Liebes Filmtagebuch,
ein neuer Eintrag wird dieses Jahr nicht mehr hinzukommen. Stattdessen hier einmal zusammengefasst meine zum Teil uralten Eindrücke zu den Filmen, die auf unserem diesjährigen Forentreffen liefen. Nach langer Zeit mal wieder handelte es sich nämlich ausschließlich um Filme, die ich bereits kannte.
Deliria över Hannöver
Der Mafiaboss - Sie töten wie Schakale
Zu diesem Film notierte ich hier am 16.11.2010:
Verdammt, dieser Fernando Di Leo weiß wirklich, wie man schwer unterhaltsame Mafia-Action inszeniert. „Der Mafiaboss“ aus dem Jahre 1973 ist der zweite Teil einer Trilogie des italienischen Regisseurs, die aus drei eigenständigen Filmen besteht. Die Mailändische Mafia sowie zwei Killer aus Übersee machen aufgrund einer Intrige Jagd auf den verhältnismäßig kleinen Zuhälter Luca Canali, überragend gespielt von Mario Adorf, der für diese Rolle eigentlich einen Oscar verdient hätte. Von klischeehaftem, edlem Mafiapathos ist hier nicht viel zu sehen, Di Leos Film ist dreckig, rau und ungeschliffen und so sind seine Charaktere. Die US-Killer werden dargestellt von Woody Strode und „Eisengesicht“ Henry Silva, wobei auch Strode diesmal mit nur einem Gesichtsausdruck auskommt, so dass neben ihm selbst Silva fast schon facettenreich wirkt, ähem… Mario Adorf verdient seinen Lebensunterhalt zwar, indem er junge Mädels auf den Strich schickt, nimmt aber die Rolle des gar nicht mal so unsympathischen, zu unrecht Verfolgten ein, der das Herz am rechten Fleck trägt. Das Netz zieht sich immer stärker um ihn zu; die Mafia hat überall und nirgends ihre Kontaktmänner und Handlanger sitzen, die Canali das Leben schwer machen, der bald niemandem mehr trauen kann. Dabei beginnt der Film eigentlich relativ harmlos: Mafiosi schüsseln in Kleinwagen durch Mailand und prügeln sich zu fetzigen 70er-Discoklängen, Adorf verteilt Kopfnüsse gegen Gegner und Gegenstände. Doch spätestens nach den ersten Toten ist der Spaß vorbei bzw. fängt er für den Zuschauer erst so richtig an. Di Leo setzt rasante Verfolgungsjagden in Szene, die dem Zuschauer den Atem stocken lassen. Adorf rennt, kämpft, schießt und durchschlägt auf der Motorhaube eines fahrendes Autos hangelnd die Windschutzscheibe mit seinem Schädel – bis es zu einem packenden Showdown auf dem Schrottplatz zwischen den letzten drei Überlebenden kommt. Hammerhart fiel auch die Szene aus, in der Canali dem Mailänder Mafiaboss begegnet, denn Gefangene werden auch hier nicht gemacht. Interessantes Detail übrigens, wie die Angestellten des Mafiaobermotzes ihre Zigaretten in dessen Wohnung zu entsorgen pflegen. Noch interessanter ist aber das Frauenbild, das hier präsentiert wird: Eine meiner Lieblingsszenen sind die um den mit Geldscheinen wedelnden Henry Silva wild umherspringenden Prostituierten, was natürlich kein gutes Ende nimmt. Überhaupt rutscht öfter mal die Hand gegen das feminine Geschlecht aus, während eine emanzipierte Revoluzzerin mit Che-Guevara-Bildern an den Zimmerwänden als Animierdame in einem Nachtclub arbeitet und mit Zuhälter Canali befreundet ist… Dass die Mädels auch für einen gewissen Erotikanteil sorgen, brauche ich wohl nicht extra erwähnen. Der größte Hingucker ist und bleibt aber Mario Adorf, der tatsächlich um sein Leben zu spielen scheint und eine große Palette menschlicher Emotionen fulminant abdeckt. „Der Mafiaboss“ ist ein großartiger Mafia-Action-Reißer mit hohem Tempo, wahnwitzigen Stunts, verdienten bis hervorragenden Darstellern und kruden Ideen, der zum Unterhaltsamsten gehört, was ich bisher aus diesem Bereich zu sehen bekam. Ich glaube übrigens, im gesamten Film war kein einziger Polizist zu sehen...
Keoma
Zu "Keoma" trug ich hier am 13.11.2010 ein:
1976, als das Italo-Western-Genre bereits in den letzten Zuckungen lag, erschuf Regisseur Enzo G. Castellari mit „Keoma“ noch einmal ein emotionales Epos mit Franco „Django“ Nero als Halbblut Keoma in der Hauptrolle. Ihm zur Seite stehen verdiente Darsteller wie William Berger als Keomas Vater und Woody Strode als vom Sklaventum befreiter Schwarzer. Die Geschichte setzt kurz nach Ende des US-amerikanischen Bürgerkriegs an: Keoma kehrt zottelig wie ein traumatisierter Vietnam-Veteran in sein Heimatdorf zurück und findet eine von Krankheit, Zerstörung und Gewalt gezeichnete, fast schon endzeitartige Realität wieder, deren Alltag von Unterdrückung, Resignation und Rassismus geprägt ist. Sein Leben reflektierend und auf der Suche nach sich selbst, gerät Keoma in den Strudel der Gewalt; selbst seine Familie bietet mit seinen drei ihm feindlich gesinnten, weißen Brüdern keinen Rückzugspunkt. Dennoch versucht er, den Kranken und Unterdrückten zu helfen, was natürlich stilecht auf einen großen Showdown hinausläuft. Und eine geheimnisvolle alte Frau scheint dabei auch eine Rolle zu spielen…
Untermalt von einem ebenso außergewöhnlichen wie großartig gelungenen Soundtrack der De-Angelis-Brüder („Oliver Onions“), der mit männlich-weiblichem Wechselgesang Keomas Geschichte erzählt, erfreut sich der Zuschauer am herrlich dick aufgetragenen Pathos, geschickt eingeflochtenen Rückblenden in Keomas Kindheit und teilweise sehr gewitzten Kameraideen. Neros Erscheinungsbild ist zunächst gewöhnungsbedürftig, aber nicht minder gewagt und erinnerungswürdig, so dass die vom ihm verkörperte Figur über einen hohen Wiedererkennungswert verfügt. Berger, Strode, der den Oberbösewicht Caldwell spielende Donald O’Brien und alle anderen Darsteller bringen passable bis gute Leistungen und Schießereien und andere Gewaltszenen wurden blutig und inkl. markerschütternder Schreie effektiv umgesetzt. Die düstere, traurige Grundstimmung des Films verursacht in manch Einstellung eine Gänsehaut und es scheint, dass sogar gewisse alttestamentarische Bezüge hergestellt wurden. Leichte erzählerische Schächen werden durch all die Vorzüge dieses Films relativiert, der unterm Strich ein schönes Plädoyer für die Menschlichkeit ist und jeden Freund gelungener pathetischer Western-Unterhaltung begeistern dürfte. „Keoma“ reiht sich als Nachzügler in die Großtaten Leones, Corbuccis und Sollimas ein, wobei die Inspiration, die Castellari gewiss aus jenen Werken bezog, allgegenwärtig ist.
Der Antichrist
Am 07.03.2015 hielt ich schriftlich fest:
„Der Teufel denkt nicht daran, sich zu verstecken!“
Nach der ebenso schockierenden wie erfolgreichen Okkult-Horror-Referenz „Der Exorzist“ von William Friedkin sah sich natürlich die italienische Plagiatskino-Maschinerie inspiriert, das Konzept aufzugreifen und auf der Besessenheits-Horrorwelle mitzuschwimmen. Zu den dreistesten, aber auch gelungensten Italo-
Rip-Offs zählt dabei mit Sicherheit Genrefilmer Alberto De Martinos („Puma Man“) „Der Antichrist“, auch bekannt als „Schwarze Messe der Dämonen“ oder „The Tempter“, der 1974, also im Jahr eins nach Friedkins „Exorzist“, in die Kinos kam.
„Sie schloss sich einer Satanssekte an. Sie war zu allem bereit. Sie wollte weiter nichts als Freiheit und Liebe. Eine tragische Figur, die Mitleid verdient.“
Als Ippolita (Carla Gravina, „Tödlicher Hass“) zwölf Jahre alt war, starb ihre Mutter bei einem Autounfall. Seitdem ist sie an den Rollstuhl gefesselt und sehr unglücklich. Ihr Vater (Mel Ferrer, „Die Killermafia“) hat sich eine junge neue Freundin (Anita Strindberg, „Der Schwanz des Skorpions“) gesucht, auf die sie mit Eifersucht reagiert. Als sie als junge Frau zudem Anzeichen von dämonischer Besessenheit entwickelt, versetzt sie ein Psychologe (Umberto Orsini, „Der Mann ohne Gedächtnis“) in Hypnose und findet heraus, dass sie die Reinkarnation einer vor 400 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannten Ketzerin ist. Ihr Zustand verschlimmert sich, gleichzeitig entwickelt sie übernatürliche Kräfte. Sie beginnt, ihre Familie zu terrorisieren Obwohl sich ihr Vater lange dagegen wehrt, weiß man schließlich keinen schulmedizinischen Rat mehr und lässt sich auf einen Exorzismusversuch ein…
Nach einem fiebrigen Beginn mit irren Szenen religiöser Riten entwickelt De Martino in behäbigem Tempo seine Geschichte, statt gleich auf die Exploitation-Tube zu drücken. Dadurch gewinnen die Charaktere an Profil und wird der Zuschauer trotz unmissverständlich nahenden Unheils gewisserweise in trügerischer Sicherheit gewogen. Dieser kann sich an der ordentlichen Darstellerriege und vor allem dem prunkvollen, herrschaftlichen Ambiente erfreuen, das in Richtung Gothic-Horror tendiert und atmosphärische Zeichen setzt. Schließlich jedoch beginnen die Ereignisse sich zu überschlagen, urplötzlich kann Ippolita wieder gehen, vergisst sie die Etikette und schlingt am Esstisch, stößt unvergleichliche Schimpfkanonaden aus, spricht mit fremder Stimme, versetzt das Zimmer in Bewegung und bekommt Schaum vorm Mund. Auf diesen großartig inszenierten Besessenheitsausbruch musste man länger warten, doch es hat sich gelohnt. Bei einem laienhaften ersten Exorzismus-Versuch schwebt sie durchs Fenster und wieder zurück, zaubert glühende Kohlen und eine Würgehand herbei, verhöhnt den Wunderheiler (Mario Scaccia, „Schade, daß Du eine Kanaille bist“) und zwingt ihn, grüne Kotze zu lecken.
Ihr Vater sieht sich nun gezwungen, Opfer zu bringen und beendet die Liaison mit seiner Freundin, was Ippolita jedoch mittlerweile einen feuchten Kehricht interessiert: Sie prügelt und beschimpft ihn, stranguliert ihn per Telekinese. Dass sie inzwischen immer fertiger aussieht, hält sie nicht davon ab, ihren Bruder Filipo (Remo Girone, „Der Aufstieg des Paten“) sexuell zu belästigen. Als Nächster versucht sich ihr Onkel (Arthur Kennedy, „Die Viper“), ein eher glaubensschwacher Priester, an einem Exorzismus, doch der Teufel wehrt sich und Onkelchen bleibt erfolglos. Nun ist klar: Ein Profi muss her, da beißt die Maus keinen Faden ab. Man beauftragt einen österreichischen Bettelmönch (George Coulouris, „Mord im Orientexpress“), der sich mit tanzenden Möbeln, einem regelrechten Orkan, Regen mitten im Haus und entfachtem Feuer konfrontiert sieht. Ippolita bzw. das, was von ihr Besitz ergriffen hat, spuckt grünen Schleim und wird immer entstellter. Erst ist sie plötzlich doppelt da, dann rennt sie weg, doch man ist ihr auf den Fersen…
Wie bereits eingangs erwähnt, handelt es sich um ein unschwer als solches zu identifizierendes „Der Exorzist“-
Rip-Off, das jedoch sorgfältig eigene Ideen einpflegt und sich an den Schlüsselmomenten des Vorbilds orientiert, die es bisweilen fast 1:1 kopiert, oft genug jedoch mittels eigener Ideen gekonnt variiert. Das Umfeld ist dann auch ein ganz eigenes, ebenso individuell sind die Charaktere, lediglich das Kernstück aus Friedkins Film blieb erhalten. Eine Produktion aus der Diskont-Ecke ist „Der Antichrist“ dann auch augenscheinlich keinesfalls, die Ausstattung kann sich ebenso sehen lassen wie die Make-up-Arbeit und Aristide Massaccesis (alias Joe D’Amato) hervorragende Kameraarbeit, die das Potential dieses Mannes beweist. An den Spezialeffekten hat der Zahn der Zeit etwas genagt, doch funktionieren sie noch immer prima, in Kombination mit Ippolitas krudem Gebaren verfehlen sie ihre Schock- und Ekelwirkung nicht – wo der Horrorfaktor nicht ganz mit Regan mithalten kann, wird eben auf zusätzliche Übertreibung gesetzt, so dass De Martinos Film herrlich obszön, schmuddelig (inkl. Masturbationsszene) und blasphemisch ausgefallen ist. Die ausführliche Exposition mag ihre Längen haben und hätte etwas Straffung hinsichtlich der Dialoge und des Schnitts sicherlich vertragen, aber De Martino beweist durchaus Gespür für die psychologische Komponente, die zunächst nur diffuse, latente okkulte Bedrohung und langsame Entfaltung der Handlung sowie ihrer Zuspitzung. Neben dem Prolog lockert eine Rückblende in das Leben Ippolita seniors die Szenerie wunderbar auf und sorgt für Tapetenwechsel. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist das eines geköpften Reptils und ebenso kopflos schien man beim Entwurf der finalen Pointe gewesen zu sein, denn das Ende fällt in seiner unspektakulären Art doch stark ab – hier hätte es gern noch etwas mehr sein dürfen, gern auch eine Rückkehr zum psychologischen Aspekt der körperlich eigentlich gesunden, dennoch gelähmten und unter Ängsten und wenig Selbstvertrauen leidenden Ippolita.
Das Ensemble von internationalem Format lässt sich überraschenderweise bisweilen von der aufdrehenden Carla Gravina an die Wand spielen, der zuzusehen als Okkult-Horror-Freund die reinste Wonne ist. Untermalt wird die dämonische Szenerie von Musik aus den Federn Morricones und Nicolais, die Kirchenorgeln mit experimentell anmutenden Streicherklängen etc. paaren und dem Wahnsinn Ippolitas akustisch Ausdruck verleihen. Ja, in dieser Form macht das vielgescholtene „italienische Plagiatskino“ mächtig Spaß, weshalb „Der Antichrist“ kurzum in jede anständige Horror-Sammlung gehört! Und für diejenigen, die nie mit den offiziellen „Der Exorzist“-Fortsetzungen warm geworden sind, ist dies hier evtl. gar der Film, den man sich als zweiten Teil gewünscht hätte.
Es war einmal in Amerika
Am 29.06.2011 entrann meinen Tippfingern wie folgt:
„Ich mag den Gestank der Straße, ich rieche ihn gern. Wenn ich ihn einamte, fühle ich mich wohler.“
Mit „Es war einmal in Amerika“, basierend auf dem zumindest vorgeblich autobiographischen Roman „The Hoods“ von Harry Grey, schloss Sergio Leone 1984 seine „Amerika“-Trilogie, die neben jenem aus den weiteren beiden Filmen „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „Todesmelodie“ besteht, ab. Es sollte leider sein letzter Film sein. Aber was für einer!
Leone hat tatsächlich das Kunststück vollbracht, einen über dreieinhalbstündigen (und ursprünglich anscheinend sogar noch länger geplanten) Film zu kreieren, ohne zu langweilen oder sich abzunutzen. „Es war einmal in Amerika“ unterhält von der ersten bis zur letzten Sekunde prächtig und auf verdammt hohem Niveau. Statt eines zähen Geschichtsepos präsentiert Leone vordergründig die Geschichte einer New Yorker Verbrecherorganisation zu Zeiten der Prohibition bzw. nach Aufhebung selbiger und zeichnet dabei den damaligen Überlebenskampf armer Straßenkinder, ihre Entwicklung nach dem „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Prinzip abseits des Gesetzes sowie die kapitalistischen Mechanismen zur Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft, Korruption, Erpressung und Auftragsmorde nach. Doch damit nicht genug, eigentlich geht es um viel mehr: Männerfreundschaft und –feindschaft, Loyalität und Verrat, Bodenständigkeit und Ehrgeiz, Moral und Sünde, Wahrheit und Lüge, Lebensfreude und unglückliche Liebe, Jugend und Alter… – und das vielleicht mitunter ziemlich dick aufgetragen, aber nie in die Kitschfalle tappend. Stattdessen ist man sehr erfolgreich um Realismus bemüht: Es gibt keine Heldengestalten, keine makellosen Sympathieträger. Wird jemand erschossen, spritzt Blut, wenn auch zugegebenermaßen ungewöhnlich helles, doch Gewaltanwendungen haben sichtbare Konsequenzen. Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung und weder für ihr Opfer nur für den Zuschauer angenehm. Dass diese nüchtern, aber nie zynisch eingesetzten Elemente wohldosiert und nicht selbstzweckhaft Verwendung fanden, braucht wohl nicht wirklich erwähnt werden.
Leones Film erstreckt sich über drei Zeitebenen, die in loser, nichtchronologischer Abfolge und episodenartig aneinandergereiht werden. Die einzelnen Ereignisse zeitlich korrekt im Kontext zum brutalen, undurchsichtigen Prolog einzuordnen, erfordert einige Konzentration und erhält bis zum Schluss die Spannung aufrecht, doch auch wenn man den roten Faden mal verliert oder gar vergisst, dass es einen gibt, funktioniert „Es war einmal in Amerika“ insbesondere aufgrund seines pointierten episodenartigen Charakters. Am Ende fügen sich alle Puzzleteile zu einem überraschenden Finale zusammen, das so wohl kaum jemand hervorgesehen haben dürfte.
Für die 1922 spielenden Szenen verpflichtete man eine Reihe Jungdarsteller, die nicht nur großartig das Schauspiel beherrschen, sondern auch ihren erwachsenen Äquivalenten verblüffend ähnlich sehen (unter ihnen debütiert übrigens die bezaubernde Jennifer Connelly). Man lernt die jugendlichen bis kindlichen Noodles, Max & Co. kennen und schließt sie schnell ins Herz. Zu beobachten, wie sie sich in den Straßen New Yorks durchschlagen, hat etwas von juveniler Ausreißerromantik und trotz aller Widrigkeiten, denen sie ausgesetzt sind, macht es Spaß, ihnen beim Erwachsenwerden zuzuschauen. Dass sie zwangsläufig bereits eine beachtliche kriminelle Energie entwickeln und eine verschwörerische Gang bilden, ist einerseits erschreckend, andererseits aber ein Hoffnungsschimmer in einer Welt, in der manch unterprivilegiertes Individuum unter die Räder kommt. Die Hoffnung zerbricht jäh, als der Streit mit einer älteren Gang eskaliert und Noodles den Anführer ersticht, woraufhin er eine Gefängnisstrafe antreten muss.
In den 1932 spielenden Szenen trumpfen dann Robert De Niro als Noodles und James Woods als Max mächtig auf. Als Noodles aus dem Gefängnis entlassen wird, ist die alte, kleinkriminelle Clique zu einer mächtigen Untergrundorganisation geworden, die illegale Kneipen und Bordells betreibt und „Auftragsarbeiten“ verrichtet. Doch nach anfänglicher Wiedersehensfreude – u.a. mit Noodles Jugendliebe Deborah – kristallisieren sich Diskrepanzen zwischen Noodles Erwartungshaltung und der gänzlich anders gearteten Realität heraus. Nicht zuletzt aufgrund des Loyalitätsschwurs bleibt Noodles aber an der Spitze der Organisation und betreibt sie zusammen mit Max weiterhin sehr erfolgreich. Man steigt gar in den politischen Kampf ein und unterstützt die Gewerkschaften in ihrem Kampf gegen den Terror des Arbeitgeberverbands und anderer reaktionärer und korrupter Kräfte. Das mutet für einen Gangsterfilm zunächst etwas seltsam an und ich bin mir nicht sicher, ob hier nicht evtl. Leones (bzw. Greys) Idealismus mit ihm durchging oder ob derartige Fälle geschichtlich verbürgt sind. An dieser Stelle beobachtete ich interessanterweise eine Art Stilbruch: Im Zuge des Polit-Zirkusses wird der Film humorvoller und ich wähnte mich bisweilen in einer parodistischen Satire. Das Stilmittel der karikierenden Überzeichnung von Charakteren wird beispielsweise für den korrupten Polizisten angewandt, der kurzzeitig eine Rolle im Geschehen einnimmt. Das lockert den schweren Stoff einerseits auf, reißt den Zuschauer aber andererseits aus der bisherigen Stimmung des Films. Letztlich handelt es sich aber um ein im Vergleich zur Gesamtlaufzeit relativ kurzes Intermezzo. Max und Noodles scheinen sich immer weiter in entgegengesetzte Richtungen zu entwickeln. Oder entwickelt Max sich weiter und Noodles tritt auf der Stelle, seine Entwicklung stagniert? Diese Momente gehören zu meinen persönlichen Favoriten innerhalb des Films – wohin wird diese Interessendivergenz führen? Wie viel hält diese Freundschaft aus? Siegt das Loyalitätsbekenntnis über das eigene ungute Gefühl? Wie geht Noodles mit der Situation um, welche Entscheidungen werden getroffen? Leone zieht die Spannungsschraube an.
Die dritte Zeitebene wurde 1968 angesiedelt. Die Schauspieler wurden durch hervorragende Maskenkünste auf alt getrimmt, man bekommt es also glücklicherweise weiterhin mit De Niro und Konsorten zu tun und beobachtet einen sonoren, in sich ruhenden, in einer Mischung aus Desillusion und Abgeklärtheit schwer aus dem Konzept zu bringenden Noodles auf der Suche nach seinem vergangenen Leben, mit dem anscheinend abgeschlossen hat. Ein einsamer, alternder Mann auf der Suche nach der Wahrheit. Strenggenommen findet er sie anscheinend ohne wirklich nach ihr gesucht zu haben. Erst ein ominöser Brief mit der Aufforderung, zurück nach New York zu kommen, bringt diesen Prozess in Gang. Ein Prozess, der sowohl für Noodles als auch den Zuschauer mit einigen Überraschungen gespickt ist. Wir erleben, wie wichtige Parameter in Noodles Leben auf den Kopf gestellt werden, eine Art beschwerlichen Selbstreinigungsprozess, eine Bilanzierung. Mehr verrate ich nicht.
Die Ausstattung aller drei Zeitebenen erscheint detailliert und realistisch, man fühlt sich in die jeweilige Epoche zurückversetzt. Nettes Detail: Das Wort „Mafia“ kommt – ähnlich wie in Coppolas „Der Pate“ und sofern ich mich nicht verhört habe – kein einziges Mal vor, wobei man es hier aber auch mit keiner typischen Mafia zu tun hat. Leone und sein Team schienen nichts dem Zufall zu überlassen, jede Einstellung, Kameraperspektive, Geste und Mimik scheint durchdacht. Die Gänsehaut wird in einer Reihe von Szenen strapaziert, ohne dass Leone auf seinen typischen Western-Pathos hätte zurückgreifen müssen. Seine Sensibilität im Umgang mit der Melancholie des Films und dessen Protagonisten sorgt für manch leisen Moment in einem ruhig erzählten Film, der sich – eher ungewöhnlich für die 1980er – alle Zeit der Welt nahm und von der Musik des Maestros persönlich, Ennio Morricone, veredelt wurde. In der Retrospektive – entweder noch während des Ansehens bereits bezogen auf vorausgegangene Szenen oder unmittelbar danach vor allem hinsichtlich des wahnwitzigen Finales – wird zumindest mir die Wirkung bedeutungsvoller Einzelszenen bzw. des gesamten Films erst richtig bewusst. Ich spüre richtiggehend, wie sich „Es war einmal in Amerika“ im Langzeitgedächtnis festsetzt und ich Noodles Erfahrungen als Teil meiner eigenen von nun an mit mir tragen werde; schließlich habe ich fast vier ereignisreiche Stunden seines Lebens mit ihm geteilt. Und das Tollste: Das Ende lädt direkt zur Zweitsichtung ein.
Ganz, ganz großes Kino. Mit Sicherheit einer der sehenswertesten Filme überhaupt. Sergio Leone war einfach der Beste.