Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

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Moderator: jogiwan

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Jeroen
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von Jeroen »

Falls noch jemand den Kauf bis jetzt aufgeschoben haben sollte, die ofdb bietet den Titel nun anläßlich der Veröffentlichung der neuen Camera-Obscura-DVD La Orca bis Ende Februar für 19,98 Euro an.
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Adalmar
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von Adalmar »

Kaufen, kaufen, kaufen! :opa: :basi:

10/10
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DrDjangoMD
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von DrDjangoMD »

Vorbemerkung:
Ich hatte eigentlich vor, da mich Prüfungen so lange vom Forum fernhielten mich als Comeback an einer Videokritik von "Mondo Candido" zu versuchen, erstens weil ich neugierig war, wie ich mir mit sowas tue und andererseits, weil ich es als reizvoll ansah bei einem so bizarren Film wie "Mondo Candido" Ausschnitte als Unterlegung meiner Theorien einzufügen...enthusiastisch ging ich auch ans Werk, schrieb ein Drehbuch und drehte es an einem Abend ab...obwohl man mir das Fehlen jeglichen schauspielerischen Talentes ansieht, ist es denke ich ganz gut geworden...alles was ich noch zu tun hatte, war das Rohmaterial zu schneiden und diverse Bilder und Ausschnitte einzufügen...hier kamen die Probleme: Ich weiß nicht was es ist, aber irgendwas stimmte mit meinem Windows Movie Maker nicht, alle zwei Minuten stürzte er ab und ich musste den Computer neu starten, wodurch das Editen meiner Videokritik unmöglich wurde. Ich werde mich in nächster Zeit mal nach einem besseren Filmbearbeitungsprogramm umschauen. Damit ihr bis dahin nicht ganz leer ausgeht, habe ich auf die schnelle das Drehbuch umgeschrieben, damit es die Form von einer üblichen Kritik bekommt.

Handlung:
Candide, ein naiver und weltfremder aber gleichsam gutmütiger und freundlicher junger Mann, lebt in einer idealistischen Welt. Doch die verbotene Liebe zu Kunigunde, der Tochter des Herrschers, zwingt ihn zur Flucht. Aus dem Idyll vertrieben durchstreift er die Welt, stets auf der Suche nach seiner Geliebten, kommt dabei in diverse Abenteuer und trifft diverse Charaktere, die bei ihm selbst eine Entwicklung zu einem erfahrenen Mann bewirken…

Kritik:
Als Vorlage für das Drehbuch diente die Novelle „Candide oder der Optimismus“, die im 18. Jahrhundert von niemand anderem als dem berühmten Aufklärer Voltaire verfasst wurde. Prosperi und vor allem Jacopetti, welcher schon länger eine Filmadaption dieses Stoffes im Sinn hatte, gehen, trotz dem Beibehalten einiger Passagen, recht frei mit ihrer Vorlage um, fügen neue Schlüsselstellen und Aussagen ebenso häufig hinzu wie sie alte weglassen.
Einige Ereignisse lassen sie dabei in der Zeit Voltaires, während sie andere in die heutige Zeit versetzen. So wird in ihrem Film beispielsweise das ideale Land Eldorado durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Amerika, ersetzt und zeitgenössische Ereignisse wie der Krieg in Palästina oder der Konflikt in Nordirland werden zu Stationen auf den Reisen des Candide.
Sie schaffen es jedoch diese gewagte Mischung der Epochen gekonnt umzusetzen, ohne dass sie allzu befremdlich wirken würde. Einerseits hat die Anfangsszene, wie der deutsche Alternativtitel andeutet, stark den Charakter eines Märchens, einer Gattung, in der Zeit und Raum ja ebenfalls nicht deutlich festgelegt sind. Andererseits weisen die Regisseure darauf hin, dass die behandelten Themen in mehreren Epochen Gültigkeit besitzen, indem sie klare Parallelen darstellen. So begegnen uns bestimmte Charaktere in verschiedenen Stationen, wie beispielsweise die preußischen Offiziere, die wir später als irische Soldaten wiedersehen.
Was den Film meiner Meinung nach besonders auszeichnet ist der Dualismus zwischen einer farbenfrohen, ästhetischen, humoristischen Inszenierung und einem durch und durch pessimistischen Weltbild, das sich meiner Meinung nach in drei großen desillusionierenden Thesen, die der Film vermittelt, präsentiert:
Erstens: Optimisten sind Idioten! Dies war schon in Voltaires Original ein Hauptthema, welches besonders durch die Figur des Doktor Pangloss vermittelt wird. Voltaire war ein großer Gegner von Leibnitz Theorie, dass wir in der Besten aller möglichen Welten leben würden, also erschuf er den Charakter Pangloss, den Hofphilosophen des Barons, bei dem Candide aufwächst. Dieser predigt unaufhörlich die These von der Besten aller möglichen Welten, wird aber dabei als eine einfältige und recht negative Figur dargestellt.
Im Film wird er von Jacques Herlin gespielt, der eine grandiose Performance abgibt. Stets von der besten aller möglichen Welten predigend, wird er von dem ganzen Hofstaat bewundert, der ihm, ohne seine Lehren in Frage zu stellen, aufmerksam zuhört und alles was er sagt für bare Münze nimmt. Herlin schafft es jedoch diesen Philosophen ins Lächerliche zu ziehen, ihn wie einen Narren erscheinen zu lassen, wodurch Jacopetti und Prosperi ganz im Sinn Voltaires die Unrichtigkeit seiner Lehren andeuten. Pangloss benimmt sich während er gebildet spricht stets animalisch, frisst wie ein Schwein und ist ununterbrochen hinter Frauen her.
Einen Gipfel erhält die Dreistigkeit des Pangloss als eine feindliche Macht das Schloss des Herzogs angreift. In seinem naiven Aberglauben, dass alles was geschieht, auf die bestmögliche Weise geschieht, feuert er die wilden Feinde bei ihren Vergewaltigungen und dem Zerstören des Idylls an. Auch die Szene in der er durch das erschreckende Nordirland fährt und angesichts all dieses Leidens immer noch davon schwärmt, dass diese Welt, die Beste aller möglichen ist, spricht für sich.
Sollten immer noch Zweifel daran bestehen, dass Pangloss’ Figur als Negativbild, wie ein Philosoph NICHT verfahren sollte, zu verstehen ist, machen es die Regisseure in einer der letzten Szenen überdeutlich. Eine Reihe von Menschen, darunter Candide und Pangloss, versammeln sich um den „Derwisch“ zu sprechen, eine sagenhafte Gestalt, die gottgleich verehrt wird. Während der Derwisch auf Candides Fragen eingeht, reagiert er auf Pangloss abweisend und erbost.
Zweitens: Die Welt ist wunderschön, aber die Menschen machen sie schrecklich! Die Filme von Jacopetti und Prosperi haben stets einen zynischen Unterton und bemühen sich die Verbrechen der Gesellschaft aufzudecken. Gleichzeitig zeigt sich in den Werken der beiden reisebegeisterten Abenteurern eine hingebungsvolle Liebe zur Natur. Ähnliches können wir auch in „Mondo Candido“ beobachten: Die Bilder die sie kreieren sind atemberaubend, es wundert nicht, dass der Kameramann Giuseppe Ruzzolini unter Größen wie Sergio Leone oder Roman Polanski gearbeitet hat. Und wir wollen auch nicht vergessen, was Candide sagt, als ihm eine lebende Statue des Atlas die Weltkugel für eine Weile zum halten gibt: Als er die ganze symbolisierte Welt vor sich sieht meint er inbrünstig „Schön bist du!“.
Alles Furchtbare des Filmes geht ausnahmslos von menschlichen Handlungen aus. So verwandeln sich atemberaubende Settings durch menschliches Verschulden in angsteinflößende Horrorvisionen.
Am besten sieht man dies meiner Meinung nach in der wohl berühmtesten Szene des Filmes, der Schießerei im Mohnfeld. In dieser Szene greifen palästinensische Soldaten israelische Soldatinnen in einem blühenden Mohnfeld an, was zu einem Massaker führt, infolgedessen sich beide Gruppierungen in blutigen Bildern gegenseitig vollkommen auslöschen. Die Regisseure vereinen hier einige wunderschöne Elemente, wie das in warmen Rot gehaltene Feld oder die Mädchen, für welche man außerordentliche Schönheiten gecastet hat. Doch all die ästhetischen Vorraussetzungen, werden durch die menschliche Natur mit grausamer Härte vernichtet. Die Effekte in dieser Szene sind ausgesprochen gut und lassen das Grauen erschreckend real erscheinen. Richtig tragisch wird es jedoch erst, wenn Jacopetti und Prosperi mit den Großaufnahmen rausrücken. Der detaillierte Blick auf die sympathischen Gesichter zweier Sterbender lässt den Zuseher automatisch an eine handvoll schönerer Dinge denken, die diese beiden im Mohnfeld hätten machen können, anstatt sich umzubringen.
Drittens: Der Mensch kann sich ändern, die Menschheit jedoch nicht! Die Quintessenz eines Entwicklungsromans, und als solchen würde ich „Candide“ durchaus betrachten, ist, wie der Name schon sagt, die Entwicklung des Protagonisten von einem naiven zu einem erfahrenen Mann zu zeigen, er geht also davon aus, dass sich Menschen ändern können…und eben dies geschieht ja schließlich auch in „Mondo Candido“. Am Ende hat Candide seine Lektion gelernt, weiß, dass Pangloss mit seiner Besten aller möglichen Welten nicht recht hat und verfügt durch all seine Abenteuer über eine gewisse Menschenkenntnis. So endet zumindest Voltaires Novelle, doch Jacopetti und Prosperi mussten diesen doch recht positiven Ausgang ein wenig versauern: Sie formulieren die These, dass sich Individuen zwar bessern können und aus ihren Fehlern lernen, die Menschheit im Allgemeinen aber niemals besser werden wird, immer die gleichen Fehler machen wird und nie etwas dazulernt. Dies drücken sie neben den schon erwähnten Parallelen in den einzelnen Epochen (Krieg und fanatische Geistliche wird es immer geben) durch die allerletzte Szene des ganzen Filmes aus. Am Ende sieht Candide, mittlerweile geläutert, wie eine Gruppe alter Leute eine Reihe übergroße Symbole, darunter christliche Kreuze und Hakenkreuze, in einen Fluss werfen. Am selben Fluss pflückt eine Gruppe jüngerer Ausgaben Candides Blumen. Ich verstand diese Szene so, dass alte Leute dazu neigen, die Ideale ihrer Jugend zu verwerfen, zu entsorgen, also in einen Fluss werfen. Doch dort werden diese Ideale der Alten von jungen Leuten gefunden, die sie aufnehmen. Damit wollen die Regisseure meiner Meinung nach ausdrücken, dass, obwohl sich Menschen von gefährlichen Welteinstellungen lösen können, die Jugend trotzdem noch von diesen Einstellungen beeinflusst wird; und betrachtet man einige historische Entwicklungen wird man sich Bedauernswerterweise eingestehen müssen, dass Jacopetti und Prosperi mit dieser Theorie gar nicht mal so falsch liegen.
Neben diesen großen pessimistischen Aussagen finden wir in „Mondo Candido“ noch Dutzende kleinere sozialkritische Ansätze, wie Kirchenkritik (übrigens ein Priester, der ein Bildnis Jesus Christi ans Kreuz nagelt, während er die Juden für die Kreuzigung Jesu verantwortlich macht, ist eine wunderschöne Metapher) oder Kritik an der respektlosen und ausnützenden Werbeindustrie – zu sehen in der Szene in denen berühmte amerikanische Identifikationsfiguren wie Columbus oder Amerigo Vespucci (der Typ nach dem Waldseemüller den neuen Kontinent „Amerika“ genannt hat) für typisch amerikanische Produkte zu werben haben – nebst einigen anderen zynischen und desillusionierendsten Behauptungen, die in „Mondo Candido“ zu finden sind.
Damit haben es Jacopetti und Prosperi geschafft selbst Voltaires Vorlage an Pessimismus zu überbieten. Bedenkt man das, könnte man meinen „Mondo Candido“ sei hart anzusehen oder würde allzu sehr deprimieren, aber nein, er ist, trotz all der total negativen Aussagen, für die er steht, überraschend unterhaltsam. Der Film ist so ungeheuer bildgewaltig, so unfassbar Farbenfroh, so absurd, so verrückt und verfügt gleichzeitig über so viele witzige humoristische Szenen, dass er den Zuseher einerseits vergnügt und andererseits zum Nachdenken bringt und das ist für mich das Beste was ein Film überhaupt machen kann.
Der Grund dafür, dass dies überhaupt funktioniert ist zweifellos das Talent der ganzen Crew. Jacopetti und Prosperi wissen ganz genau, wann es Zeit für verrückte Albernheiten und wann es Zeit für ernste Tragik ist, sowohl ihre Regie, als auch die Kameraarbeit Ruzzolinis und die Musik Riz Ortolanis passen sich stets meisterhaft den abwechslungsreichen Stimmungen der einzelnen Szenen an.
Fazit: „Mondo Candido“ vollbringt durch das unfassbare Talent der ganzen Crew das Meisterwerk sowohl mit atemberaubenden Bildern und witzigen Späßen bestens zu unterhalten, als auch durch eine pessimistische und desillusionierende Weltsicht zu bewegen und dafür hat er die Höchstnote verdient. 10/10
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buxtebrawler
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von buxtebrawler »

Wow... einerseits schade, dass es mit deiner Videokritik nicht geklappt hat, andererseits eine absolut hochklassige Rezension! :thup:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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Marcus Daly
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von Marcus Daly »

Dieses völlig durchgeknallte Märchen nach Voltaires "Candid" (sollte man jetzt ja vielleicht auch mal lesen...) macht wirklich Spaß. Ein völlig überdrehter Ritt duch die letzten Jahrhunderte der Menscheit, ein knallbunter Klamauk mit philosophischen Untertönen, Fellini meets Monty Python (7/10).
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Onkel Joe
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von Onkel Joe »

Hab ich als große HB zu Ostern bekommen, hab gar nicht mit soetwas gerechnet :?.
In der HB steckt aber nur der Film drin, kann mir jemand die Bonus DVD dazu kopieren??
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DrDjangoMD
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von DrDjangoMD »

Onkel Joe hat geschrieben:In der HB steckt aber nur der Film drin, kann mir jemand die Bonus DVD dazu kopieren??
Kann ich machen, ich schick dir eine PN ;)
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von buxtebrawler »

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Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von buxtebrawler »

„Sich kratzen und schweigen!“

Gualtiero Jacopetti und Franco Prosperi – diese Namen bringt der Filmkenner in erster Linie mit skandalträchtigen Dokumentarfilmen, italienischen „Mondos“, in Verbindung. Die letzte Zusammenarbeit beider war jedoch ein Spielfilm, der trotzdem nicht ohne „Mondo“ im Namen auskam: Die Verfilmung von Voltaires „Candide oder der Optimismus“, die unter dem Namen „Mondo Candido“ im Jahre 1975 veröffentlicht wurde.

Der Jüngling Candide (Christopher Brown, „Das Ritual“) lebt in paradiesischen Zuständen in den Tag hinein. Aus diesen wird er jedoch eines Tages jäh vertrieben, als er dabei erwischt wird, wie er sich seiner geliebten Kunigunde (Michelle Miller, „Das achte Opfer“) vergnügt. Dies ist der Auftakt zu einer Odyssee durch die Weltgeschichte, während der Candide unablässig nach Kunigunde sucht und dabei Bekanntschaft mit allen möglichen und unmöglichen geschichtlichen Ereignissen und organisiertem menschlichen Versagen, (un)menschlichen Abgründen macht. Nie weit entfernt: Der von der Syphilis gezeichnete, doch unverbesserliche Optimist Panglos (Jacques Herlin, „Der Dämon und die Jungfrau“), der gebetsmühlenartig beschwört, man befände sich jeweils in der besten aller möglichen Welten.

Voltaire war einer populärsten Autoren der europäischen Aufklärung. Seine satirische Novelle „Candide oder der Optimismus“ stellte einen Gegenentwurf zur optimistischen Weltanschauung Gottfried Wilhelm Leibniz' dar. Jacopetti träumte schon länger davon, diese einmal zu verfilmen und setzte zusammen mit Prosperi dieses Vorhaben schließlich in die Tat um, indem er den Stoff aktuellen Ereignissen und Gegebenheiten anpasste. „Mondo Candido“ beginnt in einer märchenhaften, betont kitschigen, an den Garten Eden erinnernden Fantasiewelt und bewegt sich fortan episodenhaft, befreit von Zeit und Raum, von Epoche zu Epoche, wo Candide mit den unterschiedlichsten Gefahren konfrontiert wird. Inquisition und Krieg prägen seine Stationen bin in die Gegenwart hinein, wo sich Candide im nordirischen Bürgerkrieg, im kapitalistischen Manhattan und im Palästina-Israel-Konflikt wiederfindet.

Die für ihren Kulturpessimismus berüchtigten italienischen Filmemacher inszenierten ein bizarres, surreales Märchen voll beißendem Zynismus und sarkastischem, schwarzem Humor und legen damit den Finger in die Wunden der blutgetränkten Menschheitsgeschichte. Sie gehen dabei metapherreich und künstlerisch-symbolträchtig vor, ohne jedoch jemals ihre eindeutigen Aussagen zu verschleiern. Der Tonfall indes ist nicht immer einheitlich; so legen es einige Szenen auf eine Absurdität an, die weniger für Lacher als vielmehr für verdutzte Gesichter beim Publikum sorgen dürfte, während andere auch visuell gewisse Härten offerieren, die sicherlich unterschiedlich aufgefasst werden, und wieder andere nur so vor pechschwarzem Humor und/oder scharfzüngigem Wortwitz und blasphemischen Tendenzen strotzen, womit sie stark an britischen Humor à la Monty Python erinnern. Exemplarisch sei hierfür eine meiner Lieblingsepisoden dieses Films genannt, Candides Besuch im bürgerkriegserschütterten Nordirland. Die vier sich durch die Handlung ziehenden Hauptcharaktere – Candide, Panglos, Candides Begleiter (dessen Name mir entweder entfallen ist oder der nie namentlich genannt wird) und Kunigunde – stehen stellvertretend für unterschiedliche menschliche Charaktertypen und Lebensentwürfe. Optimist Panglos ist eigentlich der größte Zyniker, wenn er stets in verantwortlicher Rolle auftritt und sich zum aktiven, willfährigen Diener des jeweiligen Zeitgeists und Systems macht, währenddessen aber von der besten aller möglichen Welten schwärmt. Kunigunde ist das Glück, oft zum Greifen nah, dann wieder so fern, nicht selten trügerisch und letztlich doch anders als erwartet. Und während Candides zumindest in diesem Text namenloser Begleiter das Leben so nimmt, wie es jeweils kommt, sich damit soweit arrangiert, dass er im Hier und Jetzt das Optimum an Genuss und Lebensfreude für sich herausholen kann, bleibt Candide ein Getriebener, rastlos in die Ferne schweifend und liebenswürdig-naiv nach seiner idealisierten Kunigunde strebend.

Jacopetti und Prosperi sowie die 1970er-Dekade wären nicht eben jene, würde der offene Umgang mit Nacktheit ein Problem darstellen. So bekommt man auch hier ganz selbstverständlich einige nackte Tatsachen zu sehen, natürlich, ungeschönt und frei von Prüderie. Den Vogel in Sachen Sexismus schießt man aber ab, als man sich unter eine israelische Frauenarmee mischt, die selbstredend aus einer Ansammlung attraktiver Sexbomben besteht, die man beim Duschen belästigt. Diese im Kontext des Films mir weitestgehend sinnbefreit erscheinende, aber sehr schön anzusehende Szenenabfolge mündet schließlich im Höhepunkt des Films, jener ästhetisierten Schießerei zwischen Frauenarmee und feindlichen Soldaten in einem blühendem Mohnfeld, wo der Kontrast zwischen wahnsinniger Schönheit und ebenso wahnsinniger, hässlicher Gewalt selten so deutlich wurde. Und ebenso ästhetisch wie die blühenden Felder setzt man das Sterben der von Kugeln durchlöcherten Soldaten in Szene, blutige Schusswunden werden in ausgewalzten Zeitlupeneinstellungen verursacht. Generell zieht sich eine hervorragende, über die Schönheit der Natur schwelgende und auf die Gräuel der Menschheit draufhaltende Kameraarbeit durch den gesamten Film, der, unterlegt von einem einmal mehr wunderschönen Soundtrack Riz Ortolanis, temperamentvoll und bisweilen wütend innerhalb pompöser Ausstattung an den verschiedensten Orten gedreht wurde und die ursächlich zugrunde liegende Attitüde irgendwo zwischen aufgeklärtem Mahnen und verzweifeltem Weltschmerz humoristisch aufbereitet zeigt.

Diese weitere Italo-Wundertüte, bei der man wahrlich nie sicher sein kann, was als nächstes passiert und deren von der Literaturvorlage abweichendes Ende in mehrere Richtungen interpretierbar ist, ist ebenso schwer zu beschreiben wie zu bewerten. Im Zuge meiner relativ unvorbereiteten Erstsichtung missfiel mir zunächst ein wenig der inhaltliche Stil mit all seinen eher selten liebenswürdigen, vielmehr plump-provokanten Absurditäten, insbesondere während des in der Vergangenheit angesiedelten Abschnitts. Mit zunehmender Spieldauer aber fand ich besseren Zugang und gewann „Mondo Candido“ an Klasse, entsprach meinem Geschmack für Satire. Zudem lässt sich angenehmerweise unschwer ein Bezug zu heutigen Zeit herstellen, in der noch immer vielerorts die Vorzüge ihrer überbetont und die Blicke von Krieg, Tod, Elend und schreienden Ungerechtigkeiten abgelenkt werden, vorzugsweise von denjenigen, die all das mitzuverantworten haben, während andere Bescheidenheit und eine realistische Einschätzung des eigenen Platzes auf der Gewinnerseite des Erdballs mit Demut und Schicksalsergebenheit verwechseln und damit das Märchen von der „besten aller möglichen Welten“ an- und widerspruchslos aufrechterhalten. Anspruch, Kunstfilm und Exploitation liegen bei „Mondo Candido“ ebenso dicht beieinander wie Genie und Wahnsinn.

Ich zücke zunächst vorsichtig und noch unter dem Eindruck des sich einer Genrezuordnung entziehenden, ebenso originellen wie außergewöhnlichen Films eine etwas ratlose 7/10. Eine Zweitsichtung wird mein Urteilungsvermögen beizeiten mit Sicherheit schärfen, zweifelsohne jedoch handelt es sich um einen besonderen Film unter den vielen besonderen Filmen Italiens, der sich zwischen ganz vielen Stühlen breitgemacht hat. Selten jedenfalls waren Pessimismus und Desillusion so kunterbunt, vergnügt und aufgekratzt wie hier.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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buxtebrawler
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Re: Mondo Candido - G. Jacopetti, F. Prosperi (1975)

Beitrag von buxtebrawler »

Nello Pazzafini hat geschrieben:Man muss Camera Obscura und den italienischen Machern der Dokus die als Bonus DVD beilegen danken, ich habe schon lang nicht mehr solch detaillierte & grandiose Interviews gesehen und hiermit sollten ja all die Gerüchte und negativen Kommentare über Jacopetti & Prosperi hoffentlich relativiert sein. Die beiden sind mir nun noch sympatischer als sie mir schon waren und ich bin glücklich das Italien auch solche "Filmemacher" ausgespuckt hat - Journalisten & Abenteurer, die dem damaligen Publikum die grausame Welt um die Ohren geschleudert haben.
Ja, das Bonus-Material ist wirklich ganz große Klasse! Das fast zweistündige Interview mit Jacopetti und Prosperi ist sehr aufschlussreich, hochspannend, nie langweilig und sollte von Interesse für jeden Freund und Kritiker der beiden sein sowie für jeden, der sich für das Phänomen der Mondo-Filme in irgendeiner Weise interessiert.

Die darüber hinaus enthaltenen Interviews habe ich mir noch nicht angeschaut. Welch eine Fülle an Informationen!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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