Einige Anmerkungen zu Paul Naschys Horrorklassiker LATIDO DE PÁNICO
1. Müsste ich das spanische Horrorkino der 70er Jahre so klassifizieren, dass es auf einen prägnanten, pointierten Nenner passt, würde ich als sein wichtigstes Attribut seine prinzipielle Märchenhaftigkeit anführen. Im Gegensatz zum italienischen Horrorfilm, der stärker avantgardistischen Kunstrichtungen wie vor allem dem Surrealismus verpflichtet ist und deswegen oft auf einer oder mehreren Meta-Ebenen operiert, sind die spanischen Horrorfilme etwa der gleichen Zeit wesentlich, im besten Wortsinne, naiver, kindlicher in ihrer Sicht auf die Welt, und stehen dabei knietief in Traditionen der europäischen Schauerromantik, Legenden- und Märchenstoffen, Ritter- und Räubergeschichten. Amando de Ossorio, Carlos Aured, León Klimovsky oder eben Paul Naschy bzw., wie ihn seine Mutter nannte, Jacinto Molina Álvarez haben – mit ihren, meiner Meinung nach, besten Werken – bspw. LA NOCHE DEL TERROR CIEGO (1972), EL RETORNO DE WALPURGIS (1973), LA NOCHE DE WALPURGIS (1971) oder EL RETORNO DEL HOMBRE-LOBO (1981) – stets auf Geschichten zurückgegriffen, die einem so oder so ähnlich auch gut und gerne ein- bis zweihundert Jahre früher an prasselnden Lagerfeuern von abergläubischen Dörflern hätten erzählt werden können. Wenn denn einmal die Moderne in die mythische, rustikale, animistische Phantasiewelt des spanischen Horrorkinos einbricht – und das tut sie, ganz gängig, in Form promiskuitiver Liebespärchen, weltmännischer Kerle, materialistisch orientierter Tussen -, dann nimmt es mit ihr bzw. ihren Repräsentanten selten ein gutes Ende. Vielleicht am schönsten zeigt sich die Tendenz des spanischen Gruselfilms, die durchweg romantisierte Vergangenheit mit ihren brüchigen Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, ihren unheilvollen Schlosskellern und jahrhundertealter Flüche permanent über die durchrationalisierte, vernünftelnde Gegenwart von Massenkonsum, Positivismus und Globalisierung triumphieren zu lassen, im sensationellen Finale von de Ossorios LA NOCHE DEL TERROR CIEGO: untote Tempelritter, die nach Jungfernblut lechzen, werden per Zug, in dem sie ein Massaker anrichten, in die Zivilisation gebracht, wo sie dann, das deutet das Schlussbild an, ausschwärmen, um diese mit sich selbst zu kontaminieren.
Abb.1: Was für eine wundervoll gespenstische Aufnahme! Während rechts im Vordergrund die Gebeine nicht näher definierter Menschenleichen baumeln, spielt sich im Hintergrund vor sehr grellen und sehr blauen Scheinwerfern ein mittelalterliches Ehedrama ab. Natürlich ist die untreue Gattin splitterfasernackt und natürlich ist die Öffnung im Gebüsch, durch die der eifersüchtige Rittersmann langsam auf sie zureitet, um sie zum Opfer seiner Wut zu machen, in der Form eines weiblichen Geschlechtsorgans modelliert.
2. Paul Naschy hat sich ebenfalls in seinen Filmen, ob nun als Schauspieler, als Drehbuchautor oder als Regisseur, stets darin hervorgetan, genau diese Formel zu bedienen. Seine Sympathien sind stets klar verteilt: noch jeder Protagonist, der über das vermeintlich abergläubische Geschwätz von Vampiren, Werwölfen und Hexen lacht, wird alsbald von genau jenen vernascht. LATIDOS DE PÁNICO von 1983 bildet darin zunächst keine Ausnahme. Sein Prolog entführt uns exakt in die Kunstwelt, für die ich den Horrorfilm Spaniens so sehr liebe: Eine nackte Schöne flieht vor einem bitterbösen Ritter in vollem Harnisch durch ein gespenstisches Wäldchen. Bei ihr handelt es sich um eine treulose Ehefrau, bei ihm um den gehörnten Gatten. Ausleuchtung, Kunstnebel, Kostüme, soweit vorhanden, sind nicht nur für sich gesehen superb, sondern stehen außerdem in direktem Bezug zu Naschys eigener filmischer Vergangenheit. Der garstige, natürlich von Naschy höchstselbst verkörperte Rittersmann, der seine bessere Hälfte schließlich mittels diverser mittelalterlicher Werkzeuge zu Tode bringt, heißt Alaric de Marnac, und ist dem geneigten Fan bereits aus Carlos Aureds vorzüglichem EL ESPANTO SURGE DE LA TUMBA von 1973 bekannt. Schon dort hat Naschy den Schlächter und Volksausbeuter als eigenen Gilles-de-Rais-Verschnitt etabliert, dessen gerechtfertigte Hinrichtung wir in einer Rückblende gen Mittelalter sehen dürfen, bevor er in der Gegenwart der 70er von den Toten aufsteigt und bittere Rache nehmen wird an den Nachkommen seiner einstigen Henker. LATIDOS DE PÁNICO ist also auf den ersten Blick – wie schon EL RETORNO DEL HOMBRE-LOBO, der ein Quasi-Remake von LA NOCHE DE WALPURGIS darstellte, ohne irgendein Zugeständnis an den sich wandelnden Zeitgeist – ein spanisches Schauerstück par excellence, das sich seiner Traditionslinie nicht nur vollkommen bewusst ist, sondern überdeutlich mit dieser spielt, sich in ihr verortet, sie weiterspinnt.
Abb.2: Möglicherweise eine der klügsten Dialogszenen, die Paul Naschy jemals gefilmt hat: Mit der Göre Julie und ihrer Tante Mabil sitzen sich zwei Weltanschauungen gegenüber: links die ungläubige Ironie der Gegenwart, rechts der murmelnde Aberglaube der Vergangenheit, und zwischen bzw. hinter ihnen: die Rüstung dessen, um den es geht.
3. Die eigentliche Handlung beginnt damit, dass Paul, ein Nachfahre Alarics und, natürlich, ebenfalls von Naschy verkörpert, sich Sorgen um seine herzkranke Frau Geneviève macht. Die ist schwerreich und hat ihn gegen den Rat ihrer High-Society-Freunde geehelicht, die sie allesamt warnten, Paul sei nur auf ihr Geld aus. In Pauls Geburtshaus, abgelegen, unheimlich, einstmals Heimstatt Alarics, soll Genevièves Herz sich vom Großstadtstresses Paris‘ erholen. Dort richten die Hausdame Mabile, unterstützt von ihrer Nichte Julie, alles für die Ankunft des lange abwesenden Herrn her. Ein Gespräch zwischen den beiden Damen entspinnt sich, das recht gut die beiden Pole verdeutlicht, zwischen denen LATIDOS DE PÁNICO – und der spanische Horrorfilm im Allgemeinen – hin und her oszillieren wird. Mabile mit ihren greisen Gespenstergeschichten von Waffen, die plötzlich zu bluten anfangen, ruheloser Seelen und Grüften, an denen man besser nicht rühren sollte, vertritt den spanischen Horrorfilm selbst. Jede Legende wird von der treuen Alten für bare Münze genommen. Völlig unkritisch verfährt sie mit all den Räuberpistolen, die sich um das Herrenhaus der Familie de Marnac ranken. Julie demgegenüber hat dafür nur Spott übrig. Sie macht sich über den Aberglaube ihrer Tante lustig, sieht sich als modernes Kind ihrer Zeit meilenweit über solchen antiquierten Vorstellungen: für sie ist nur das real, was sie mit beiden Augen sehen, mit beiden Händen anfassen und mit ihrem Verstand denken kann. Das lange Gespräch zwischen Julie und Mabile kommt mir vor wie die Gegenüberstellung von These und Antithese, worauf dann LATIDOS DE PÁNICO die Gesamtheit seiner Laufzeit damit zubringen wird, aus beiden eine Synthese zu gewinnen.
Abb.3: Der Intertextualitäts-Detektor schlägt an: Genevièves Bettlektüre ist Balsam für ihr Herz und von niemand anderem verfasst als von Marie Louise Fischer, jener berühmt-berüchtigte Fließbandproduzentin trivialer Herz-Schmerz-Romane, deren Zahl bis zu ihrem Tod weit in die Hundert ging. Kurz darauf, wenn Paul sich zu ihr ins Bett gelegt hat, fällt der nächste Querverweis: nämlich der auf du Mauriers bzw. Hitchcocks REBECCA, an deren Geschichte Julie die Haushälterin Mabel erinnere - sie kann wohl froh sein, niemals BUIO OMEGA gesehen zu haben.
4. Bald geschieht das, was in einem spanischen Horrorfilm üblicherweise geschieht: Realität und Traum verwischen, unerklärliche Ereignisse häufen sich, Genevièves Herz kommt mehr als einmal ins Rasen, nachdem sie von Julie all die grausigen Dinge gehört hat, die sich in ihrem Feriendomizil abgespielt haben soll – Satansrituale, Kindsschlächterei, Frauenmorde, um nur einiges zu nennen -, und schließlich glaubt sie sogar, Alaric de Marnac sei ihr in voller Montur gemäß der Legende erschienen, alle hundert Jahre materialisiere er sich an der Stätte seiner Verbrechen, um allen weiblichen Wesen den Garaus zu machen, die er dort vorfindet. Paul wiegelt ab, Julie und Mabil sind nie zur Stelle, wenn Geneviève sich von Gestalten aus der Mottenkiste des Grusels bedrängt fühlt, und bald weiß nicht einmal mehr der Zuschauer, ob die herzschwache Heldin sich all die vom Film bildreich vorgeführten Übergriffe des Phantastischen auf das Alltägliche nun einbildet oder ob ihr wirklich ein seit Jahrhunderten toter Mordbrenner nach dem Leben trachtet.
Abb.4: Kurz vor der Demaskierung. Gleich wird Paul sich die Totenfratze von der eigenen reißen und darunter hämisch grinsen. In diesem Film ist nichts wie es scheint und hinter jedem vermeintlichen Faktum verbirgt sich mindestens ein Fallstrick.
5. Dann aber, bereits nach etwa der Hälfte der Spielzeit, demaskiert sich LATIDO DE PÁNICO plötzlich als eine ausgeklügelte Farce. Als einmal mehr der Ritter Alaric vor ihr steht, sein Scharnier lüftet und darunter einen grinsenden Totenschädel entblößt, entscheidet sich Genevièves Herz, all die Strapazen nicht länger mitzumachen und stellt sein Schlagen ein, nachdem Schauspielerin Julia Saly die Gelegenheit für eine der überzogensten Sterbeszenen der Filmgeschichte geboten bekommen und genutzt hat. Doch: der Knochenkopf ist nur eine Maske, unter der ein zufrieden grinsender Paul zum Vorschein kommt. Sein Plan hat funktioniert. Geneviève ist mausetot und er ihr Alleinerbe. Das heißt: gemeinsam mit Julie, die sich nun als seine Geliebte und Helfershelferin entpuppt. Der ganze Mummenschanz ist nicht mehr als das: ein klug konzipiertes Verbrechen zur Beseitigung der unliebsamen Gattin. Von nun an konzentriert sich LATIDOS DE PÁNICO auf die weiteren Geschicke von Paul und Julie. Paul nämlich hat in Paris eine weitere Geliebte, Mireille, die ihm kaum noch von der Seite weicht, und Julie ebenfalls einen Liebhaber, Maurice, und beide Paare gehen schwanger mit der Idee, das jeweils andere zu beseitigen, um das satte Vermögen der Verblichenen nicht teilen zu müssen. Außerdem ist da noch Mabile, die ein enthüllendes Gespräch zwischen Paul und Julie belauscht, und dafür einen Flug die Treppe hinunter spendiert kriegt. Zum ersten Mal, dieser Eindruck verhärtet sich in der zweiten Hälfte des Films, scheint ein Film von und mit Paul Naschy eingeknickt zu sein unter den Anforderungen eines Publikums, dessen Gänsehäute nicht mehr primär gespeist werden wollen von Geisterburgen, Mittelaltermärchen und Raubritterromantik, sondern das durch Anfang der 80er virulente Filmwellen wie die des Slashers oder des Zombiefilms bereits ganz andere Kaliber gewohnt ist, um bei der expoitativen Laune gehalten zu werden. Dadurch, dass LATIDOS DE PÁNICO sämtliche Gespenster ins Reich der Phantasie zurückverweist und zu einem harten Thriller wird, dessen Figuren aus rein pekuniären Motiven handeln, und nicht mal mit einem Zeh in irgendeiner Zauberwelt stehen, scheint ein Bruch zur eigenen Vergangenheit vollzogen zu werden – so, als würde Naschy in seiner Waldemar-Daninsky-Rolle mitten bei der Hatz auf wehrlose Weibchen auf einmal aus dem Werwolfspelz schlüpfen oder als würden die Reitenden Leichen de Ossorios hilflos verloren in einer Diskothek herumstehen, geblendet vom Flackerlicht und umringt von Partymäuschen, die sie kein bisschen ernstnehmen.
Abb.5: Eine erotische Aufnahme Naschys in einem Film, dessen Thema unter anderem das Rasen von Herzen ist, darf natürlich nicht fehlen. Nackt sitzt er im Bade, beträufelt seinen männlich voluminösen Oberkörper mit Schaum und Wasser, raucht eine Zigarre - und wird gleich den Schreck seines Lebens erleiden, wenn Julie das Radio, links im Bild, zu ihm in die Wanne schubst.
6. Aber: der Film schreitet fort. Paul bekommt sein Teil, wenn Julie ihn in der Badewanne röstet. Mireille läuft in einer Schwertklinge, die ihre Eingeweide durch die Gegend spritzen lässt. Letztlich ist nur Julie übrig, inzwischen offiziell Pauls Gattin und im Besitz von Genevièves Erbe. Vergnügt streicht sie ein letztes Mal durch Alarics Anwesen, als der Film, kurz vor Torschluss, eine Wendung nimmt, die ihn wieder auf den rechten Weg zurückgeleitet, von dem er kurzfristig, doch bloß zum Schein!, abgewichen ist. Unter Donnergrollen öffnet sich der Schlund der Hölle und der wirkliche Alaric de Marnac erhebt seine modrigen Knochen, um das zu tun, was der Volksmund über ihn flüstert: die treulosen Frauen zu töten, die sich auf seinem Grund und Boden aufhalten – und nein, das ist diesmal nicht erneut ein Trick, eine Anhäufung von Effekten, eine wohldurchdachte Maskerade: Der Ritter, der da im Schein hoher Fackeln plötzlich vor Julie steht, das ist ein tatsächlicher Untoter, der tatsächlich keinen Spaß versteht. Am Ende von LATIOS DE PÁNICO ist die Welt somit wieder in Ordnung: Paul Naschy hat uns an der Nase herumgeführt, und auf den Nachhauseweg bekommen wir die gleiche Botschaft mit wie in nahezu jedem mir bekannten klassischem spanischen Horrorfilm der 70er und frühen 80er Jahre: Ans Übernatürliche nicht glauben zu wollen, nutzt rein gar nichts, da dem Übernatürlichen es reichlich egal ist, ob man an es glaubt oder nicht, es existiert so oder so.