Re: Joker - Todd Phillips (2019)
Verfasst: Fr 1. Nov 2019, 15:04
Ich lach’ dich tot
„I used to think my life was a tragedy. But now I realize: It’s a comedy!“
Ein bisschen chaotisch ist’s ja schon geworden: Im DC-Universum wird sowohl in den Comics als auch in den Verfilmungen fröhlich gerebootet, werden neue Hintergrund- und Entstehungsgeschichten ersponnen und entwickeln sich dieselben Figuren in verschiedenen Formaten, Reihen oder Einzelauftritten unterschiedlich, ohne Rücksicht auf Kontinuität zu nehmen. Davon betroffen ist auch der Joker, so etwas wie der Archetyp des durchgeknallten Superschurken in Batmans düsterer Welt, die an derlei Gestalten wahrlich nicht arm ist. Die New-York-Abstraktion Gotham City gebiert sie, sperrt sie ins Arkham Asylum und lässt sie immer wieder entkommen – zur Freude der Leser(innen) und Zuschauer(innen). Der Joker, ein böser Clown und furchterregender, dauergrinsender Harlekin, debütierte 1940 in den Batman-Comics, inspiriert von Schauspieler Conrad Veidts Rolle im Stummfilm „Der Mann, der lacht“. Populäre Entstehungsgeschichten erzählen vom Sturz eines Verbrechers in ein Säurebad, das aus ihm den bleichhäutigen, grünhaarigen und sardonisch dauerlachenden Antagonisten machte. Nun, zahlreiche Inkarnationen später, oblag es dem US-Komödienprofi Todd Phillips, ein Drehbuch mit einer völlig neuen Genesis des berüchtigtsten Gegenspielers Batmans zu ersinnen und, ausgestattet mit einem Blockbuster-Budget, höchstpersönlich in US-amerikanisch-kanadischer Koproduktion zu verfilmen. Das Ergebnis heißt schlicht „Joker“ und erfreut sich 2019 regen Zuspruchs an den Kinokassen.
Gotham City ist zu Beginn der 1980er-Jahre ein schmutziger Moloch: Die Menschen verlieren zunehmend den Respekt voreinander, Kriminalität ist an der Tagesordnung, die Reichen schotten sich ab, die Unterschicht vegetiert vor sich hin. Davon ist auch Arthur Fleck (Joaquin Phoenix, „Walk The Line“) betroffen, der, selbst psychisch krank und auf Psychopharmaka, mit seiner kranken Mutter Penny (Frances Conroy, „Manhattan“) zusammenlebt und sich liebevoll um sie kümmert. Er arbeitet für eine Agentur, die ihn als Clown für verschiedene Anlässe vermittelt, beispielsweise als Werbeschildträger für Einkaufsläden – und zieht damit jugendliche Rowdys an, die ihn verhöhnen und verprügeln. Sein Kollege Randall (Glenn Fleshler, „Suburbicon“) schwatzt ihm einen Revolver zur Selbstverteidigung auf, den Arthur nach anfänglichen Zweifeln bald benutzen wird: Als ihn drei Yuppies in der U-Bahn angreifen, erschießt er einen nach dem anderem, entkommt unerkannt – und wird durch das Medienecho zum unfreiwilligen Auslöser einer Protestbewegung gegen das Establishment, das sich in Gotham vor allem in Konzernbetreiber Thomas Wayne (Brett Cullen, „The Dark Knight Rises“) personifiziert. Weder der Revolver noch sein Krankheitssymptom, in unpassenden Momenten unvermittelt loszulachen, sind ihm bei seinem Job oder seinen Versuchen, eine Karriere als Stand-Up-Komiker einzuschlagen, sonderlich behilflich: Seine Anstellung verliert er und Late-Night-Showmaster Murray Franklin (Robert De Niro, „Taxi Driver“) wird auf ihn als untalentierten, unbeholfenen Trottel aufmerksam. Parallel verdichtet sich für Arthur das Bild, seine Mutter haben in jungen Jahren eine Affäre zu Thomas Wayne unterhalten, aus der er als gemeinsamer Sohn hervorgegangen sei. Als er Wayne damit konfrontieren will, reagiert dieser abweisend und erklärt Arthur, seine Mutter sei verrückt. Im Zuge dessen lernt er auch Waynes Sohn Bruce (Dante Pereira-Olson, „A Beautiful Day“) kennen…
Ich hatte ja so meine Zweifel, ob es angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation, in der gerade allerlei menschlicher Unrat an die Oberfläche gerülpst wird, wirklich angebracht ist, einen komplett zynischen, eiskalten Wahnsinnigen, zudem eine bewusst überzeichnete Comicfigur, zu vermenschlichen und mittels einer schweren Kindheit oder durch äußere Einflüsse negativ beeinflussten Sozialisation um Verständnis für sie zu werben, zu erklären zu versuchen und zu entmystifizieren (womit sich bekanntlich bereits Rom Zombie in Bezug auf Michael Myers aus der „Halloween“-Slasher-Reihe auf die Nase gelegt hatte). Andererseits empfand ich es als sehr reizvolle Herangehensweise, einmal einen Gegner Batmans in den Mittelpunkt zu stellen und sein Psychogramm zu erarbeiten. Mit seiner Verortung in den frühen 1980ern passt „Joker“ zudem gut in den nicht abreißen wollenden ‘80er-Retro-Trend. Nicht zuletzt waren DC-Joker-Filmrollen schon häufig Anlass für herausragende schauspielerische Leistungen und Interpretationen, man denke an Jack Nicholson oder Heath Ledger. Die Verpflichtung Joaquin Phoenix‘, einem der besten zeitgenössischen US-Schauspieler, machte erst recht neugierig. Und er, eigens für die Rolle um 24 Kilogramm abgemagert, verstand es vortrefflich, die Erwartungen zu erfüllen.
Todd Phillips hatte verstanden: Einen Film aus der Batman-Welt muss man im Neo-Noir-Stil inszenieren, damit er gut wird. Sein Gotham City ist das mit viel Gespür für Details ausgestattete Sinnbild des alten New Yorks, das ein Film wie dieser braucht. Zwischen dem Dreck und Elend der Straße und einem versagenden sozialen Netz zerplatzen Träume im täglichen Existenzkampf, gedeihen Missgunst, Entsolidarisierung und Verbrechen, die Elite stellt sich reaktionär auf, Hysterie beginnt um sich zu greifen: Eine Gesellschaft kurz vor ihrer Implosion. All das macht „Joker“ zu einem wunderbaren Gegenpol zum prätentiösen Marvel-Universum mit seinen überlebensgroßen Geschichten, seiner Videospiel-Action und seinen Humoreinlagen. Während man dort vorzugsweise den Makrokosmos beackert, fokussiert sich „Joker“ auf den Mikrokosmos der bemitleidenswerten Existenz Arthur Flecks – eine Existenz, die nach einer Vielzahl persönlicher Enttäuschungen, der Aufdeckung einer Lebenslüge und der gesellschaftlichen Unfähigkeit, seine Krankheiten adäquat zu behandeln, eine Metamorphose eingeht, um nach ihrer Verpuppung als ein grauenerregendes Geschöpf wiedergeboren zu werden.
Der Film arbeitet wohldosiert mit Charakteristika eines unzuverlässigen Erzählers, Flecks Tagträume und Einbildungen, die sich u.a. um die zauberhafte Zazie Beetz („Deadpool 2“) drehen, sind nicht immer gleich als solche erkennbar. Dies unterstreicht die perspektivische Einschränkung bei gleichzeitiger unmittelbarer Nähe zur Figur Arthurs, der trotzdem nie ganz seine Rätselhaftigkeit ablegt. Am aufschlussreichsten sind die Einblicke in die Patientinnenakte seiner Mutter, die Arthurs Psychosen verständlich machen – übrigens der einzige Moment, in dem Schriftstücke vor der Kamera nicht durch deutsche Inserts ersetzt werden. Eine derart tiefgreifende deutsche Bearbeitung eines US-Films hat man lange nicht mehr gesehen (bleibt zu hoffen, dass es diese auch auf Blu-ray schafft). Die Entmystifizierung des Jokers geschieht behutsam im Stile der Batman-Comics der 1970er und -80er mit ihrem ausgeprägten sozialen Gewissen und Gespür für psychologische und -pathologische Phänomene. Damit geht einher, dass er nicht an Faszination einbüßt, sondern eher noch gewinnt – und besser als die alte Säurebad-Story ist’s allemal. Die Erkenntnis, das eine Gesellschaft ihre Monster selbst gebiert, ist mitunter erschreckender als das irreale Monstrum aus dem Nichts, vor allem wenn sie wie hier mit einer Negation der bestehenden Ordnung und der Inversion des Wertekanons einhergeht, nach der das Leben für Arthur Fleck endlich einen Sinn ergibt und er seine Berufung gefunden zu haben glaubt.
Unter diesen Voraussetzungen ist es dann auch nur konsequent, Batmans Vater als arroganten, kapitalistischen Unsympathen zu zeichnen. Dass „Joker“ wie im Vorbeigehen dann auch noch eine Batman-Origin-Story mitliefert, ist ein genialer Schachzug, der den Keim für die Erzfeindschaft zwischen ihm und dem Joker legt und die tragische Note der Handlung gewissermaßen potenziert. Neben einigen bösen Gewaltspitzen und dem einen oder anderen Stunt ist „Joker“ vor allem ein persönliches Drama, das in ein nicht minder dramatisches Umfeld eingebettet wurde. Damit erinnert es unweigerlich an „Taxi Driver“, zumal auch in „Joker“ im Prinzip niemand Unschuldiges zum Opfer der Hauptfigur wird. Tatsächlich atmet auch „Joker“ diesen unverkennbaren New-York-Film-Geist. Von einem Plagiat ist „Joker“ aber so weit entfernt wie der junge Bruce Wayne von einer Liaison mit Catwoman. Inspiration dürfte Phillips stärker noch in einem anderen Scorsese-Film gefunden haben: „The King of Comedy“. Doch auch diesbezüglich kann man ihm nur schwerlich Ideenklau vorwerfen, wirken die entsprechenden Szenen in ihrer Mischung aus Hommage und boshafter, zynischer Neuauslegung doch weit weniger satirisch und sind sie auch von wesentlich weitreichender Konsequenz in einer finalen Pointe, die uns den Joker, Flecks endgültige Reinkarnation, als zuletzt und somit am besten Lachenden zeigt.
Mit seinen zwei Stunden Spielfilm ist „Joker“ keine Sekunde zu lang oder zu kurz. Phillips‘ Film wurde nicht nur zu einem Siegeszug an den Kinokassen, sondern auch zu einem eindrucksvollen Beweis, dass man – entsprechende Handlungsfreiheit vorausgesetzt – zwischen all dem Superhelden-Blockbuster-Bombast durchaus einen Film platzieren kann, der den Comicstil ganz anders adap- und interpretiert und ins Gedächtnis ruft, weshalb Batmans Gegenspieler(innen) seit jeher noch einmal faszinierender waren als der Dunkle Ritter selbst. Angelegt als hochbudgetierte Produktion für die Multiplexe dieser Welt ruft diese so gar nicht nach Mainstream müffelnde Comiccharakterstudie natürlich auch zahlreiche Kritiker(innen) auf den Plan, die an einer Einordnung des Films scheitern und denen offensichtlich der Bezug fehlt. Wie sonst ist es zu erklären, dass man bei einer Quasi-Comic-Verfilmung (der lediglich die konkrete Comicvorlage fehlt) überzeichnete Darstellungen, abstrakte Vereinfachungen und mangelnden psychoanalytischen Tiefgang beklagt? Verstärkter Noir-Realismus erhebt noch lange keinen Anspruch auf eine verkopfte Durchdeklination und macht einen Film glücklicherweise nicht automatisch zu einem das Publikum strafenden, staubtrockenen Drama. „Joker“ ist allegoriereiche, kluge und exzellent besetzte Comic-Unterhaltung auf von der Kameraarbeit über die Dramaturgie und Atmosphäre bis hin zum Soundtrack ziemlich hohem Niveau und mit Sicherheit eines der Kinoerlebnisse des Jahres – das man Komödien-Phillips nicht ohne Weiteres zugetraut hätte. Dafür wird er ganz bestimmt nicht ausgelacht.
„I used to think my life was a tragedy. But now I realize: It’s a comedy!“
Ein bisschen chaotisch ist’s ja schon geworden: Im DC-Universum wird sowohl in den Comics als auch in den Verfilmungen fröhlich gerebootet, werden neue Hintergrund- und Entstehungsgeschichten ersponnen und entwickeln sich dieselben Figuren in verschiedenen Formaten, Reihen oder Einzelauftritten unterschiedlich, ohne Rücksicht auf Kontinuität zu nehmen. Davon betroffen ist auch der Joker, so etwas wie der Archetyp des durchgeknallten Superschurken in Batmans düsterer Welt, die an derlei Gestalten wahrlich nicht arm ist. Die New-York-Abstraktion Gotham City gebiert sie, sperrt sie ins Arkham Asylum und lässt sie immer wieder entkommen – zur Freude der Leser(innen) und Zuschauer(innen). Der Joker, ein böser Clown und furchterregender, dauergrinsender Harlekin, debütierte 1940 in den Batman-Comics, inspiriert von Schauspieler Conrad Veidts Rolle im Stummfilm „Der Mann, der lacht“. Populäre Entstehungsgeschichten erzählen vom Sturz eines Verbrechers in ein Säurebad, das aus ihm den bleichhäutigen, grünhaarigen und sardonisch dauerlachenden Antagonisten machte. Nun, zahlreiche Inkarnationen später, oblag es dem US-Komödienprofi Todd Phillips, ein Drehbuch mit einer völlig neuen Genesis des berüchtigtsten Gegenspielers Batmans zu ersinnen und, ausgestattet mit einem Blockbuster-Budget, höchstpersönlich in US-amerikanisch-kanadischer Koproduktion zu verfilmen. Das Ergebnis heißt schlicht „Joker“ und erfreut sich 2019 regen Zuspruchs an den Kinokassen.
Gotham City ist zu Beginn der 1980er-Jahre ein schmutziger Moloch: Die Menschen verlieren zunehmend den Respekt voreinander, Kriminalität ist an der Tagesordnung, die Reichen schotten sich ab, die Unterschicht vegetiert vor sich hin. Davon ist auch Arthur Fleck (Joaquin Phoenix, „Walk The Line“) betroffen, der, selbst psychisch krank und auf Psychopharmaka, mit seiner kranken Mutter Penny (Frances Conroy, „Manhattan“) zusammenlebt und sich liebevoll um sie kümmert. Er arbeitet für eine Agentur, die ihn als Clown für verschiedene Anlässe vermittelt, beispielsweise als Werbeschildträger für Einkaufsläden – und zieht damit jugendliche Rowdys an, die ihn verhöhnen und verprügeln. Sein Kollege Randall (Glenn Fleshler, „Suburbicon“) schwatzt ihm einen Revolver zur Selbstverteidigung auf, den Arthur nach anfänglichen Zweifeln bald benutzen wird: Als ihn drei Yuppies in der U-Bahn angreifen, erschießt er einen nach dem anderem, entkommt unerkannt – und wird durch das Medienecho zum unfreiwilligen Auslöser einer Protestbewegung gegen das Establishment, das sich in Gotham vor allem in Konzernbetreiber Thomas Wayne (Brett Cullen, „The Dark Knight Rises“) personifiziert. Weder der Revolver noch sein Krankheitssymptom, in unpassenden Momenten unvermittelt loszulachen, sind ihm bei seinem Job oder seinen Versuchen, eine Karriere als Stand-Up-Komiker einzuschlagen, sonderlich behilflich: Seine Anstellung verliert er und Late-Night-Showmaster Murray Franklin (Robert De Niro, „Taxi Driver“) wird auf ihn als untalentierten, unbeholfenen Trottel aufmerksam. Parallel verdichtet sich für Arthur das Bild, seine Mutter haben in jungen Jahren eine Affäre zu Thomas Wayne unterhalten, aus der er als gemeinsamer Sohn hervorgegangen sei. Als er Wayne damit konfrontieren will, reagiert dieser abweisend und erklärt Arthur, seine Mutter sei verrückt. Im Zuge dessen lernt er auch Waynes Sohn Bruce (Dante Pereira-Olson, „A Beautiful Day“) kennen…
Ich hatte ja so meine Zweifel, ob es angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation, in der gerade allerlei menschlicher Unrat an die Oberfläche gerülpst wird, wirklich angebracht ist, einen komplett zynischen, eiskalten Wahnsinnigen, zudem eine bewusst überzeichnete Comicfigur, zu vermenschlichen und mittels einer schweren Kindheit oder durch äußere Einflüsse negativ beeinflussten Sozialisation um Verständnis für sie zu werben, zu erklären zu versuchen und zu entmystifizieren (womit sich bekanntlich bereits Rom Zombie in Bezug auf Michael Myers aus der „Halloween“-Slasher-Reihe auf die Nase gelegt hatte). Andererseits empfand ich es als sehr reizvolle Herangehensweise, einmal einen Gegner Batmans in den Mittelpunkt zu stellen und sein Psychogramm zu erarbeiten. Mit seiner Verortung in den frühen 1980ern passt „Joker“ zudem gut in den nicht abreißen wollenden ‘80er-Retro-Trend. Nicht zuletzt waren DC-Joker-Filmrollen schon häufig Anlass für herausragende schauspielerische Leistungen und Interpretationen, man denke an Jack Nicholson oder Heath Ledger. Die Verpflichtung Joaquin Phoenix‘, einem der besten zeitgenössischen US-Schauspieler, machte erst recht neugierig. Und er, eigens für die Rolle um 24 Kilogramm abgemagert, verstand es vortrefflich, die Erwartungen zu erfüllen.
Todd Phillips hatte verstanden: Einen Film aus der Batman-Welt muss man im Neo-Noir-Stil inszenieren, damit er gut wird. Sein Gotham City ist das mit viel Gespür für Details ausgestattete Sinnbild des alten New Yorks, das ein Film wie dieser braucht. Zwischen dem Dreck und Elend der Straße und einem versagenden sozialen Netz zerplatzen Träume im täglichen Existenzkampf, gedeihen Missgunst, Entsolidarisierung und Verbrechen, die Elite stellt sich reaktionär auf, Hysterie beginnt um sich zu greifen: Eine Gesellschaft kurz vor ihrer Implosion. All das macht „Joker“ zu einem wunderbaren Gegenpol zum prätentiösen Marvel-Universum mit seinen überlebensgroßen Geschichten, seiner Videospiel-Action und seinen Humoreinlagen. Während man dort vorzugsweise den Makrokosmos beackert, fokussiert sich „Joker“ auf den Mikrokosmos der bemitleidenswerten Existenz Arthur Flecks – eine Existenz, die nach einer Vielzahl persönlicher Enttäuschungen, der Aufdeckung einer Lebenslüge und der gesellschaftlichen Unfähigkeit, seine Krankheiten adäquat zu behandeln, eine Metamorphose eingeht, um nach ihrer Verpuppung als ein grauenerregendes Geschöpf wiedergeboren zu werden.
Der Film arbeitet wohldosiert mit Charakteristika eines unzuverlässigen Erzählers, Flecks Tagträume und Einbildungen, die sich u.a. um die zauberhafte Zazie Beetz („Deadpool 2“) drehen, sind nicht immer gleich als solche erkennbar. Dies unterstreicht die perspektivische Einschränkung bei gleichzeitiger unmittelbarer Nähe zur Figur Arthurs, der trotzdem nie ganz seine Rätselhaftigkeit ablegt. Am aufschlussreichsten sind die Einblicke in die Patientinnenakte seiner Mutter, die Arthurs Psychosen verständlich machen – übrigens der einzige Moment, in dem Schriftstücke vor der Kamera nicht durch deutsche Inserts ersetzt werden. Eine derart tiefgreifende deutsche Bearbeitung eines US-Films hat man lange nicht mehr gesehen (bleibt zu hoffen, dass es diese auch auf Blu-ray schafft). Die Entmystifizierung des Jokers geschieht behutsam im Stile der Batman-Comics der 1970er und -80er mit ihrem ausgeprägten sozialen Gewissen und Gespür für psychologische und -pathologische Phänomene. Damit geht einher, dass er nicht an Faszination einbüßt, sondern eher noch gewinnt – und besser als die alte Säurebad-Story ist’s allemal. Die Erkenntnis, das eine Gesellschaft ihre Monster selbst gebiert, ist mitunter erschreckender als das irreale Monstrum aus dem Nichts, vor allem wenn sie wie hier mit einer Negation der bestehenden Ordnung und der Inversion des Wertekanons einhergeht, nach der das Leben für Arthur Fleck endlich einen Sinn ergibt und er seine Berufung gefunden zu haben glaubt.
Unter diesen Voraussetzungen ist es dann auch nur konsequent, Batmans Vater als arroganten, kapitalistischen Unsympathen zu zeichnen. Dass „Joker“ wie im Vorbeigehen dann auch noch eine Batman-Origin-Story mitliefert, ist ein genialer Schachzug, der den Keim für die Erzfeindschaft zwischen ihm und dem Joker legt und die tragische Note der Handlung gewissermaßen potenziert. Neben einigen bösen Gewaltspitzen und dem einen oder anderen Stunt ist „Joker“ vor allem ein persönliches Drama, das in ein nicht minder dramatisches Umfeld eingebettet wurde. Damit erinnert es unweigerlich an „Taxi Driver“, zumal auch in „Joker“ im Prinzip niemand Unschuldiges zum Opfer der Hauptfigur wird. Tatsächlich atmet auch „Joker“ diesen unverkennbaren New-York-Film-Geist. Von einem Plagiat ist „Joker“ aber so weit entfernt wie der junge Bruce Wayne von einer Liaison mit Catwoman. Inspiration dürfte Phillips stärker noch in einem anderen Scorsese-Film gefunden haben: „The King of Comedy“. Doch auch diesbezüglich kann man ihm nur schwerlich Ideenklau vorwerfen, wirken die entsprechenden Szenen in ihrer Mischung aus Hommage und boshafter, zynischer Neuauslegung doch weit weniger satirisch und sind sie auch von wesentlich weitreichender Konsequenz in einer finalen Pointe, die uns den Joker, Flecks endgültige Reinkarnation, als zuletzt und somit am besten Lachenden zeigt.
Mit seinen zwei Stunden Spielfilm ist „Joker“ keine Sekunde zu lang oder zu kurz. Phillips‘ Film wurde nicht nur zu einem Siegeszug an den Kinokassen, sondern auch zu einem eindrucksvollen Beweis, dass man – entsprechende Handlungsfreiheit vorausgesetzt – zwischen all dem Superhelden-Blockbuster-Bombast durchaus einen Film platzieren kann, der den Comicstil ganz anders adap- und interpretiert und ins Gedächtnis ruft, weshalb Batmans Gegenspieler(innen) seit jeher noch einmal faszinierender waren als der Dunkle Ritter selbst. Angelegt als hochbudgetierte Produktion für die Multiplexe dieser Welt ruft diese so gar nicht nach Mainstream müffelnde Comiccharakterstudie natürlich auch zahlreiche Kritiker(innen) auf den Plan, die an einer Einordnung des Films scheitern und denen offensichtlich der Bezug fehlt. Wie sonst ist es zu erklären, dass man bei einer Quasi-Comic-Verfilmung (der lediglich die konkrete Comicvorlage fehlt) überzeichnete Darstellungen, abstrakte Vereinfachungen und mangelnden psychoanalytischen Tiefgang beklagt? Verstärkter Noir-Realismus erhebt noch lange keinen Anspruch auf eine verkopfte Durchdeklination und macht einen Film glücklicherweise nicht automatisch zu einem das Publikum strafenden, staubtrockenen Drama. „Joker“ ist allegoriereiche, kluge und exzellent besetzte Comic-Unterhaltung auf von der Kameraarbeit über die Dramaturgie und Atmosphäre bis hin zum Soundtrack ziemlich hohem Niveau und mit Sicherheit eines der Kinoerlebnisse des Jahres – das man Komödien-Phillips nicht ohne Weiteres zugetraut hätte. Dafür wird er ganz bestimmt nicht ausgelacht.