Anfang der 70er hat der italienische Regisseur Sergio Martino, der zuvor, wenn überhaupt, einzig durch drittklassige Mondo-Filme wie AMERICA COSÌ NUDA, COSÌ VIOLENTA (1970) und einen Western namens ARIZONA SI SCATENO…E LI FECE FUORI TUTTI aufgefallen war, eine Reihe von Gialli gedreht, die heute zurecht zu den großen Klassikern und Meilensteinen des Genres gezählt werden dürfen. Gerade seine ersten beiden, nach einem ähnlichen Rezept entstandenen Gelblinge, LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH und LA CODA DELLO SCORPIONE, beide von 1971, liefern, meine ich, so etwas wie Giallo-Prototypen. In zwei späteren Werken, einmal IL TUO VIZIO É UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE (1972) und dann noch I CORPI PRESENTANO TRACCE DI VIOLENZA CARNALE (1973), variiert Martino zwar sein Grundmuster, dennoch fügen sich die beiden Filme problemlos in das Genre, aus dem sie den Großteil ihrer Inspiration gezogen haben. Alle diese vier Werke nämlich haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Sie folgen klassischen Genre-Konventionen: ein oder mehrere unbekannte Killer, vorzugsweise mit schwarzen Handschuhen und phallischen Mordwerkzeugen, stechen sich auf oftmals irrationale Weise durch den Cast bis bei ihrer Enttarnung im Finale die Ordnung der Welt wiederhergestellt wird und alles sich vermeintlich logisch zusammenfügt. Sie adaptieren Stilmittel des Experimentalkinos für den Spielfilm: ungewöhnliche Kameraperspektiven oder Kamerafahrten, hypnotische Soundtracks, zumeist von Bruno Nicolai, realitätsverzerrende Farbspielereien oder das virtuose Hantieren mit Soundeffekten, das alles wird in den Dienst einer Handlung gestellt, in der – auf den ersten Blick zumindest – klar benennbare Figuren klar benennbare Dinge für einen klar benennbaren Zweck tun. Andererseits setzen sie mit genretypischer Ambivalenz letztlich nicht so sehr darauf, dass besagte Handlung zu jedem Zeitpunkt schlüssig und nachvollziehbar bleibt, sondern gestehen ihren Effekten eine Eigenexistenz zu, die die reine Geschichte oftmals überlagert, sodass letztere fast schon unwichtig wird: gerade die Mordszenen im Giallo sind Paradebeispiele für diesen bewussten Zwiespalt zwischen einem Mindestmaß an Spielfilmhandlung und einem Höchstmaß an reiner Atmosphäre.
Abb.1: Edwige Fenech vor dem Spiegel. Die Nachricht, geschrieben scheinbar mit rotem Lippenstift, stammt von ihrem Ehemann. Entsetzt betrachtet sie die Worte, die im Grunde bloß mitteilen, dass er sie nicht habe wecken wollen und die Wohnung deshalb in aller Stille verlassen habe. Dann versucht sie sie in einem spontanen Anfall von Panik, vom Glas zu wischen. Deutlicher hätte Martino seinen Film rein bildkompositorisch kaum auf den Punkt bringen können. In TUTTI COLORI DEL BUIO zeigen Spiegel nicht, was sie sonst zeigen. Die Reflexionen sind verstellt von Botschaften anderer Kontexte, anderer Materialität, anderer Couleur. Fenechs Bemühen, den Spiegel freizukratzen, verläuft im Sande. Sie kann nicht mal durch den Spiegel hindurchgehen. TUTTO COLORI DEL BUIO bebildert eine Welt, in der man gefangen ist wie in einem Kabinett aus Alpträumen.
TUTTI I COLORI DEL BUIO fällt bei einer rein oberflächlichen Betrachtung zwischen den oben genannten Filmen Martinos zunächst überhaupt nicht aus dem Rahmen. George Hilton, Ivan Rassimov und, allen voran, seine Schwägerin Edwige Fenech, das alles sind Schauspieler, mit denen Martino schon zuvor ausgiebig zusammengearbeitet hat. Erneut steuert Bruno Nicolai einen Soundtrack bei, für den man ihn einfach nur herzen möchte. Erneut ist das Drehbuch angefüllt mit einer Geschichte, die eher die düsteren Seiten der menschlichen Existenz betrifft. Erneut erzählt Martino diese Geschichte nicht auf herkömmliche Weise, sondern zerbricht sie regelrecht, indem er sich visuell den derangierten Geisteszuständen seiner Heldin anpasst: die Kamera darf nicht nur mal kopfüber stehen, sie muss es sogar, und es ist nur bezeichnend, dass der Film mit einer der, wie ich finde, großartigsten Szenen beginnt, die Martino jemals gedreht hat, eine bizarre Sequenz, die auf mich so wirkt, als habe man sich lose an den Traumlandschaften orientiert, die von Salvador Dalí für den Hitchcock-Thriller SPELLBOUND entworfen worden sind, sie dann jedoch weit über die Grenzen des Grotesken hinaus überhöht. Ein Auto, das gegen einen Baum fährt. Eine Schwangere auf einer Metallliege. Ein zustechendes Messer. Eine alte Frau, angetan wie eine Puppe, die zu Boden stürzt. Zuvor hat Martino uns, während des Vorspanns, von einer statischen Kamera ein ziemlich unheimliches Seeufer zeigen lassen wie es Stück für Stück von der Dunkelheit verschluckt wird. Was genau es nun aber mit diesem Traum auf sich hat, erklärt der folgende Film uns höchstens ein bisschen. Zunächst scheint sich noch alles plausibel ineinanderzufügen – so plausibel jedenfalls wie man das von einem Genre erwarten darf, das dann doch immer wieder keinen Hehl daraus macht, Freud oder Jung lediglich aus zweiter Hand zu kennen und nicht im Original gelesen zu haben.
Abb.2: Diese Bildkompositionen möchte man küssen! Martino filmt aus einem Kamera heraus, der sich im Betrieb befindet. Wie zwei Säulen züngeln die Flammen links und rechts. Zwischen ihnen: die unvermeidliche Jim-Beam-Flasche. Noch weiter dahinter: Edwige Fenech in Rückenansicht. Interessanterweise stehen sich links und rechts im Bild zwei Medien beinahe wie zwei feindselige Kontrahenten gegenüber: zum einen ein Schrank voller Bücher, zum andern ein höchstmodischer Fernsehapparat, in dessen Bildschirm sich wiederum - das sehen wir nicht, können wir uns aber denken - der Bücherschrank widerspiegelt.
Unsere Heldin, Jane Harrison, gespielt von Edwige Fenech – das erfahren wir in den ersten normalen Minuten nach diesem Sturm an verstörenden Bildern -, hat bei einem Autounfall, den wiederum ihr Gatte, Richard Stelle, verursachte, ihr ungeborenes Kind verloren und leidet seitdem unter schrecklichen Alpträumen. Im Bett funktioniert es zwischen den Eheleuten seit dem tragischen Ereignis ebenfalls nicht mehr. Unterschwellig scheint sie ihrem Mann den Tod des gemeinsamen Nachwuchses vorzuwerfen, zugleich steht sie allerdings offensichtlich unter seiner Fuchtel. Ihre Schwester, Barbara, schlägt ihr zu Beginn des Films nicht zum ersten Mal vor, doch endlich einmal ihren Psychoanalytiker, Dr. Burton, aufzusuchen: der könne ihr mit Sicherheit weiterhelfen. Richard ist davon, ebenfalls nicht zum ersten Mal, wenig begeistert. Bevor er, der gefragte Geschäftsmann, bei dem jeder Tag so vollgestopft mit Terminen ist, dass Janet ihre Zeit allein im schicken Londoner Appartement totschlagen muss, sich einmal mehr aus der Affäre zieht, um irgendwelche wichtigen Kunden zu treffen, hält er ihr eine flammende Rede gegen die Psychoanalyse: alle diese Ärzte vom Schlage eines Dr. Burton würden doch, sinngemäß, immerzu ihren Freud wiederkäuen und ausspeien, auf einen grünen Zweig komme man mit ihnen auf keinen Fall. Erfolg hat er bei der zunehmenden verzweifelten und unter ihrer Situationen leidenden Jane mit solchen Polemiken nicht: sie nutzt seine Abwesenheit, um Dr. Burton in seiner Praxis aufzusuchen und ihn in alles einzuweihen, was sie belastet. Der Tod ihres Kindes. Der Tod ihrer Mutter, die einst von einem unbekannten Killer erstochen worden ist. Der fehlende Sex. Schon an diesen ersten Minuten, wie ich sie oben skizziert habe, fällt zweierlei auf. Zum einen schwelgt Martino regelrecht darin, Janes Kindheits- und Erwachsenentraumata in für die frühen 70er absolut avantgardistische Bilder zu kleiden, und damit, prinzipiell, an die generelle visuelle Decodierbarkeit von Träumen glauben zu lassen: alles, was Jane im Schlaf begegnet, hat seine Entsprechung in ihrer unmittelbaren Gegenwart oder ihrer Vergangenheit. Zum andern lässt Martino George Hiltons Rolle einen regelrechten Abgesang auf jegliche Methoden into-nieren, mit denen die moderne Wissenschaft versucht, noch die finstersten Ecken unserer Psychen zu beleuchten. Was denn nun?
Abb.3: Als würde Martino das Kino in seine Frühzeit zurückführen wollen! Georges Méliès, der Zauberer, der den Film seine ersten magischen Schritte lehrte, scheint gerade bei der TUTTO I COLORI DEL BUIO eröffnenden Traumszene Taufpate gewesen zu sein. In Fehlfarben folgen wir beispielweise der Kamera, die identisch mit einem Auto ist, eine Landstraße entlang. Verwaschen-weiß ziehen die Bäume seitlich vorbei, der Himmel thront schwarz wie der Tod. Statt eines Fahrzeugs schwebt indess ein Bett auf der Fahrbahn, ganz unverhohlen in die Fahrtaufnahme hineinkopiert, denn es kommt von links ins Bild, bewegt sich unnatürlich hin und her, ist sogar ein bisschen durchscheinend. Auf ihm liegt, natürlich, eine nackte Frau. So primitiv das Ganze ist - selbst im Jahre 1972 hätte man das "besser" hinbekommen -, es könnte effektiver nicht sein. Der interessante Bogen, den Martino schlägt, ist: während Méliès in seinem Atelier in Paris ganz tief in die Wundertüte greift und, quasi im Alleingang, den Phantastischen Film erfindet, brütet Doktor Freud, etwa zur gleichen Zeit in Wien über dem Theoriekonstrukt, das als Psychoanalyse bekannt werden sollte.
Meine These wäre, dass TUTTO I COLORI DEL BUIO ein Film ist, den man bei vollem Bewusstsein gegen den Strich gebürstet hat. Noch Martinos Erstlings-Giallo, LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH, ebenfalls mit Fenech, Hilton und Rassimov, beginnt mit einem Freud-Zitat. Bei TUTTO I COLORI DEL BUIO sind solche Zitat, falls überhaupt noch vorhanden, mit dickem Rotstift durchgestrichen. Das Witzige ist, dass der Zuschauer dies erst bei zunehmender Laufzeit merkt. In der ersten, sagen wir, halben Stunde könnte man noch glauben, es mit einem weiteren etwas schrägeren Giallo zu tun zu haben wie es IL TUO VIZIO É UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE bereits gewesen ist. Die Grundformel existiert noch, ist aber bereits ein bisschen in die eine oder andere Richtung verändert worden. In der ersten, sagen wir, halben Stunde könnte man außerdem glauben, Martino habe einfach bloß seinen Fokus verlagert: von den primär pekuniären Motiven, die seine aufgrund von Übersättigung verdorbenen Upper-Class-Geldgeilen aus IL CORDE DELLO SCORPIONE zu Mördern werden lassen, hin zu den aus Kindheitsschrecken resultierenden angeknacksten Psychopathen, von denen man zumindest ein Einzelexemplar eim späteren I CORPI PRESENTANO TRACCE DI VIOLENZA CARNALE präsentiert bekommt. Spätestens aber dann, wenn Jane, die sich mehr und mehr von exakt jenem Mann verfolgt glaubt, der schon ihre Mutter auf dem Gewissen hat, sich mit ihrer neuen Nachbarin, Mary, anzufreunden beginnt und die sie zu einer Schwarzen Messe in ein Okkultschloss mitnimmt, verliert TUTTO I COLORI DEL BUO sämtliche rationale Fundamente, die er bis dahin vielleicht noch gehabt haben mag, und wird zu einem verwirrenden, nach den Maßstäben menschlicher Logik nicht mehr nacherzählbaren, im wahrsten Sinne des Wortes delirierenden Fiebertraum, der für mich fast schon die surrealen Exzesse antizipiert, die Lucio Fulci knapp zehn Jahre später mit QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO oder L’ALDILÀ feiern sollte.
Abb.4: Wohl nicht zufällig ist TUTTO IL COLORI DEL BUIO der Martino-Giallo, der sich am weitesten in die Regionen des Phantastischen vorwagt. Es geschehen zwar per se keine wirklich übernatürlichen Dinge - oder zumindest keine, die sich nicht auch realistisch erklären lassen würden -, doch die gesamte Szenerie dieses Satanistenschlosses mit seinen Katakomben, Schwarzmessen und Hundeopferungen verweist derart deutlich auf die europäische Schauerromantradition, dass der Unterschied spitz ins Auge sticht. LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH und LA CODA DELLO SCORPIONE, das sind, wenn man so will, naturalistische Filme, die archetypische Schrecken in der Architektur und Anonymität der Großstadt suchen. Seine Antagonisten wollen ihre Portemonnaies füllen, nicht mehr, nicht weniger. Dass sie dafür morden, ist Mittel zum Zweck, ebenfalls nicht mehr und ebenfalls nicht weniger. IL TUO VIZIO É UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE bedient sich zwar im Finale eifrig bei Poe und hat als Schauplatz eine Villa, entlegen und unheimelnd. Doch erst TUTTO IL COLORI DEL BUIO löst das Versprechen ein, das beim Vorgänger noch vollmundig im Raum stehenblieb. Martino öffnet sich auch inhaltlich dem Supranaturalen. Einmal angelockt, schlägt sich dieses auf der Bildebene nieder, dass es eine wahre Lust ist.
Mehr noch als in den vier anderen gelbstichigen Filmen, die Martino zwischen 1971 und 1973 inszeniert hat, entwickelt TUTTO IL COLORI DEL BUIO sich von einem narrativen Film zu einem, dem seine Geschichte weitgehend egal wird, und der Szenen aneinanderreiht, die es perfekt verstehen, einen in die desolate Geisteslage zu versetzen, mit der seine Protagonistin Jane zu kämpfen hat. Nur einige Beispiele: Nach einer weiteren Schwarzen Messe erwacht Jane vor dem Satanistenschloss auf einer Wiese. Es ist früher Morgen, sie rappelt sich zerschlagen hoch. Vor ihr steht der ominöse Mark Cogan, in dem sie den Mörder ihrer Mutter zu erkennen glaubt und der zugleich Mitglied der Teufelsanbeterbande ist. Es wirkt, als habe er sie erwartet, empfängt sie regelrecht und führt sie zum Schloss zurück. Wie ist Jane aber überhaupt erst aus dem Schloss auf die Wiese gekommen? Wir erfahren es nicht nur nicht, sondern werden zusätzlich dadurch verwirrt, dass der Abgang der Beiden offenkundig von einer mitten in einer Baumkrone installierten Handkamera gefilmt wird. Ein anderes Mal geht eine sich zur orgiastischen Schoßhündchenopferung steigernde Satansmesse nahtlos in einen Geschlechtsakt zwischen Jane und Richard über. Ist alles, was Jane in dem Schloss erlebt, bloß ein Traum? Wir erfahren das nicht nur nicht, sondern werden wiederum von Martino dadurch verwirrt, dass er aus Kaminen heraus filmt, geschickt mit Schärfe und Unschärfe spielt, sodass sich Spiegelbilder von Personen in den Schutzgläsern vor Gemäldeleinwänden abzeichnen, nur um dann sofort wieder zu verschwinden, oder, gegen Ende, eine Szene gar zweimal zeigt, ohne dass genau kenntlich gemacht werden würde, welche der beiden Varianten in der sogenannten Realität angesiedelt sein soll und welche in den Angstträumen der ans Krankenbett gefesselten Jane.
Abb.5: Der Tod des Psychoanalytikers = Der Tod der Psychoanalyse. Unfähiger als Dr. Burton, den es in seinem eigenen Fahrzeug kalt erwischt, ist wohl selten ein filmischer Seelenklempner gewesen. Nicht nur, dass er seiner Patientin kaum ein Stück bei ihren Problemen weiterhelfen kann, nicht nur, dass er besorgte Angehörige seiner Patienten belügt, er überschätzt sich letztlich so sehr, dass er mit zerschlitzter Kehle und aufs Lenkrad gesunkenem Kopf endet, sodass permanent die Hupe seines Wagens ertönt, als wolle sie ihn noch posthum verhöhnen. In TUTTO IL COLORI DEL BUIO ist die Psychoanalyse zwar noch nicht gänzlich tot, liegt aber schon in den letzten Zuckungen. Martino verweigert seiner Welt, seinen Figuren Schlüssel, mit deren Hilfe der Zuschauer sie sich erklären könnte. Alles in diesem Film, der nicht mal ein richtiges Ende, nicht mal einen richtigen Anfang zu besitzen scheint, ist: Rätsel und Verwirrspiel. In gewisser Weise triumphiert das Kino hier über seine Schwester, die Psychoanalyse. Beide präsentieren den Menschen dem Menschen sichtbar auf einem Silbertablett. Doch letztere kann einfach nicht mit den atemberaubenden Bildern des anderen mithalten.
Dass es Martino und seinem Team bewusst darum gegangen sein könnte, mit den Schemata der vorherigen Filme zu brechen, indem sie sie ironisieren und ins Surreale transzendieren, dafür mag als letzter Beweis noch einmal die seltsame Figur des Dr. Burton dienen. Dieser wird von Barbara, Janes Schwester, zwar als halbe Koryphäe eingeführt, als rettender Anker, der der in Mitleidenschaft gezogenen Frau ihre geistige Gesundheit zurückbringen soll, im weiteren Verlauf des Films, in dem er übrigens eine wirklich unbedeutende Rolle spielt, erweist er sich allerdings als nahezu das komplette Gegenteil. Nicht nur, dass er Jane bei einem älteren Ehepaar auf dem Land versteckt und Richard gegenüber behauptet, er wisse nicht, wo dessen Gattin stecke, Barbara gegenüber gibt er als Begründung für eine solche Lüge an, dass er Richard schlicht nicht sympathisch finde und ihm deshalb den Verbleib seiner Liebsten verheimliche. Dass er, nachdem Jane ihn per Telefon um Hilfe gerufen hat, denn der sie verfolgende Killer geht im Landhaus um und hat bereits ihren Gastgebern die Gurgeln durchgeschnitten, auf eigene Faust, und ohne die Polizei zu informieren, in die Einöde fährt, ist nicht nur eine grobe Dummheit, er bezahlt sie folgerichtig auch mit dem Leben. Wenn Jane Dr. Burton blutüberströmt in seinem Wagen findet, nach vorne gesunken, sodass permanent die Hupe ertönt, ist das ein Bild, das dem Zuschauer nicht deutlicher sagen könnte, wie wenig man in TUTTO IL COLORI DEL BUIO nach irgendeiner Kohärenz, irgendeinem Sinn, irgendeiner finalen Erklärung, die alles zurechtrücken würde, suchen muss, darf oder sollte. In gewisser Weise hat Martino mit diesem Film zum ersten und einzigen Mal einen ähnlichen Pfad beschritten wie ihn etwas später Dario Argento frühestens ab PROFONDO ROSSO und spätestens mit SUSPIRIA, etwa zeitgleich Renato Polselli mit DELIRIO CALDO und der übrigens auch am Drehbuch von TUTTO IL COLORI DEL BUIO mitarbeitende Sauro Scavolini mit AMORE E MORTE NEL GIARDINO DEGLI DIE beschreiten sollten: er hebt ein Genre über sich hinaus bis es an der Decke zerbirst, lässt die Einzelstücke wild durcheinanderpurzeln und puzzelt sie danach neu und unerwartet zusammen. Der besondere Reiz an TUTTO IL COLORI DEL BUIO: dadurch, dass er aussieht wie aus einem Guss mit Martinos vorherigen, konventionelleren Gialli macht es noch mehr Spaß, nach den Stellen zu suchen, an denen ein Puzzleteil nicht passen mag oder gerade deshalb passt, weil es nicht hingehört, wo es sitzt.
Abb.6: Noch einmal Fenech. Diesmal derart verzerrt, dass man sie gleich zweimal sieht. Nicht mal das reine Bild ist vor Martinos unbedingtem Wunsch, zu demontieren und zu dekonstruieren, gefeit. Eine ganze Szene in TUTTO IL COLORI DEL BUIO reiht Bilder aneinander, die im wahrsten Sinne des Wortes auseinanderfallen. Ein zugleich betörendes, zugleich ätzendes Weiß verschlingt die uns bekannten Formen bis an den Rand der Abstraktion. Solche Momente sind es wohl, die sich Hélène Cattet und Bruno Forzani angesehen haben bis sie sie auswendig vor dem geistigen Auge mitlaufen lassen konnten.