bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Metallica: Some Kind of Monster

Cringe

„Wir schreiben das Album unseres Lebens!“

Metallica waren einst eine enorm bedeutende Band für die Entwicklung des Metal-Genres. Ihr Debüt-Album „Kill ‘em All“ aus dem Jahre 1984 zählt zusammen mit dem Slayer-Debüt zu den subgenrekonstituierenden und -definierenden Grundpfeilern des Thrash Metals; mit dem Nachfolger „Ride The Lightning“ legten sie noch eine Schippe drauf und mit dem Drittwerk „Master Of Puppets“ waren sie auf ihrem Zenit, gelang ihnen doch ein Klassiker und Meilenstein, der weit über den Thrash-Metal-Rahmen hinaus als eines der besten Metal-Alben aller Zeiten gilt. Mit ihrer punkigen Attitüde, sympathischen Fan-Nähe, ungekünstelten Authentizität und Integrität machten sie entscheidende Unterschiede innerhalb des Musikgeschäfts, an das sie sich fortan nicht anzupassen brauchten, sondern das sie sich an sie (und ihre Szene) anzupassen zwang. Nach dem tragischen Unfalltod ihres ikonischen Bassisten und Gründungsmitglieds Cliff Burton verfiel die Band trotz tiefsitzender Trauer nicht in Agonie, sondern spielte mit Burtons Nachfolger Jason Newsted das Album „…and Justice for All“ ein, das aufgrund seines Sounds nicht unumstritten blieb, in Sachen Songwriting aber an die vorausgegangenen Großtaten anknüpfen konnte. Das waren die ‘80er, und der Verfasser dieser Zeilen war Fan.

Zu Beginn der 1990er, als sich die Musikbranche wandelte und manch Metal-Act einen schwereren Stand hatte, glückte Metallica mit dem selbstbetitelten Album einen Millionenseller, der durch starke Songs die Thrash-Attitüde der 1980er mit einer neuen musikalischen Offenheit und dem Zulassen anderer Einflüsse verband. Es folgte eine jahrelange Mammuttournee rund um den Globus, in deren Anschluss sich die Band eine Pause gönnte. Dies wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, die Segel zu streichen. Stattdessen veröffentlichte man mit „Load“ und „Reload“ in der zweiten Hälfte der 1990er zwei weitestgehend belanglose Langweiler-Alben, die wie das Werk einer sattgewordenen 08/15-Rockband klangen, und änderte sogar das Bandlogo in einen weniger an die Metal-Ikonographie angelehnten Schriftzug. Es sollte gar noch schlimmer kommen: Nach einem symphonischen Live-Album (ächz…) sollte das nächste Studioalbum angegangen werden, doch hatte man Bassist Jason Newsted innerhalb einer toxischen Bandatmosphäre endgültig vergrault. Die Egos der beiden Band-Alphatierchen James Hetfield und Lars Ulrich prallten aufeinander und Hetfield kämpfte mit seinem Alkoholismus.

Als man die Dokumentarfilmer Joe Berlinger und Bruce Sinofsky für einen Making-of-Film der Albumproduktion mit Stammproduzent Bob Rock heranzog, ahnte man noch nicht, dass sich die Dreharbeiten über zweieinhalb Jahre hinziehen würden und es um weitaus mehr gehen sollte als das Einholzen eines Dutzends neuer Metallica-Songs. Der Im Jahre 2004 – ein Jahr nach dem Album „St. Anger“ – veröffentlichte, 140-minütige Film dokumentiert eine Band am Abgrund, die sich nur mit professioneller psychologischer Hilfe zurückkämpfen kann.

Auf eine äußerst knapp gehaltene Bestandsaufnahme zu Beginn folgt eine befremdliche Mischung aus Musikproduktionsprozessen und Therapiesitzungen mit dem für monatlich 40.000 $ angeheuerten Psychologen Phil Towle, der sich permanent an der Seite der auf drei Mitglieder geschrumpften Band befindet – zunächst immer mal wieder unterbrochen von privaten Situationen der Bandmitglieder, die dadurch anscheinend versuchen, nahbar zu wirken. Dies will aber nicht so recht gelingen. Anscheinend ohne vorausgegangene Absprache verschwindet James plötzlich für zwei Wochen nach Sibirien, um Wodka zu trinken und unschuldige Bären abzuknallen, denen der Winterschlaf noch in den Knochen steckte und deren Fleisch nicht einmal verzehrt werden kann. Der Tier- und Musikwelt wäre viel Leid erspart geblieben, hätte er die Waffe einfach gegen sich selbst gerichtet. Nach seiner Rückkehr prahlt er vor der Kamera damit und zeigt stolz Bilder der Bärenleichen. Was für ein Psychopath!

Nach einem Streit mit Lars lassen die Filmemacher per „MTV News“-Auszug wissen: James hat sich in eine Rehaklinik begeben. Niemand weiß, wie lange er dortbleiben wird, den Kontakt zu Lars und Kirk bricht er komplett ab. Zumindest zeitweise blieben Towle und das Filmteam an der Seite der beiden. Sie zeigen, wie sich Lars mit seinem Vater trifft, der wie ein Schäfer aussieht und das geplante Intro scheiße findet. Dann wird auch noch Dave Mustaine, Kirks Vorgänger zu Demo-Zeiten und nach seinem Rauswurf Oberhaupt der Band Megadeth, mit der er ebenfalls Millionen an Tonträgern verkaufte (und mit beschissenen Alben bis heute verkauft), mit seinem selbstmitleidigen Gejammere Teil der Therapie. Jason Newsted kommt kurz zu Wort, ohne auf die anderen zu treffen. Dass er mit seiner neuen Band Echobrain recht bald einen Gig hinlegt – direkt eine größere Nummer –, während Metallica mit ungewisser Zukunft auf Eis liegen, erschreckt Lars, den Jason nach dem Gig anscheinend nicht treffen möchte.

Als James nach einem Jahr (!) zur Band zurückkehrt, wird er immer divenhafter. Er möchte nur vier Stunden täglich mit den anderen im Studio verbringen und verbietet ihnen, nach seinem „Feierabend“ ohne ihn weiter am neuen Album zu arbeiten – wozu er auch das bloße Anhören bereits eingespielten Materials zählt. Trotzdem kommen die Aufnahmen in Gang, den Bass spielt Bob Rock in Ermangelung eines Metallica-Bassisten ein. Lars wiederum hängt in seinem Privatanwesen seine einst teuer eingekauften Gemälde ab – potthässliche Dinger! –, um seinen „neuen Lebensabschnitt“ zu symbolisieren, und lässt sie zu einer Versteigerung bringen, in deren Vorfeld sie ausgestellt werden. Der Film zeigt Lars mit seiner Frau auf jener Ausstellung und bei der Versteigerung, die in Auszügen dokumentiert, wie irgendwelche Snobs Unsummen für das Gekleckse abdrücken und Lars‘ Bankkonto einmal mehr aus allen Nähten platzen lassen. Zuvor war er gegen die Dateitauschbörse Napster ins Feld gezogen, was der Film auch kurz anreißt.

Wirklich interessant wird die Bassistensuche, denn diverse Szeneprominenz kommt zum Vorspielen vorbei. Bekannterweise entschied man sich für den damaligen Ozzy-Osbourne-Bassisten Robert Trujillo, einen herausragenden Musiker und offenbar humorvollen, sympathischen Menschen, der seither sein Talent an Metallica verschwendet. Im vom Film dokumentierten Du-bist-in-der-Band-Gespräch schiebt man ihm direkt eine Million US-Dollar zu. Psycho-Doc Phil mit seinen scheußlichen Pullovern würde anschließend gern noch länger mit Metallica zusammenarbeiten und erwägt sogar, in deren Nähe zu ziehen, wird aber entlassen, weil die Band das Gefühl hat, er würde sie von ihm abhängig machen wollen. Es folgen der erste Auftritt seit Jahren für die Sendung „MTV Icon“, der „St. Anger“-Videodreh im San-Quentin-Knast, ein idiotisches Statement Lars‘ zu aggressiver Musik und ein paar Impressionen der natürlich umjubelten St.-Anger-Tour. Uff.

Den Reaktionen nach zu urteilen ist „Metallica: Some Kind of Monster“ auf unterschiedliche Weise lesbar. Viele sahen darin offenbar schonungslos ehrliche Einblicke in Privatleben und Psyche der Bandmitglieder, eine Entmystifizierung von „Metal-Göttern“ oder nahbare, menschliche Musiker, die sich dank psychologischer Hilfe und Selbstreflektion wieder zusammenraufen und zu einem intakten Bandgefüge zurückfinden. Ich hingegen sehe in erster Linie zwei narzisstische Arschlöcher, von denen der aus einem religiös verbrämten, fundamentalistischen Elternhaus stammende (was im Film unerwähnt bleibt) James die größeren Minderwertigkeitskomplexe mit sich herumschleppt, die er früher mit gutem Songwriting, düsteren Songtexten und Bier bekämpfte, als nun um Reife bemühter Familienvater aber lieber arglose Bären ermordet, Wasser trinkt und Kacksongs schreibt. Sein Kompagnon Lars geriert sich als arroganter Egomane mit Napoleon-Komplex, der manch fiese Spitze absondert und negative Einflüsse von der Band fernzuhalten versucht, ohne zu ahnen, dass sie selbst ihr größter negativer Einfluss geworden ist. Beide scheinen zu höchst unangenehmen Zeitgenossen geworden zu sein. Ein Lichtblick ist Lead-Gitarrist Kirk Hammett, der sein eigenes Ego zurückzustellen versteht und, immer wieder zwischen den Fronten stehend, kraft seines friedfertigen Wesens um Ausgleich bemüht ist und einigen Humor beweist. Produzent Bob Rock ist ein erstaunlich entspannter Typ, den anscheinend nichts aus der Ruhe bringen kann – der Sound auf „St. Anger“ wurde trotzdem Mist.

Es hätte ein spontan wirkendes Garage-Metal-Album werden sollen, klingt aber bemüht und verkrampft, was der im Film zum Teil dokumentierte Entstehungsprozess unterstreicht. „Metallica: Some Kind of Monster”, der immer mal wieder um ein wenig altes Archivmaterial ergänzt wird und auch die kleinen Kinder der Protagonisten ablichtet, ist durchaus spannend geschnitten und aufschlussreich anzuschauen, sofern man Fremdscham erträgt und sich für Blicke hinter die Kulissen eines Millionengeschäfts wie Metallica interessiert. Dadurch, dass er sich nie ganz von seiner ursprünglichen Intention eines Making-ofs verabschiedet, bleibt er in seiner psychologischen Komponente jedoch sehr oberflächlich. Konkrete Streitereien zwischen Lars und James bekommt man nur wenige zu sehen, diese zudem nur sehr kompakt. Dies lässt das alles – die übertriebenen Reaktionen James‘, das Hinzuziehen eines Psychologen, der ab und zu einen schlauen Satz einwirft, das Brimborium um diesen Film – noch mehr wie Pillepalle und Kindergarten, wenn nicht gar Luxusprobleme obszön reicher Rockstars erscheinen. Die Ursachen der Probleme werden nicht vertieft – bzw. wenn dem so war, war entweder das Kamerateam nicht anwesend oder die Szenen fanden nicht in den Endschnitt.

Insofern ist „Metallica: Some Kind of Monster” auch eine vertane Chance, um wirklich relevante Themen zu beleuchten: Was macht ein derartiger Erfolg mit jemandem aus der Unter- oder unteren Mittelschicht? Und mit Menschen, die ihr Leben lang um Anerkennung gebuhlt hatten? Was bedeutet eine solche Mammut-Tour wie jene nach dem kommerziellen Durchbruch mit dem selbstbetitelten Album für jemanden auf psychologischer Ebene? Wie lassen sich Welttourneen mit der Familie vereinbaren? Die Filmemacher Joe Berlinger und Bruce Sinofsky dokumentierten unfreiwillig eine Band, die am Ende war und sich besser aufgelöst hätte, aber künstlich am Leben erhalten worden zu sein scheint. Metallica degenerierten endgültig von einer radikalen Underground-Band zu einem Unterhaltungsunternehmen für ein Mainstream-Eventpublikum, fallen zusätzlich negativ mit unhörbaren Kollaborationen wie „Lulu“ (2011, mit Lou Reed) auf oder versuchen, ihren ‘80er-Sound zu kopieren. Für mich existiert diese Band seit dem Tourabschluss zum selbstbetitelten Album nicht mehr – und dieser Film hat mich in meiner Haltung bestätigt.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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The Boogeyman

Die (verdammt unheimliche) Kurzgeschichte „Das Schreckgespenst“ aus US-Autor Stephen Kings Sammelband „Nachtschicht“ stammt aus dem Jahre 1973 und ist, da dem psychologischen Horror zuzurechnen, nicht ohne Weiteres verfilmbar. Die einzige mir bekannte Verfilmung ist ein Kurzfilm von Regisseur Jeff Schiro und datiert aufs Jahr 1982. Mit „The Boogeyman“ schaffte es im Jahre 2023 – gewissermaßen zum fünfzigsten Jubiläum der literarischen Vorlage – eine von Nachwuchsregisseur Rob Savage („Dashcam“) inszenierte, US-amerikanisch-kanadisch koproduzierte abendfüllende Verfilmung in die Kinos. Ursprünglich sollte der Film direkt auf Streaming-Plattformen anlaufen, aufgrund der positiven Reaktionen auf die Testverführungen wurde ihm aber dennoch ein Kinostart zuteil (ähnlich wie zuvor „Smile – siehst du es auch?“ und „Evil Dead Rise“).

Psychotherapeut Will Harper (Chris Messina, „Birds of Prey: The Emancipation of Harley Quinn“) und seine Töchter Sadie (Sophie Thatcher, „Yellowjackets“) und Sawyer (Vivien Lyra Blair, „The Guilty“) haben gerade ihre Ehefrau bzw. Mutter Cara bei einem Unfall verloren. Mit der Trauerarbeit tut sich die kleine Familie schwer; Will scheint sich lieber in Arbeit zu stürzen, statt den schmerzhaften Verlust zu nah an sich heranzulassen, wodurch er seinen Töchtern jedoch kaum eine Stütze sein kann. Die Fragen der heranwachsenden Sadie blockt er ab, in der Schule wird sie von Mitschülerinnen geschnitten. Und die kleine Sawyer fürchtet sich vor Dunkelheit, der man zu begegnen versucht, indem man ihr eine Mondlampe überantwortet. Gemeinsam befinden sich beide Mädchen in einer Gesprächstherapie bei Frau Dr. Weller (LisaGay Hamilton, „The Practice“). Eines Abends, als Will eigentlich den Feierabend antreten will, steht unvermittelt der verzweifelte und aufgelöste Lester Billings (David Dastmalchian, „Blade Runner 2049“) vor seiner Tür und bittet um ein Gespräch. Ein unheimliches Schattenwesen habe seine Kinder auf dem Gewissen, er fertigt sogar eine Bleistiftskizze der Kreatur an. Als Billings bemerkt, dass Will ihm nicht glaubt, schleicht er durchs Haus der Familie und nimmt sich dort schließlich das Leben. Doch dadurch scheint er den Fluch mitgebracht zu haben, denn von nun an glaubt Sawyer, etwas verstecke sich in ihrem Wandschrank…

Mit „The Boogeyman“ versucht sich Rob Savage erstmals an einem ganz klassischen Genre-Horrorfilm, wie er mit nur wenigen Änderungen auch aus den 1980ern stammen könnte. Er nimmt sich Zeit, um eine Atmosphäre der Furcht heraufzubeschwören und appelliert dabei an menschliche bzw. kindliche Urängste vor dem Monster unterm Bett respektive im Schrank und der Dunkelheit. Durch die thematische Verknüpfung mit dem Verlusttrauma entsteht eine bedrückende, unheimliche Stimmung, die von der mit Unschärfen arbeitenden, suggestiven Kameraführung verstärkt wird. Ihr Bemühen um originelle Perspektiven sorgt zudem ein ums andere Mal für Hingucker. Dass der Film zum Kammerspiel würde, wird durch die zusätzlichen Schauplätze Schule, Therapeutin und Billings‘ Haus verhindert. Darüber, dass es hier um eine physische Manifestation statt lediglich um Hirngespinste geht, lässt einen die Handlung indes nicht allzu lange im Dunkeln, ohne jedoch viel vom „Boogeyman“ zu zeigen.

Jene Handlung wird nach den Ereignissen um Lester Billings vorrangig aus der Perspektive der Töchter erzählt, was verdeutlicht, dass ihr Vater zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um sich der Sorgen und Ängste seines Nachwuchses anzunehmen. Der „Boogeyman“, der, wie sich im Finale zeigen wird, wenig Humanoides an sich hat, scheint sich von schmerzhaften Traumata gebeutelte Opfer zu suchen, deren Schwächen er ausnutzt. Wie genau er diese wittert, bleibt aber genauso mystisch wie die Weise, mit der er sich offenbar rasend schnell zwischen kilometerweit entfernt liegenden, nun ja, Wandschränken unbemerkt hin- und herbewegen kann. Wenn er perfide flüsternd Stimmen imitiert, um sich anschließend in Blitzgeschwindigkeit auf seine Opfer zu stürzen, stellt man solche Überlegungen indes auch nicht mehr an. Generell trägt auch die Geräuschkulisse prima zum gediegenen Grusel bei. Im actionreichen Finale wird dieser für eine direkte Konfrontation aufgegeben, in deren Zuge sich das Monster als Mischung aus dreidimensional modelliertem, also plastischem Kopf und gut umgesetzter CGI entpuppt. Creature Design und Spezialeffekte sind also zufriedenstellend ausgefallen, nehmen dem Film aber – wie so viele Genrevertreter – am Ende alles Subtile.

Savages „The Boogeyman“ orientiert sich lediglich bis zu Billings Tod an Kings Vorlage und entwickelt sich darin, wie er die Geschichte weiterspinnt, zu einem sehr allegorischen Film, dessen Ausgang zu sagen scheint, für einen Neuanfang müsse alles Bisherige zurückgelassen werden. Dabei präsentiert er sich als Kreuzung aus Psycho-Horror und Creature Feature – ein gewagter Spagat, dem etwas mehr Tiefgang ergänzend zur zuweilen etwas arg plakativen Küchenpsychologie nicht geschadet hätte. Doch, und das ist das Wichtigste: Er erreichte mich! Ich gruselte mich, erschrak, bekam Gänsehaut und fieberte mit. Das sind Zeichen dafür, dass ein Horrorfilm funktioniert. Dieser hier ist im besten Genre-Sinne konventionell ausgefallen, hat dabei seine Hausaufgaben aber gemacht und erinnert an die Höhepunkte der Direct-to-Video-Ära in den 1980ern und frühen 1990ern, wobei er diese schauspielerisch aufgrund der herausragenden Leistungen insbesondere Dastmalchians, Thatchers und der kleinen Blair übertrumpft.
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The King of Comedy

„Vor dir an deinem Tisch sitzt der neue King of Comedy!“

Ein einfacherer, leichterer Film hatte es werden sollen – so hatten es sich US-Ausnahmeregisseur Martin Scorsese und sein damaliger Stammmime Robert De Niro nach der anstrengenden Arbeit an „Wie ein wilder Stier“ Überlieferungen zufolge zumindest vorgenommen. Doch der nach einem Drehbuch Paul D. Zimmermanns inszenierte und 1982 veröffentlichte „The King of Comedy“ wurde zu einer oft bitteren Melange aus Tragikomödie, Mediensatire und Charakterstudie.

„Mit ‘ner Kanone vor Augen wird er auf einmal freundlich!“

Der New Yorker Rupert Pupkin (Robert De Niro) ist felsenfest davon überzeugt, der nächste Stern am Stand-up-Comedy-Himmel zu sein. Sein Idol ist der Late-Night-Show-Star Jerry Langford (Jerry Lewis, „Der Bürotrottel“), von dem er unbedingt entdeckt werden will. Als es Rupert eines Tages gelingt, Langford bei der Flucht vor aufdringlichen Fans zu helfen, liegt er diesem während der kurzen gemeinsamen Taxifahrt mit seinem vermeintlichen Talent in den Ohren. Langfords eher abwehrende Reaktion auf Ruperts Bitte, sich mit seinem komödiantischen Potenzial auseinanderzusetzen, versteht Rupert falsch und versucht in der Folge, zu Langford vorzudringen. Gut gemeinte Ratschläge, es doch erst einmal innerhalb der Clubszene mit Auftritten zu versuchen und an seinem Programm zu feilen, lehnt er ab – er fühlt sich zu Höherem berufen. Aus seinen Träumen werden Wahnvorstellungen, in die er sich derart weit hineinsteigert, dass er schließlich zusammen mit seiner nicht minder entrückten Freundin Masha (Sandra Bernhard, „Cheech & Chong’s heiße Träume“), die von Langford schwärmt und ihm ebenfalls nahezukommen versucht, den Showstar entführt. Sein Ziel: Einen Auftritt in der Sendung zu erpressen…

„Besser ein König für eine Nacht als ein Bettler fürs Leben!“

Mit Auszügen aus der Jerry-Langford-Show zeigt uns Scorsese, worum es oberflächlich betrachtet überhaupt geht. Ruperts Figureneinführung und Charakterisierung geht mit visualisierten Fantastereien einher, die ihn als einen Traumtänzer zeichnen, der dabei jedoch durchaus charmant sein kann, also nicht grundsätzlich abschreckend auf seine Mitmenschen wirkt. Durch seine Aufdringlichkeit und den Umstand, dass er als Mittdreißiger noch bei seiner Mutter lebt und der Dreh seines Bewerbungsvideos vor einem imaginären bzw. durch Pappfiguren symbolisierten Publikum immer wieder durch Frau Mamas ihn zur Ruhe mahnendes Organ gestört wird, erhält „The King of Comedy“ groteske Züge. Zum Running Gag avanciert, dass kaum jemand seinen Namen richtig ausspricht. Der Realitätsverlust, aus dem heraus er sich mit Langford befreundet wähnt und glaubt, mit seiner Komikerkarriere direkt ganz oben anfangen zu können, wird aufgrund ihres Fremdschamgehalts zunehmend unangenehm zu beobachten; zumal fast alle zumindest zunächst sehr freundlich zu ihm sind, er aber regelrecht zwanghaft jede Geduld überstrapazieren muss.

Wir sehen einem recht einsamen, aber von sich selbst eingenommenem Narzissten mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein bei überschaubarem Talent dabei zu, wie er immer mehr zum obsessiven Nachsteller wird, der auch vor einem Kapitalverbrechen wie einer Entführung nicht zurückschreckt. De Niro spielt ähnlich eindrucksvoll wie in „Taxi Driver“ einen wahnhaften, sich sozial immer mehr entfremdenden Außenseiter, der seine Ziele auch mit Gewalt durchzusetzen bereit ist – jedoch auf eine ganz andere Weise: War Travis Bickle aus „Taxi Driver“ ein Mann mit einer gefährlichen, respekteinflößenden Aura, wirkt Rupert Pupkin lange Zeit eher wie ein nicht ernstzunehmender Hanswurst. Das Resultat jedoch ist ein Ähnliches, wenngleich „The King of Comedy“ sein mediensatirisches Element in Form eines für Rupert versöhnlicheren Showdowns und Finales ausspielt.

Dessen Plan scheint nämlich aufzugehen, was Scorsese zum Anlass nimmt, zumindest einen Moment lang die Erwartungshaltung seines Publikums zu enttäuschen: Es wirkt, als wolle er ihm Ruperts Nummer vorenthalten. Als er sie schließlich doch zeigt, erfährt man auf komödiantische Weise Ruperts tragische Lebensgeschichte, womit wiederum eine andere Erwartungshaltung unterlaufen wird; nämlich die, dass von Rupert nur völliger Murks käme. Tatsächlich ist diese Nummer mindestens clubgeeignet – und Ruperts völlige Fixierung auf seine vermeintliche Showkarriere in Kombination mit seiner ehrlichen, wenn auch völlig überzogenen Begeisterung und Leidenschaft wesentlich authentischer als das, was Langford seinem Publikum seit Jahren allabendlich präsentiert. Dieser von US-Komiker Jerry Lewis als überraschend ernste Charakterrolle gespielte Medienmensch hadert mit seinem Beruf, ist genervt von seiner Show und erst recht seinen Fans. Der Epilog ist in gewisser Weise gar visionär (durch Gesetzesübertretungen zum gefragten Medienpromi), könnte aber auch schlicht ein weiterer Tagtraum Ruperts sein.

Mit ihren artifiziellen comichaften Kulissen und ihrem tragikomischen Inhalt könnte diese Geschichte auch gut einem Batman-Comic aus den 1980ern entsprungen sein, die oftmals einen ähnlich urbanen Schauplatz und ein ähnliches Gespür für psychische menschliche Abgründe irgendwie schillernder Figuren aufwiesen. Passenderweise griff der im Batman-Kosmos spielende „Joker“-Kinofilm aus dem Jahre 2019 Motive aus „The King of Comedy“ auf. Wie sich Lewis und De Niro hier schauspielerisch ergänzen und gewissermaßen ihre Rollen tauschen – Lewis als grummeliger, ruhiger Typ, De Niro als feildrehender Kasper – ist die hohe Schule. Zu dieser gesellen sich diverse sich selbst spielende damalige Promis wie Ed Herlihy, Lou Brown, Ton Randall, Joyce Brothers, Victor Borge, Ellen Foley und Don Letts in Form von Gastauftritten, auch die Punkband The Clash taucht kurz auf und Martin Scorsese legt mitsamt seiner Familie Cameos hin.

„The King of Comedy“ zeigt, wie gut Ruperts groteske Existenz letztlich in einen nicht minder grotesken Medienzirkus passt und trifft genau meinen Nerv, was ihn zu einem meiner liebsten Scorseses macht. Seltsamerweise ist er damals an den Kinokassen schwer gefloppt. Ob es an der gegen den Strich gebürsteten Hauptbesetzung oder an einem für diese Art von Medien-/Fernseh- bzw. Komikerbranchen-Farce noch nicht bereiten Publikum lag, darüber lässt sich nur mutmaßen.

8,5 von 10 Late-Night-Show-Auftritten für den neuen König!
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Polizeiruf 110: Der Teufel hat den Schnaps gemacht

„Ist ja widerlich…“

In der 69. Episode der DDR-Fernsehkrimireihe „Polizeiruf 110“ ermittelt Hauptmann Peter Fuchs (Peter Borgelt) in seinem bereits 43. Fall, bekommt mit Oberleutnant Manfred Bergmann (Jürgen Zartmann, „Rotfuchs“) aber einen jungen Debütanten zur Seite gestellt, der insgesamt an lediglich vier Fällen beteiligt sein sollte. Das Buch zu „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“ stammt von Manfred Mosblech, der auch höchstpersönlich die Inszenierung übernahm – sein bis dahin neunter „Polizeiruf“. Dieser wurde von April bis Juni 1980 in Potsdam und Berlin gedreht, am 18. Januar 1981 erstausgestrahlt und zählt zu den aus der Masse der DDR-„Polizeiruf 110“-Filme hervorstechenden Arbeiten.

„Das ist unvorstellbar!“

Theo Lute (Ulrich Thein, „Der Direktor“), Betreiber einer Autowerkstatt, ist zum Alkoholiker geworden, nachdem er seinen einzigen Sohn bei einem tragischen Autounfall verloren hat, an dem er seiner Frau (Annekathrin Bürger, „Verwirrung der Liebe“) die Schuld gibt. Entsprechend zerrüttet ist seine Ehe, die mittlerweile nicht mehr als eine Zweckgemeinschaft darstellt und in der Theos Frau co-abhängig geworden ist. Eines Morgens tritt er nicht zur Arbeit in seinem Betrieb an, sondern ist verschwunden. In einer Mischung aus Geständnisschrieb und Abschiedsbrief räumt er ein, jemanden umgebracht zu haben, und deshalb nicht mehr leben zu wollen. Seine Frau alarmiert die Polizei, woraufhin sich Oberleutnant Bergmann auf die Suche nach Theo Lute macht. Dieser möchte sich an einem Baum im Stadtwald aufknüpfen, bringt dies aber nicht fertig und besorgt sich stattdessen zwei Flaschen Schnaps, um sich einmal mehr bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Wird es der Polizei gelingen, ihn rechtzeitig zu finden, bevor er sich möglicherweise doch noch etwas antut? Wer ist sein Opfer – und wie kam es zu dessen Tod…?

„Der sieht ja aus wie tot!“ – „Nein, wie ein Alkoholkranker.“

Anhand dieses exemplarischen Einzelschicksals (an dem indes einiges weitere dranhängen) greift dieser „Polizeiruf“ die – hüben wie drüben – Volksdroge Nummer eins, den Alkohol, auf (in Ermangelung anderer Drogen quasi auch die einzige in der DDR). Es geht um Alkoholismus, dessen Gründe – und mögliche schwerwiegende Folgen nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Damit wurde er seinerzeit zu einer der meistdiskutierten „Polizeiruf“-Episoden.

„Alles, was ich trinke, trinkst du nicht!“

Eine überraschend stylisches Schlafzimmer: Theo kann nicht schlafen, trinkt abends und auch bereits wieder in aller Herrgottsfrühe. Als er sich aus dem Staub macht, gefährdet er andere im Straßenverkehr. Während er in der Natur umherstreift (wo sich u.a. ein FKK-Pärchen aufhält), wird sein Brief gefunden. Der mit einem gewissen spitzbübischen Charme eingeführte, Alltagsflirts nicht abgeneigte Bergmann befragt Theos Frau und anschließend dessen Freund Eugen Zoch (Ezard Haußmann, „Brandstellen“), einen privilegierten Lebemann, zu dessen Datsche Theo gern mal einen Wochenendausflug ohne seine Frau unternahm, um mit ihm zu feiern und sich heillos zu betrinken. Aus den Befragungen, die Bergmann führt, ergeben sich Informationen zu Theos Leben, den Zustand seiner Ehe und das unbewältigte Verlusttrauma aufgrund des tödlich verunfallten Sohns.

„Wenn Engel reisen, lacht die Sonne!“

Hauptmann Fuchs als das Aushängeschild der Reihe kommt erst ins Spiel, als nach Theo gefahndet, aber zunächst lediglich sein Abschleppseil gefunden wird. Zugleich wird eine Hilde (Hildegard Alex, „Marta, Martia“) vermisst, was in zu Beginn noch nicht so recht einzuordnenden Parallelhandlungsszenen angesprochen wird, nach und nach aber mit Theo in Verbindung gebracht wird. Ist sie diejenige, die Theo auf dem Gewissen hat? Als ein See abgesucht wird, wird tatsächlich ihr Leichnam gefunden. Seine Spannung bezieht der Fall zunehmend aus der Frage, was zum Teufel (der den Schnaps gemacht hat) sich denn nun überhaupt zugetragen hat. Eine ausgedehnte Rückblende dröselt schließlich alles auf, ohne dabei die Dramaturgie zu vernachlässigen, im Gegenteil: Überwog in der ersten Hälfte dieses Kriminaldramas noch die höchst eindringlich und beeindruckend von Ulrich Thein gespielte Darstellung Theos als tragische Alkoholikergestalt zwischen halbnüchtern und Vollsuff, bietet die zweite Hälfte Suspense in Reinkultur, bei der man zwischen Mitleid mit Theo und Abscheu vor ihm schwankt, als hätte man selbst schon mehr als ordentlich einen intus. Zoch zeigt man uns nackt unter der Gartendusche, den tödlichen Gewaltakt jedoch nicht. Dafür aber sein Entstehen und seine Konsequenzen sowie, zumindest im Groben, die Verhandlung der Schuldfrage. Klar ist nämlich, dass Theo bei nüchternem Verstand wohl kaum zu dieser Gräueltat fähig gewesen wäre, er sich aber mindestens vorsätzlich betrunken hat.

Fuchs erweist sich in dieser Frage als strenge Autoritätsperson, die Theo eindeutig die Schuld zuspricht, aber – und das ist der entscheidende Fingerzeig an die DDR-Gesellschaft – auch Zoch eine mindestens moralische Mitschuld zuspricht und damit stellvertretend auch all jene meint, die nicht nur teilnahmslos dabei zugesehen haben, wie Theo Lute sich zugrunde richtete, sondern ihn sogar weiter mit Hochprozentigem versorgten, selbst wenn er sich offensichtlich in einem höchst verzweifelten Zustand befand und mangels Liquidität sogar schon mit seiner Armbanduhr bezahlen musste (wie in einer besonders memorablen Szene). Und damit es nicht nur um den Täter und dessen Umfeld geht, landen wir auch immer wieder bei der toten Hilde bzw. vielmehr dem, was von ihrer Familie übrig ist, u.a. nämlich ein Kind, das nun ohne Mutter aufwachsen muss. Entsprechend nachdenklich stimmt das Ende.

Sicherlich ist man heutzutage in der Suchtforschung, in der Psychologie und vielem anderen, was mit diesem und ähnlichen Phänomenen zusammenhängt, weiter als zu Zeiten dieses „Polizeirufs“. Dennoch ist er nach wie vor unbedingt sehenswert, lässt sich doch mühelos nachvollziehen, welch Wirkung er in seinem schonungslosen Realismus auf sein Publikum gehabt haben muss. Hierzu bei tragen die schauspielerischen Leistungen insbesondere Ulrich Theins, dessen Szenen mit düsteren Streichern unterlegt werden, aber auch Ezard Haußmanns, der die Auftritte seiner Figur Eugen Zochs regelrecht zelebriert und in seiner überschwänglichen, letztlich aber unangenehm egozentrischen Lebenslust einen starken Kontrast zur traurigen Gestalt seines Freunds Theo bildet. Unabhängig davon, welches juristische Nachspiel eventuell noch auf Zoch zukommt, erhält auch er seine Strafe, indem seine Frau (Regina Beyer, „Klärchen in Egmont“) die Spiele nicht mehr mitmachen will und ihm den Laufpass gibt, sodass er am Schluss eigentlich niemanden mehr hat.

So greift hier ein Rädchen ins andere wie in einer verheerenden Kettenreaktion, ohne dass vermeintlich einfache Lösungen zur nüchtern-sozialistischen Volkserziehung präsentiert würden. Großes DDR-Fernsehen und in jedem Falle – trotz (oder gerade wegen?) einer gerade aus heutiger Perspektive hier abseits des Alkoholmissbrauchs und dessen Folgen anheimelnd gemütlich erscheinenden DDR – auch Wessi-kompatibel!
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Tatort: Usambaraveilchen

„Ich kann nicht mehr!“

Am 20. April 1981 nahm der nächste „Tatort“-Kommissar, der die 1970er innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe mitgeprägt hatte, seinen Hut: Der Münchner Kriminalhauptkommissar Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) verabschiedete sich mit seinem 15. Fall. Dieser war von Herbert Rosendorfer geschrieben und von Wilm ten Haaf inszeniert worden, der damit seine fünfte von insgesamt sieben „Tatort“-Episoden ablieferte.

„Sie war schon tot.“

Walter Berg (Stephan Orlac, „Die Wicherts von nebenan“), ein nach außen hin biederer, graumelierter Rechtsanwalt, ist verheiratet, hat jedoch seit fünf Jahren in der Apothekerin Ulla Brendl (Karin Kernke, „Die Nackte und der Satan“) eine Geliebte. Diese Affäre beendet er nun – und zwar endgültig. Mit seiner Frau (Maria Körber, „Sonne, Sylt und kesse Krabben“) spricht er offen darüber, doch ihr Vertrauen zu ihrem Mann bleibt erschüttert. Bereits am nächsten Tag reist er für eine Woche nach Regensburg, da er vor dem dortigen Gericht die Verteidigung eines Mandanten übernehmen muss. Er quartiert sich für diese Zeit bei seinem Kollegen Runau (Otto Stern, „Liebesspiele junger Mädchen“) und dessen Familie (u.a. Maddalena Kerrh, „Die Moral der Ruth Halbfass“) ein, mit der er freundschaftlich verbunden ist. Jedoch sorgt er sich auch um Ulla. Als er sie telefonisch mehrmals nicht erreicht, fährt er für einen kurzen Abstecher nach München zurück, wo er sie erschossen in ihrer Wohnung liegend auffindet. Ohne sich bei der Polizei zu melden, verlässt er den Tatort wieder. Ullas Leichnam wird schließlich wenige Tage später von der Hausmeisterin Frau Hoiss (Margot Mahler, „Zum Gasthof der spritzigen Mädchen“) gefunden. Daraufhin übernimmt die Münchner Mordkommission um Kommissar Veigl, der Herrn Berg vom Stammtisch kennt, den Fall. Im Nachbarn Wiedemann (Wolfgang Büttner, „Der 20. Juli“) ist ein wichtiger Zeuge schnell gefunden. Er hatte sowohl Herrn Bergs regelmäßige Besuche als auch Frau Bergs abendlichen Besuch bei Ulla beobachtet. Frau Berg wollte sich mit Ulla aussprechen und hatte ihr ein weißes Usambaraveilchen mitgebracht…

Ausgangssituation dieses „Tatorts“ ist ein wohlsituierter Herr, der sich unmoralisch verhält und, obschon nicht der Mörder, so doch in einen Mordfall hineingezogen wird. Im Prinzip bietet „Usambaraveilchen“ ein klassisches Whodunit?-Sujet, wenngleich das Fernsehpublikum einigen Wissensvorsprung gegenüber der Polizei hat. Deren Ermittlungen gestalten sich mäßig spannend, da man ihr dabei zusieht, wie sie herausfindet, was man ohnehin schon weiß – und dies recht dialogreich und ohne viel Witz oder Schmiss. Brettschneider (Willy Harlander) befragt Ullas Chef, den Apotheker Froschhammer (Robert Naegele, „Sie liebten sich einen Sommer“), und man reist nach Regensburg, um mit Herrn Berg zu sprechen, der mit der vollen Wahrheit – soweit er sie kennt – nicht so recht herausrücken will. Neben der Rätselei um die Täterschaft sorgen aber Nebenfiguren wie der kauzige Rentnernachbar für Unterhaltung: Diesem ist in seinem eigenen Leben derart langweilig, dass er penibel dokumentiert hat, wann genau Herr Berg Ulla jeweils besuchen kam. Dieser verschrobene Spießer ist lange Zeit der wichtigste Zeuge, bis die Nachbarin der Bergs Frau Berg entlastet. Nun ist guter Rat wieder teuer.

Im letzten Drittel rettet sich die Dramaturgie in eine überraschende Wendung und einige Konfusionen gegen Ende, bis Tathergang und Täter endlich ans Licht kommen. Eine Rückblende dröselt alles auf. Etwas arg seltsam und herbeikonstruiert wirkt es bei genauerer Überlegung indes, dass der pedantische Nachbar ausgerechnet davon nichts mitbekommen haben will. Ich fürchte, dass das Drehbuch hier eine gröbere Schwäche offenbart. Dasselbe Drehbuch hätte Veigls Abschied gern auch etwas feierlicher ausfallen lassen dürfen, so durchwachsen der Münchner „Tatort“-Zweig unter dessen Regentschaft auch war. Immerhin wird in einem Dialog vermittelt, dass Veigl in Pension geht und Lenz (Helmut Fischer) sein Nachfolger wird. In diesem Kontext dürfen die beiden sich wenigstens ein wenig kabbeln, und Raum für Veigls obligatorische Presseschelte findet sich später ebenfalls.

Die Staatsanwaltschaft kommt hier übrigens reichlich schlecht weg, und die Polizei tritt eine ganze Weile auf der Stelle, weil sie gar nicht erst auf die Idee kommt, dass es neben Herrn Berg auch andere Männer in Ulla Brendls Leben gegeben haben könnte. Bemerkenswert ist der offene Umgang Herrn Bergs mit seiner Affäre (zumindest gegenüber seiner Frau). Das Thema emotionale Erpressung wird nur kurz angerissen und als Aufhänger dafür genutzt, dass sich Herr Berg nach seiner Trennung von Ulla noch um sie sorgt. Der „Tatort: Usambaraveilchen“ ist gemütliche Fernsehkrimikost, wenn auch etwas sehr trocken. Es ist kein Paukenschlag, mit dem sich Veigl von seinem Publikum verabschiedet, aber auch kein Reinfall. Wer „Derrick“ und Konsorten goutiert, dürfte einen relativ soliden Fall zu sehen bekommen. Vom Feuer, der Spritzigkeit, dem Witz und der Frische manch älteren „Tatorts“ aus den 1970ern ist „Usambaraveilchen“ jedoch weit entfernt.

Ein letztes Mal kapriziös gibt man sich ganz am Ende, als der Abspann mitsamt „Tatort“-Melodie bereits überm noch Handlung vermittelnden Bewegtbild einsetzt. Ich freue mich nun auf die sieben Münchner Lenz-„Tatorte“ aus den Jahren 1981 bis 1987 mit Helmut Fischer in der Hauptrolle, dem bereits unter Bayrhammer für mich heimlichen Star der Reihe, der nach seiner parallelen Zusammenarbeit mit Helmut Dietl für die Serie „Der ganz normale Wahnsinn“ seine dortige Nebenrolle als Stenz in „Monaco Franze – Der ewige Stenz“ ausbauen durfte und damit endgültig zum Publikumsliebling avancierte. Aber dazu später und anderer Stelle mehr.
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Der Prinz und der Bettelknabe

„Ich bin frei, endlich frei!“

Der unter der Regie George Scribners („Oliver & Co.“) entstandene und 1990 veröffentlichte, 25-minütige Zeichentrickkurzfilm „Der Prinz und der Bettelknabe“ ist eine von Disney adaptierte Cartoon-Version des gleichnamigen Mark-Twain-Klassikers.

Ein Märchenerzähler aus dem Off führt in die Geschichte ein, in der Kater Karlo als räuberischer Hauptmann des Königs die Bevölkerung terrorisiert. Micky mit seinem Hund Pluto und Goofy verdingen sich im kalten Winter als arme Straßenverkäufer und schmettern ein Liedchen. Der traurige Prinz, der im Palast gefangen ist, sieht Micky zum Verwechseln ähnlich. Donald gehört zum Hofstab, Horace Horsecollar ist der Lehrer des Prinzen. So weit das Ensemble dieser zu einer Verwechslungs- und Rollentauschkomödie stark verdichteten Literaturadaption, die zudem sehr lose mit der Vorlage umgeht. Viel Cartoon-typischer Slapstick bestimmt den Humor, für den häufig Donald und Goofy als Comic-Reliefs in ihren Nebenrollen herhalten müssen.

Als sich der Prinz dank des Rollentauschs mit Micky erstmals außerhalb des Palasts aufhalten kann, erfährt er von den Machenschaften des Hauptmanns, der wiederum, als ihm besagter Rollentausch bewusst wird, eine Intrige plant – denn der König liegt im Sterben, der Prinz soll neuer König werden. Der Identitätswechsel wird somit nicht lange aufrechterhalten. Einige Action dürfte für Aufregung beim jüngsten Publikum sorgen, die liebevollen bunten Zeichnungen und wie von Disney gewohnt superflüssigen Animationen für Freude in der ganzen Familie. Traurige Momente sind gut eingearbeitet worden, ohne zu verstören, und die naive Handlung vom gutmütigen, aber ahnungslosen Monarch mit fiesem Vasallen wurde in eine gemütliche Märchenstimmung eingebettet.

Familien-Cartoon-Entertainment auf hohem Niveau.

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Micky und die Kletterbohne

Ohne Angabe des Regisseurs muss dieser knapp halbstündige Cartoon aus dem Jahre 1947 auskommen, der das britische Märchen „Hans und die Bohnenranke“ innerhalb des Micky-und-Donald-Universums adaptiert.

Primus von Quack (alias Prof. Ludwig van Drake im Original) liest das Märchen vor, das fortan audiovisualisiert in allen Einzelheiten gezeigt wird. Die Ausgangssituation zeigt Micky, Goofy und Donald herzerweichend hungernd und darbend, bis es nach dem schicksalhaften Tausch per Bohnenrauke hinauf zum Riesen geht, den es zu besiegen gilt. Das ist actionreich und spannend umgesetzt worden, wobei der starke Slapstick-Anteil prima unterhält und eine Komödie aus dem Stoff macht. Bereits damals, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, waren Disneys Animationen superflüssig und die Gestaltung sowohl der Cartoons als auch der Kinofilme bis in Details hinein aufwändig und liebevoll. Das macht Cartoons wie diesen zeitlos.

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Micky Maus: S3E02: Mickys Ein-Mann-Band

Diese schlicht „Micky Maus“ betitelte Zeichentrickserie wurde von 2013 bis 2019 produziert und brachte es auf insgesamt 94 Episoden in fünf Staffeln. Konzeptionell knüpfte man bewusst an die Einfachheit der alten Micky-Maus-Cartoons aus den 1930ern bis 1950ern an: Kaum Dialoge, schneller Slapstick-Humor, pointierte kleine Geschichten. Zudem befindet sich Micky offenbar stets in einer anderen, real existierenden Stadt. Für die Regie zeichneten Aaron Springer, Paul Rudish und David Wasson verantwortlich, als ausführender Produzent fungierte Paul Rudish („Dexters Labor“, „Powerpuff Girls“).

Nur durch Zufall habe ich diese eine, rund vierminütige Episode gesehen. Micky ist als Ein-Mann-Band auf den Straßen Londons unterwegs, wo er zunächst vertrieben und schließlich geschnappt und der Königin vorgeführt wird. Angesichts der geballten Autoritäten um ihn herum und ihres Schwerts sorgt sich Micky um sein Leben, dabei wird er lediglich zum Ritter geschlagen. Englische Eigenheiten werden ein wenig aufs Korn genommen, die Figuren überzeichnet karikiert und die Schwierigkeiten von Straßenmusikanten für eine amüsante und niedliche Geschichte aufgegriffen. Vertreibung aus dem öffentlichen Raum und autoritäre Staatsgewalt sind dabei durchaus gewichtige Themen, die dem zugrunde liegen. Mir gefällt dieser reduzierte Stil ausgesprochen gut! Schade, dass zumindest hierzulande offenbar keine Heimkino-Veröffentlichung der gesamten Reihe existiert.
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Lichter der Großstadt

Als Multitalent Charles Chaplin nach seinem famosen „Circus“ aus dem Jahre 1928 seinen nächsten abendfüllenden Schwarzweiß-Stummfilm, die romantische Komödie „Lichter der Großstadt“, veröffentlichte, schrieb man bereits das Jahr 1931 und damit die Zeit des seit wenigen Jahren etablierten Tonfilms. Gegen diesen sträubte sich Pantomime Chaplin, nutzte dennoch vereinzelt dessen Möglichkeiten und schrieb nicht nur das Drehbuch, übernahm die Regie, fungierte als Produzent und bekleidete die Hauptrolle, sondern komponierte mit José Padilla, der Chaplins Ideen umsetzte, auch erstmals eine mit der Veröffentlichung des Films fest integrierte Filmmusik. Sein Festhalten am Stummfilmkonzept erwies sich als richtig, denn „Lichter der Großstadt“ wurde zu seinem bis dahin größten Publikumserfolg.

Der Tramp (Charlie Chaplin) lernt durch einen Zufall eine blinde Blumenverkäuferin (Virginia Cherrill, „The Air Circus“) auf der Straße kennen und verliebt sich in sie. Durch einen weiteren Zufall hält sie ausgerechnet den arg- und mittellosen Landstreicher für einen Millionär. Da auch sie monetär alles andere als wohlgelitten ist, freut sie sich über sein Engagement, sich um ihre Geldsorgen zu kümmern und ihr sogar das Geld für eine Operation zukommen zu lassen, die ihr Augenlicht zurückbringt. Voller Elan stürzt er sich in eine Möglichkeit, an Geld zu gelangen, nach der anderen, was jedoch leider von keinem sonderlichen Erfolg gekrönt ist. Als er einen trinkfreudigen tatsächlichen Millionär (Harry Myers, „Ein Traum von Liebe“) vor dem Suizid bewahrt, erweist sich dieser zwar als überaus dankbar, lädt er doch den Tramp zu Speis und Trank ein und ernennt ihn zu seinem neuen besten Freund – doch währt dies stets nur so lange, wie er hochgeistigen Getränken frönt; nüchtern möchte er von ihm nichts wissen und lässt ihn regelmäßig von seinem Butler (Allan Garcia, „Goldrausch“) unsanft hinauskomplimentieren…

Die Eröffnungssequenz um eine Denkmaleinweihung ist bereits urkomisch und wird interessanterweise von Chaplin genutzt, um sowohl den Tonfilm als auch inhaltsleeres Politikergeschwafel zu verballhornen: Weder Texttafeln noch gesprochene Sprache kommen zum Einsatz, sondern quäkende Saxophontöne. Um glaubwürdig zu vermitteln, warum das Mädchen ihn für vermögend hält, habe sich Chaplin Überlieferungen zufolge den Kopf zerbrochen. Seine Lösung ist eine amüsante Verkettung von Zufällen, die entsprechende Sequenz im Prinzip ein in sich geschlossener Sketch. Bis man das Mädchen wiedersieht, vergeht einige Zeit. Diese wird für grandioses Schauspiel zweiter Betrunkener durch Chaplin und Myers genutzt, der hier seine letzte große Rolle verkörperte. Das gezeigte widersprüchliche Verhalten des Millionärs kommt hier fast einer Charakterstudie gleich. Sogar das Auto, das er dem Tramp im alkoholgeschwängerten Überschwang schenkte, holt er sich wieder.

Ein weiterer Höhepunkt ist ein großartig choreographierter (und beschleunigt wiedergegebener) Boxkampf, der an Chaplins Kurzfilm „The Champion“ aus dem Jahre 1915 angelehnt ist. Der Aufbau des Films ist recht episodisch, was mich bei Komödien aber nicht stört. Die Liebesgeschichte hingegen ist um einige Tragik bemüht, bleibt jedoch eher oberflächlich und auch etwas sehr naiv. Dafür punktet Chaplin auch in diesem Film mit den Bildern immanenter Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. „Der Vagabund und das Kind“ sowie „Circus“ packten mich etwas stärker, aber auch „Lichter der Großstadt“ ist ein nach wie vor verdammt sehenswerter, weil kurzweiliger, humoristisch hervorragend gealterter und warmherziger Film. 7,5 von 10 Schnittblumen dafür!
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Tatort: Das Lederherz

„Alles musste immer gebraten in den Mund fliegen!“

Neue Dekade, neues Glück? Am 3. Mai 1981 trat mit der von Schauspielerin Karin Anselm („Der Bastian“) verkörperten Ermittlerin Hanne Wiegand erstmals eine weibliche Ermittlerin innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe auf den Plan. Ihr Debüt „Das Lederherz“ wurde im Juli und August 1980 (strenggenommen also noch in der ausklingenden ‘70er-Dekade) in Baden-Baden und Umgebung nach einem Drehbuch Irene Rodrians unter der Regie Imo Moszkowiczs („Max, der Taschendieb“) gedreht. Es blieb Moszkowiczs einzige „Tatort“-Inszenierung.

„Wenn etwas zerstört ist, was nicht mehr zu reparieren ist, repariert man plötzlich die unwichtigsten Dinge…“

Die attraktive Eva Dieckmann (Margit Schulte-Tigges, „Diese Drombuschs“) schlüpft in ein sexy Outfit und versucht, am Freitagabend die Aufmerksamkeit ihres Manns Gert (Peter Dirschauer, „Blutspur“), einem freischaffenden Architekten, zu erregen. Sie würde sich gern einmal wieder mit ihm ins Nachtleben stürzen. Dieser ist jedoch in seine Arbeit vertieft und würdigt sie keines Blickes. Erst reagiert sie daraufhin zum wiederholten Male eifersüchtig auf seine Arbeitskollegin, dann wird sie immer aggressiver, bis er ihr eine Ohrfeige gibt. Nun beschimpft sie ihn und will sich gar umbringen. Nachdem er ihr ihre Tabletten weggenommen hat, droht sie, sich aus dem Fenster zu stürzen. Auf dem Fensterbrett verliert sie plötzlich den Halt. Zunächst versucht Gert noch, sie festzuhalten und hochzuziehen, lässt jedoch irgendwann los. Dabei reißt sie ihm noch einen herzförmigen Lederflicken von der Jacke. Haben ihn seine Kräfte verlassen oder hat er absichtlich losgelassen? Nachbarn beschuldigen Gert alsbald, Eva aus dem Fenster gestoßen zu haben. Nun ist es an Kriminalkommissarin Wiegand, in diesem potentiellen Fall von Mord oder Totschlag zu ermitteln. Dafür versucht sie, Gerts Vertrauen zu gewinnen…

Gedreht wurde also in Baden-Baden und drumherum, eine konkrete Lokalisierung fällt aber schwer: Der Handlungsort wird nie genannt und Lokalkolorit gibt es keines, niemand spricht einen Dialekt o.ä. und der überwiegende Teil der Handlung spielt entweder in Gerts Wohnung oder im Polizeirevier. Das ist schade, dafür ist der Auftakt überaus gelungen: Man beginnt mit einer Oben-ohne-Szene Evas vorm Spiegel, während der man noch nichts von der unmittelbar darauffolgenden Eskalationsschraube ahnt, die fulminant überdreht wird, während Eva Wahnsinn und Verachtung ins Gesicht geschrieben sind. Das ist toll von Schulte-Tigges geschauspielert, kurioserweise läuft währenddessen übrigens ein „Tatort“ in der gemeinsamen Wohnung. Gert kann einem leidtun und man erwischt sich beim Gedanken, Verständnis dafür zu entwickeln, dass er sie im entscheidenden Moment losgelassen hat. Wenn er es denn hat! Man sieht es zwar, aber ob das nun Absicht war oder er sie nicht länger halten hat können, wird nicht ganz klar. Klar hingegen ist, dass es zumindest kein Kalkül war, man es also keinesfalls mit einem klassischen Mordfall zu tun hat.

So taugt dieser Umstand auch nicht wirklich dazu, über die volle Länge Spannung zu erzeugen. Wiegand als erste Kommissarin wird als eine Frau eingeführt, die mittels damals in erster Linie dem weiblichen Geschlecht zugeschriebener Soft Skills wie Einfühlungsvermögen und Empathie versucht, der Wahrheit näherzukommen. Dass sie den unter Schock stehenden Gert direkt mit aufs Revier nimmt, um ihm dort einer ersten Befragung zu unterziehen, steht im Kontrast dazu und ist ziemlich hanebüchen, schien man damals aber für normal gehalten zu haben. Bewusst als eher ungewöhnliche Ermittlungsmethode etabliert wird im Anschluss, dass sie Gert nach Hause fährt und mit in die Wohnung kommt, woraufhin man etwas über sein Leben und seine Ehe erfährt. Halbwegs interessant ist es noch, wie Eva auf diese Weise posthum als verwöhnte Frau, die von Beruf Tochter eines vermögenden Architekten (Herbert Steinmetz, „Kommissariat IX“) ist, charakterisiert wird, auch der angerissene Generations- und Weltanschauungskonflikt zwischen Evas Vater und Gert lässt zuweilen aufhorchen; vollkommen redundant hingegen, dass er ihr den Verlauf des Streits noch einmal haarklein erzählt – das weiß man schließlich schon alles, hat es ja selbst gesehen. Von nun an durchziehen langatmige Dialoge diesen Fall, der damit zu einem einschläfernden Laber-Kriminaldrama verkommt.

Wiegands Assistenten Rolf Simon (Wolfgang Kaven, „Die Fälschung“) und Erwin Brunner (Peter Pankalla) halten es für möglich, dass Gert schuldig ist, sind sich aber dennoch uneins. Bei einem ihrer Besuche bei Gert hat Wiegand den titelgebenden Flicken auf der Straße gefunden, der zu einem Indiz hochstilisiert wird, obwohl er eigentlich – außer vielleicht im metaphorischen Sinne – keinerlei Aussagekraft besitzt. Etwas Auflockerung erfährt dieser bis dahin seltsam beengt wirkende „Tatort“, wenn Gert der Kommissarin Plattenbauarchitektur zeigt und mit ihr ins Café geht, was aber dennoch zu keinem wahrnehmbaren Plus an lokalem Ambiente führt. Nach dem gelungenen Prolog hat „Das Lederherz“ kaum Schauwerte zu bieten und steuert zähflüssig bis trocken auf sein offenes Ende hin, für das das Bild ein paar Sekunden lang eingefroren wird, bevor der Abspann eintritt. Sogar auf musikalische Untermalung wurde weitestgehend verzichtet. Das ist enttäuschend, denn interessante Ansätze waren durchaus vorhanden und Wiegand als sympathischem, etwas mütterlichem Blickfang mit ihren großen, weit auseinanderstehenden Augen hätte man einen besseren Einstand in dieser traditionsreichen Reihe gegönnt.
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The Red Queen Kills Seven Times

„Ich bin keine Nutte!“ – „Bist du so sicher?!“

Italo-Regisseur Emilio Miraglia hat’s irgendwie mit dem Namen Evelyn: In seinem im Jahre 1971 veröffentlichten Grusel- und Sleaze-Giallo „Die Grotte der vergessenen Leichen“ ließ er sie aus dem Grab steigen, wie es der (trotz fehlendem Komma wesentlich stimmigere) Alternativtitel „Die Nacht in der Evelyn aus dem Grab kam“ verriet. Ein Jahr darauf erschien sein italienisch-deutsch koproduzierter Giallo „The Red Queen Kills Seven Times“ alias „Die rote Dame“, in dem eine Evelyn es ihrer Namensvetterin vermeintlich gleichtut. Es wurde Miraglias sechste und letzte Regiearbeit (die seltsamerweise keinen deutschen Kinostart erhielt und erst später auf Video ausgewertet wurde).

„Ich bin hier und will mit dir bumsen.“

Eine alte Legende besagt, dass zwei Geschwister, die schwarze und die rote Königin, sich einst spinnefeind gewesen seien. Die schwarze habe ihre Schwester eines Tages ermordet, doch sei diese aus dem Totenreich zurückgekehrt, um sieben Menschen zu ermorden – als letzten ihre Schwester. Seither wiederhole sich dieses Ereignis jedes Jahrhundert. In der Gegenwart tötet die Würzburger Modefotografin Kitty Wildenbrück (Barbara Bouchet, „Milano Kaliber 9“) versehentlich ihre Schwester Evelyn im Streit, lässt den Leichnam im Familienanwesen mithilfe ihrer älteren Schwester Franziska (Marina Malfatti, „Die Farben der Nacht“) und deren Ehemanns Herbert (Nino Korda, „Die Jungfrau und die Peitsche“) verschwinden und erzählt auf Nachfragen, Evelyn halte sich in Amerika auf. Als jemand Weißmaskiertes im roten Umgang sich durch Kittys Umfeld brutal zu meucheln beginnt und es auch auf sie abgesehen hat, scheint sich die Legende zu bewahrheiten. Ist Kitty aufgrund ihrer Tat verflucht…? Oder stecken doch ganz weltliche Motive hinter der Mordserie?

Ein in Deutschland gedrehter und spielender Giallo – das ist doch schon mal etwas Besonderes. Der in der Vergangenheit spielende Prolog vorm als herrschaftliches Gruselschloss inszenierten Würzburger Schloss verströmt Gothic-Ambiente, obwohl er lediglich in der Kindheit der Geschwister angesiedelt wurde, die um eine Puppe streiten. Evelyn spielt, inspiriert von einem Gemälde, die mörderische rote Königin und zerstört die Puppe. Opa Wildenbrück (Rudolf Schündler, „Die Lümmel von der ersten Bank“) erzählt den Kindern daraufhin die alte Legende. Fortan spielt „The Red Queen…“ im Erwachsenenalter der Geschwister. Der erste Mord wird im Stile eines Horrorfilms inszeniert, Franziska sorgt im heißen Fummel für einen ersten Erotik-Touch. Eine Rückblende illustriert den Tod Evelyns. Dass der drogenabhängige Peter (Fabrizio Moresco, „Death Walks on High Heels“) Geld von Evelyn will und daher nach ihr sucht, verschärft die Situation, zumal er nicht zimperlich ist und Kitty bedroht.

So weit die Ausgangslage dieser unheimlichen Mordserie, deren Narration einige Sleaze-Einsprengsel bereithält: Ex-Hure Lulu (Sybil Danning, „Siegfried und das sagenhafte Liebesleben der Nibelungen“) hatte eine Affäre mit ihrem Chef, einem weiteren Opfer der Red Queen, mit dem zusammen sie Orgien mit Prostituierten feierte. Ein Fotomodell vögelt sich durch Kittys Unternehmen und wirft sich ihrem Lover Martin (Ugo Pagliai, „Blutrache einer Geschändeten“) nackt an den Hals. Kitty wird Opfer einer Vergewaltigung. Miraglia setzt vor allem Danning aufreizend in Szene und kontrastiert die sexuelle Komponente mit Mystery-Grusel-Aspekten: Die tote Evelyn scheint nicht nur zu morden, sondern auch auf Kittys Anrufbeantworter zu sprechen, doch ihr geheimes Grab weist nach wie vor einen mumifizierten Leichnam auf – neben ihm jedoch der rote Mantel. Und Martins verrücktgewordene Ehefrau Elizabeth (Carla Mancini, „Das Geheimnis der blutigen Lilie“) sitzt in der Klapse und glaubt, mit Evelyn Kontakt zu haben. Hinzu kommen psychologische Deutungsmöglichkeiten und Hinweise – leidet Kitty unter einer gespaltenen Persönlichkeit? – ebenso wie weltlich-kriminalistische – eine Erbschaft kommt ins Spiel –, wenngleich die Polizei genretypisch die meiste Zeit im Dunkeln tappt, aber immerhin Martin verdächtigt.

Tatsächlich entwickelt „The Red Queen Kills Seven Times“ aus diesem Verwirrspiel und seinen Genreversatzstücken eine nicht ungefähre Spannung bis zum Finale. Der hohe Anteil charakterlich nicht unbedingt vorteilhaft gezeichneter weiblicher Figuren erweckt indes den Eindruck eines intriganten Hühnerhaufens. Die Alpträume der gewissensbissgeplagten Kitty werden anschaulich visualisiert. Auch sie zählt zum Kreis der Verdächtigen, möglicherweise wird jedoch auch nur bewusst der Verdacht auf sie gelenkt. Ganz dem Giallo verpflichtet ist die überraschende Wendung gegen Ende, die einer Prüfung auf innere Logik leider kaum standhält und mutmaßlich auch deshalb derart schnell heruntergerattert wurde. Damit krankt dieser Film an einer ähnlichen Abschlussschwäche wie die deutsche Fußballnationalmannschaft, vor allem aber wie manch Genre-Kollege, bietet dem italophilen Publikum ansonsten aber prima Unterhaltung mit abwechslungsreicher Motivik, einem namhaften Schauspielensemble, einer wohlklingenden musikalischen Untermalung Bruno Nicolais, offensiven J&B-Produktplatzierungen und einem zuweilen geschmacklos im Frühsiebziger-Schick überstylten Interieur, wie ich es im damaligen Würzburg nun wirklich nicht vermutet hätte…

Manch Edgar-Wallace-Kenner(in) macht übrigens Parallelen zwischen diesem Film und dem „Grünen Bogenschützen“ aus, den ich zugegebenermaßen jedoch nie gesehen oder gelesen habe.
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Im Zeichen des Bösen

„Ich hab' so ein eigenartiges Ticken im Kopf!“

Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Orson Welles („Die Lady von Shanghai“) letzter Hollywood-Spielfilm vor seinem Gang nach Europa war der 1958 veröffentlichte Film-noir-Kriminal-Thriller „Im Zeichen des Bösen“, dessen Entstehungsgeschichte bereits interessant ist: Universal wollte den Roman „Unfehlbarkeit kann tödlich sein“ Whit Mastersons (ein Pseudonym der Autoren Robert Wade und Bill Miller) verfilmen und ließ ihn von Paul Monash in eine erste Drehbuchfassung bringen. Welles war als Darsteller einer der männlichen Hauptrollen, der des Polizei-Captains Quinlan, vorgesehen. An den Regie-Job geriet Welles, so heißt es, durch ein Missverständnis: Als man Charlton Heston („Ben Hur“) die zweite männliche Hauptrolle anbot, glaubte er, dass Welles auch Regie führen würde. Daraufhin wurde Welles die Inszenierung anboten, der annahm und sogleich das Drehbuch umschrieb. Nach Fertigstellung des Films verkannten die Produzenten jedoch Welles‘ Schnittfassung, lehnten sie ab und griffen radikal in diese ein. Das Ergebnis wurde als B-Film aufgeführt und floppte. Welles verfasste daraufhin ein 58-seitiges Memorandum, in dem er seine Wunschfassung festhielt, die im Jahre 1998 posthum von Walter Murch restauriert wurde. Auf diese bezieht sich diese Besprechung.

„Sie haben viel zu viele Gangsterfilme gesehen!“

Im US-amerikanisch-mexikanischen Grenzort Los Robles werden der vermögende Unternehmer Linnekar und eine Stripperin Opfer eines tödlichen Bombenanschlags auf ihre Limousine, dessen Zeugen der mexikanische Drogenermittler Ramon Miguel Vargas (Charlton Heston) und seine frisch vermählte US-amerikanische Ehefrau Susan (Janet Leigh, „Düsenjäger“) sind. Das Attentat fällt in den Zuständigkeitsbereich des zynischen Polizei-Captains Hank Quinlan (Orson Welles), der die Zusammenarbeit mit dem integren Vargas scheut, obwohl Los Robles ein wahrer Moloch geworden ist. Vargas indes begegnet Quinlan und der Weise, mit der dieser zusammen mit Sergeant Pete Menzies (Joseph Calleia, „Gilda“) die Untersuchungen leitet, mit Skepsis. Offenbar zurecht: Mittels gefälschter Beweise will Quinlan den Freund Linnekars Tochter Marcia (Joanna Moore, „Der Zorn des Gerechten“), Manelo Sanchez (Victor Millan, „Giganten“), als Täter dingfest machen. Und als Susan in Gefahr gerät, wird Vargas immer tiefer in die Ereignisse des kriminellen Mikrokosmos und Hotspots Los Robles hineingezogen…

„Es gibt keine Zukunft mehr für dich. Du hast sie dir selbst genommen.“

Die legendäre Plansequenz zu Beginn, bei der die Kamera über drei Minuten lang ohne Schnitt über Los Robles schwebt und die in der Bombenexplosion jäh endet, war Überlieferungen zufolge eine Zangengeburt, rechtfertigt für sich genommen aber bereits das Ansehen des Films. Welles‘ Figur Quinlan wird als pessimistischer, zynischer und rassistischer Bulle mit tonnenweise Übergewicht eingeführt, der ein Bein nachzieht, trockener Alkoholiker ist und sich selbst nicht an das Gesetz gebunden fühlt. Also ein eindimensionales Arschloch? Oder jemand, unter dessen rauer Schale doch ein humanistischer Charakter verborgen liegt, den es freizuschälen gilt, da er einst unter persönlichen Krisen und Weltschmerz verschüttet wurde? Diese Frage (nach Klischeeerfüllung…) mag ein entsprechend interessiertes und empathisches Publikum zumindest eine Weile beschäftigen und ich hoffe, ich spoilere an dieser Stelle nicht zu viel, wenn ich schreibe, dass eine deftige Mordszene bis auf Weiteres klärt, was man von Quinlan zu halten hat.

„Im Zeichen des Bösen“ scheint also weniger von der Aufklärung eines Attentats als vielmehr vom Abstieg eines Bullen zu handeln, dem seine Wahrsagerin (in einer Gastrolle: Marlene Dietrich, „Zeugin der Anklage“) keinerlei Zukunft mehr zu bescheiden imstande war. Dennoch nehmen die Handlungen und Entwicklungen anderer Figuren ebenso viel Raum ein und etablieren neue Erzählstränge, wobei die Narration bisweilen eher verwirrend als spannungsgeladen ist. Zur Quintessenz des Films – ich muss spoilern, um ihm gerecht zu werden – wird letztlich: Quinlans eigenen Kapitalverbrechens zum Trotz stellt sich heraus, dass er mit seiner Intuition richtig lag: Im ursprünglich behandelten Kriminalfall um das Attentat entpuppt sich der von Quinlan beschuldigte Sanchez tatsächlich als Täter. Dieser Umstand verleiht seiner Figur die noir-typische Ambivalenz zwischen Gut und Böse, macht ihn zum zwar extrem fragwürdigen Antihelden, aber nicht ausschließlich zum Verbrecher im Polizeidienst. Andererseits stellt sich die Frage nach dem Sinn und Zweck dieser Art der Verbrechensaufklärung, wenn dafür Quinlan selbst zum Mörder wird und somit noch mehr Menschen ihr Leben lassen müssen – inkl. letztlich Quinlan selbst. Sie mutet absurd an. Dass Quinlan diesen Weg trotzdem wählt, deutet darauf hin, dass ihm angesichts seiner Frustration, Krankheit und Einsamkeit sein eigenes Dasein nicht mehr allzu wichtig erscheint; er kann schließlich kaum damit rechnen, dauerhaft mit dieser Form der „Polizeiarbeit“ durchzukommen. Dieser Umstand weist Parallelen zur Gewissheit der Endlichkeit der eigenen Existenz auf sowie zum Treffen existenzieller Entscheidungen. Die Gewalt ist derweil allgegenwärtig, nicht nur Quinlan bedient sich ihrer.

Die Kamera ist oft extrem nah an den Figuren, die auch häufig von schräg unten gefilmt werden, was sie bedrohlicher erscheinen lässt. Auch noir-typische schräge Perspektiven werden eingenommen oder zur Handkamera gegriffen. Und inmitten all dieser dadurch erzeugten tollen und von Henry Mancini musikalisch untermalten Bilder agieren ein gelackter Charlton Heston, als dieser noch ein Gewissen hatte, und ein Orson Welles mit Mut zur äußerlichen wie inneren Hässlichkeit. Für Heiterkeit sorgt lediglich Dennis Weaver („Sturm-Angst“) als Nachtportier und Comic Relief. Neben Dietrich absolvieren Zsa Zsa Gabor („In den Krallen der Venus“), Joseph Cotten („Der dritte Mann“) und Mercedes McCambridge („Johnny Guitar – Wenn Frauen hassen“) Gastauftritte. Mit Quinlan als Anti-Held im Mittelpunkt und dem Aufgreifen zahlreicher typischer düsterer Charakteristika ist „Im Zeichen des Bösen“ einerseits klar dem Film noir zuzuordnen, andererseits aber auch ein besonders innovativer Vertreter seiner Zunft:

Neben dem Verzicht auf eine Femme fatale dürfte die Verwendung folkloristischer lateinamerikanischer Filmmusik ein Novum im Film noir gewesen sein. Auch die eröffnende, rund dreieinhalb Minuten lange, schnittfreie Kamerafahrt war eine Besonderheit, die sich zumindest in diesem Ausmaß und dieser Qualität in anderen Film-noir-Produktionen nicht finden lässt. Die komplizierte Erzählweise, in der die Rollenverteilung nicht von Anfang an leicht zu durchschauen ist, sorgt für Konfusionen, während andere Produktionen trotz Analepsen oder Zeitsprüngen wesentlich geradliniger erscheinen. Auch wird komplett auf einen Voice-over-Erzähler verzichtet. Von einer Motel-Szene Susans habe sich Hitchcock für „Psycho“ inspirieren lassen. Insbesondere die Schlusspointe, die die Filmmoral nachhaltig infragestellt, ist es aber, die sich von schablonenhafteren Noirs abhebt und in ihrem Zynismus unangenehm nachwirkt. Tatsächlich läuft mir persönlich manch „typischerer“ Film noir als gutgemachte Genrekost besser rein und nicht jede Innovation dieses Films würde ich als Verbesserung durchwinken.

Filmhistorisch hat er es im Laufe der Jahre jedoch zu jenem Ruhm gebracht, der ihm gebührt. Er wird als derjenige Spielfilm betrachtet, nach dem der klassische Film noir als auserzählt galt. Wir wissen, dass dieser jedoch alsbald als Neo-noir, vor allem aber als im Kriminal-, Gangster- und Thriller-Farbfilm nicht mehr wegzudenkendes Stilelement zurückkehrte. Welles indes schmiss die Brocken in den USA hin, denn es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass er derartige Probleme mit den Produzenten hatte und eines seiner Werke von Nieten in Nadelstreifen verunstaltet worden war. Wer wollte es ihm verdenken?

Meine Bewertung in Höhe von 7,5 von 10 gefälschten Beweisen ist Ausdruck meines persönlichen Geschmacks und soll die Bedeutung dieses Films nicht schmälern.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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