzte und ihr suggerierte, dass sie Lolas Sklavin sei. Doch Pina konnte, in einen goldenen Pantheranzug gekleidet und mit einer Karnevalsmaske versehen, Tina noch einmal retten. Aber die Situation spitzte sich zu, als nicht nur Interpol und Radeck, sondern auch noch ein Versicherungsagent auf den Plan trat …

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Stephen Thrower schreibt in Murderous passions Volume one: „LES GRANDES EMMERDEUSES is an almost indescribable oddity that has to be seen to be believed. It’s one of those loose, playful films in which you are invited to watch Franco and his cast simply daydream a movie into existence [..]. We see Jess and Lina Romay and a few regular compadrés [..] wandering between hotel rooms and seaside locations in the middle oft he swinging seventies, fucking and chatting and fooling around[..]. Narrative trops derived from crime and espionage potboilers jostle with softcore and horror, conveyed with freewheeling surrrealism.“

Eine perfekte Beschreibung! Lina Romay und Pamela Stanford haben kaum jemals Kleidung an, und wenn dann nur, um sie umgehend auszuziehen und sich genüsslich in die Kamera hinein zu räkeln. Und gelegentlich auch mit dem Zuschauer zu sprechen. Die Handlung springt zwischen den Versatzstücken verschiedenster Genres hin und her und ergibt nicht wirklich Sinn, will sie aber auch gar nicht. Es geht vielmehr darum, sich zurückzulehnen, und einen warmen Sommerabend in den 70ern an der portugiesischen Küste einzuatmen. Unterlegt von einer wunderbaren Mischung aus Prog-Rock und rockigem Jazz und in warmen Gelb- und Rottönen gemalt haben wir ein Glas Champagner in der Hand, Lina und Pamela als Begleitung, und driften durch ein Universum der Unmöglichkeiten, möglich gemacht durch die Kraft des Zelluloids und einen Filmverrückten, der allem Anschein nach eine Kamera hingestellt hat und sagte „Nun macht einfach mal“. Die Killerin Lola, die bei ihrem ersten Auftritt in die Kamera schaut und „Hello Sweetheart“ haucht. Monica Swinn als Lesbe, die einen Diamanten in ihrem Strap-on versteckt. Eine schattenhafte Folterung Linas mit einem Lockenstab vor einem hinreißenden Sonnenuntergang. Das Monster von Durandstein, das Lina vergewaltigen soll, und stattdessen von ihr zu Schanden geritten wird …

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Schön, beruhigend, antörnend, …

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Do 15. Jul 2021, 06:09
von Maulwurf
Bohr weiter, Kumpel! (Sigi Rothemund, 1974) 8/10

Die Kumpels arbeiten zusammen unter Tage, nach Feierabend saufen sie gemeinsam in der Kneipe, und vor allem sind sie seit fünf Jahren eine Lotto-Tippgemeinschaft. Und jetzt, jetzt ist es endlich soweit: 5 Richtige mit Zusatzzahl! 33.500 Mark für jeden!! Und Erwin, der auf der Lottoannahmestelle war – weiß nicht mehr, wo der Schein ist ...
Erwin der Unglücksrabe traut sich nicht sein Pech zu erzählen, derweil die Kumpels sich vom Wucherer, dem dicken Noppeney, schon mal jeder 5000 Mark leihen und munter anfangen das Geld auszugeben. Weil aber, was natürlich keiner wissen darf, Erwins Ernaspatz bei der Wirtin Käthe ein paar Mal die Beine breitmacht, und deswegen eine Menge Geld reinkommt, dadurch bekommen die Freunde den Verdacht, dass der Erwin sie gelinkt hat, und die Kohlen für sich behalten will. Ein Teufelskreis …

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Das waren die wirklichen 70er-Jahre: Nix mit J&B, Designerklamotten und stylischen Wohnungseinrichtungen. Stattdessen harte Maloche, knallharter Sex, geschmacklose Tapeten, noch geschmacklosere Schlagermusik und die Suche nach dem großen (Lotto-) Glück. Dazu versmogte Städte und ein Ford Granada als das Größte was es nur gibt. BOHR WEITER, KUMPEL ist eine supersympathische Komödie, die sich nur um zwei Dinge dreht: Ums Bumsen und um die Jagd nach dem verschwundenen Lottoschein. Was anderes hat es hier nicht, und diese beiden Themen reichen locker, um 87 Minuten komplett und ausgesprochen zufriedenstellend zu füllen. Die einfachen Malocher vom Tagebau, ihre Frauen die Zuhause sitzen und drauf warten dass die Männer endlich aus der Kneipe kommen und dann auch noch Lust haben sollen auf Sex, die Jugendlichen, die sich ineinander verlieben aber keinen Platz haben um mal so richtig kuscheln zu können … Alle werden sie mit ihren Stärken und Schwächen gezeigt, der Film macht sie nie lustig über die Charaktere, und man würde mit jedem von den Kumpels in die Kneipe und mit jeder der Frauen ins Bett gehen wollen, so menschlich (und im Falle der Frauen auch sexy) kommen sie rüber.

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Die Geschichte selber, mit all ihren Nebenhandlungen und sympathisch gezeichneten Figuren, ist dabei nicht nur sexy, sondern auch ziemlich lustig, und macht auch heute noch richtig Spaß. Der Kleiderschrank der zu dem schwulen Pärchen gehievt wird (und in dem sich ein nacktes Hetero-Pärchen versteckt), oder die Geschichte um den Wucherer Noppeney, seinen Seitensprung, und das junge Pärchen Oskar und Heike, die sich aus Versehen alle in Noppeneys Liebesnest treffen, und was Oskar aus diesem Treffen alles an Vorteilen für sich und seine geliebte Heike rausholt, das ist lustig. Witzig. Urkomisch. Die Episödchen sind nicht ausgewalzt sondern genau auf den Punkt gebracht und werden genau an der Stelle beendet, an der der Spaß am Größten ist. Der ein oder andere Witz mag deutlich 50 Jahre alt sein, aber im Großen und Ganzen funktioniert diese nostalgisch anmutende Situationskomik auch heute noch einwandfrei. Genauso wie das arschgefickte Suppenhuhn …

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Sa 17. Jul 2021, 06:40
von Maulwurf
Blood Creature ( Gerardo de Leon, 1959) 6/10

Der schiffbrüchige Fitzgerald kommt auf die Insel des Dr. Moreau, nein, Verzeihung: Dr. Girard, der medizinisch-anatomische Experimente an Tieren durchführt. Girard will der Evolution auf die Sprünge helfen und einem Tier ein menschliches Bewusstsein geben. Seine Frau lebt derweil neben ihm her und möchte so gerne wieder zurück in die menschliche Gesellschaft, während Assistent Walter ein Ausbund an Komplexen, Ängsten und Aggressionen ist. Fitzgerald ist fasziniert von Girards Arbeit und beginnt ebenfalls zu assistieren, allerdings macht der fette und saufende Walter zunehmend eine Metamorphose zum Arschloch durch: Er beginnt, den Patienten Girards zu misshandeln, was dieser mit zunehmender Angriffslust beantwortet.

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Das Wort „Patient“ verwende ich, weil wir hier nicht von einem Tier reden, aber auch noch nicht von einem fix und fertigen Menschen. Die Wildheit und der Instinkt des Tieres, zusammen mit der erwachenden Intelligenz eines Menschen formen ein Lebewesen, mit dem der Zuschauer schnell Mitleid hat, und dessen störungsfreie Entwicklung sicher interessant geworden wäre. Kein Wunder, dass der ruhige und überlegt handelnde Fitzgerald keinerlei hysterische Reaktionen an den Tag legt, und damit schnell zum Sympathieträger wird. Auch ist Dr. Girard nicht der Mad Scientist aus der Klischeeschublade, sondern vielmehr ein sympathischer und rational denkender Wissenschaftler, und Gattin Francis stellt zudem eine sehr sexy Zugabe zu einem Leben auf einer Insel dar. Immerhin war Darstellerin Greta Thyssen mal Miss Dänemark, und hat unter anderem als Double für Marilyn Monroe gearbeitet.
Es regiert halt nicht der Creature Feature-Wahnsinn in diesem eigentlich billigen kleinen Filmchen, stattdessen sind Ruhe und Verstand die vorherrschenden Merkmale, aus denen eine starke Spannung und eine geradezu spürbare Kraft strömen. Trotz einer zunehmend düsterer und unangenehmer werdenden Stimmung herrscht doch eine gewisse Ruhe und Ausgeglichenheit vor, und umso verstörender erscheinen dann die gewalttätigen Ausbrüche der Kreatur, vor allem aber die Aggressionen Walters, der eigentlichen bösen Kreatur der Erzählung. Eine spannende Mixtur, die den 08/15-Monsterfilm deutlich hinter sich lässt und zwischen Thriller und philosophischen Anwandlungen immer noch Zeit findet eine spannende und nebenbei auch interessante Geschichte zu erzählen.

Zusammen mit den schönen Bildern und den gut aufspielenden Darstellern ist BLOOD CREATURE deutlich mehr als der übliche Horrorschlock vom Fließband und auf jeden Fall hübsch anzuschauen.

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Nicht hübsch anzuschauen ist die britische DVD von Quantum Leap unter dem Titel DRIPPING BLOOD, die auch den wunderbaren Paolo Heusch Wallace-Gothic-Grusler WEREWOLF IN A GIRLS DORMITORY enthält. Ausnahmsweise also an dieser Stelle mal eine echte Warnung vor dieser Veröffentlichung: Das Bild ist mies und dunkel, und von dem allenthalben gelobten Makeup der Kreatur ist hier rein gar nichts zu sehen. Der Ton ist ungefähr 17 Minuten lang asynchron, was sich so äußert, dass er etwa 7 Minuten(!) voraus ist. Einer der Höhepunkte, der Kampf im Operationsraum, fällt hier ersatzlos einem mutmaßlichen Filmriss zum Opfer, nur die daraus resultierenden Konsequenzen werden hinterher im Dialog kurz erwähnt. Lasst bloß die Hände von dieser DVD! Schlimmer geht’s nimmer …

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Mo 19. Jul 2021, 06:41
von Maulwurf
Die Monster AG (Pete Doctor & David Silverman & Lee Unkrich, 2001) 8/10

Einer der Klassiker des modernen Kinderfilms. Warum? Weil er kindliche Ängste aufgreift, sie ernst nimmt und in ihr Gegenteil verkehrt, und darüber hinaus eine perfekte und spannende Unterhaltung bietet: In der Firma Monster AG, angesiedelt in Monstropolis, bekommen die Monster Türen in Kinderzimmer vorgesetzt, und ihre Aufgabe besteht darin, Kinder zu erschrecken. Aber sie dürfen niemals angefasst werden, denn die Berührung durch ein Kind soll tödlich sein. Was dazu führt, dass die Monster vor den Kindern mindestens genauso viel Angst haben, wie die Kinder vor den Monstern. Na ja, und der sehr erfolgreiche Schrecker Sully hat dann ganz plötzlich ein kleines Gör an sich hängen, was das Ende seiner Karriere bedeuten würde, wenn das jemand mitbekäme. Das Kind muss um jeden Preis wieder zurück in seine eigene Welt, will es aber nicht – Der knuddelige Bär mit dem flauschigen Fell ist ein prima Gefährte, der sich auch ziemlich schnell in den kleinen Menschen verliebt. Dadurch allerdings zieht er die Neugier seines Konkurrenten Randall auf sich, und die Pläne Randalls sind sehr finster und sehr böse …

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Eigentlich wollte ich mit dem Jim Morrison zugeschriebenen, Zitat „There Are Things Known, and Things Unknown, and In Between Are the Doors“ starten, aber irgendwie ist das dann doch ein wenig zu Ernst für diesen Megaspaß. Auf jeden Fall ist es unglaublich, was hier aus dem Sujet Tür alles herausgeholt wird. Hinter jeder Tür ist ein anderer Ort, und man kann die Türen wechseln wie die Unterwäsche (oder im Falle Randalls die Hautfarbe), das ist einfach nur traumhaft. Vor allem während der an INDIANA JONES UND DER TEMPEL DES TODES erinnernden Verfolgungsjagd, wo es ziemlich wild quer durch den Raum geht. Also Raum im Sinne von Dimensionen, Sprüngen und ziemlich chaotischem Chaos. Wenn ihr wisst was ich meine.

Ich weiß einfach nicht so recht was ich schreiben soll. Meine bevorzugten Genres sind Krimis und Thriller, ich liebe düstere Filme, je schwarz desto besser, und Komödien sind mir bis auf wenige Ausnahmen ein Graus, mit Kinderfilmen fange ich gar nicht erst an. Aber die MONSTER AG ist einfach scheiße lustig und unsagbar komisch und man kann die ganze Zeit lachen und Spaß haben und …

Anschauen!!!

8/10

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Mi 21. Jul 2021, 04:05
von Maulwurf
Verleugnung (Mick Jackson, 2016) 7/10

Die amerikanische Geschichtsprofessorin Deborah Lipstadt greift den britischen Historiker und Holocaust-Leugner David Irving frontal an und bezeichnet ihn als Rassisten, Antisemiten und Lügner. Irving verklagt Lipstadt daraufhin – Und zwar vor einem britischen Gericht. Durch die Besonderheiten des britischen Rechtssystems kommt die Jüdin Lipstadt dadurch in die Situation, nachweisen zu müssen, dass der Holocaust tatsächlich stattgefunden hat …

Gewinnen ist ein Akt der Selbstverleugnung.

Es ist ein seltsames und sehr zwiespältiges Gefühl, das VERLEUGNUNG hinterlässt. Auf der einen Seite ist das alles recht packend inszeniert, und der Prozess hat ja so ähnlich in den Jahren 1996 bis 2000 tatsächlich stattgefunden. Das Ergebnis ist, wenn man sich für so etwas interessiert, mehr oder weniger bekannt, und es ist ausgesprochen spannend zu sehen, wie es zu diesem Urteil kam. Welche Tricks Anklage und Verteidigung im Hintergrund anwandten um die Gegenpartei auszumanövrieren, welche Fallstricke ausgelegt wurden, und welche Entscheidungen getroffen wurden. So entschied zum Beispiel der britische Anwalt von Deborah Lipstadt, Überlebende des Holocausts nicht aussagen zu lassen, damit Irving sie nicht auseinandernehmen kann, sie nicht demütigen kann („Wieviel Geld haben Sie in ihrem Leben mit dieser Tätowierung verdient?“).

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Auf der anderen Seite ist das ganze filmisch vielleicht nicht so ganz perfekt gelöst. Soll heißen, dass das Pathos immer an den vorhergesehenen Stellen eingesetzt wird, dass die Tränen immer in den Momenten kommen an denen sie erwartet werden, und dass die gesamte emotionale Seite einfach sehr klischeebeladen wirkt. Oder anders ausgedrückt: VERLEUGNUNG hat viel mit Gefühlsduseligkeit zu tun. Das klassische Gerichtsdrama besteht in der Regel aus geschliffenen und boshaften Rededuellen, in welchen die logischen Argumente nur so durch die Gegend fliegen, und womit, in den Händen eines guten Regisseurs, sehr wohl Hochspannung erzeugt werden kann. Doch diese Art Drama spielt hier leider nur eine Nebenrolle. Möglicherweise um die menschliche Seite lebendiger werden zu lassen, oder auch um der Darstellung David Irvings, und damit einer möglichen Popularisierung eines Holocaustleugners, nicht zu viel Raum zu geben. Aber rein formal gesehen ist eine der mit Abstand spannendsten Stellen diejenige, als ein Historiker die Behauptungen Irvings argumentativ(!) widerlegen kann. Und ebenso sind diejenigen Szenen, in denen die sehr emotionale Deborah Lipstadt sich gegen den kühlen logischen Ansatz ihrer eigenen Anwälte wehrt, die Szenen die am unangenehmsten ausfallen, und den Zuschauer auch durchaus ein gutes Stück gegen die weibliche Hauptrolle einnehmen.

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Wie gesagt hinterlässt der Film ein zwiespältiges Gefühl. Während der Sichtung war ich oft genervt ob dieser unnötigen Emotionalisierung, aber hinterher stellte sich doch das Gefühl ein, einen guten Film gesehen zu haben. Ich glaube, es sind einfach die unglaublich starken schauspielerischen Leistungen, die tatsächlich ein kleines Stückchen jüngerer Geschichte so lebendig machen, dass man das Gefühl hat dabei zu gewesen zu sein. Was ja dann doch wieder ein Punkt für diese Art der Inszenierung ist …