Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Di 28. Jan 2025, 15:28
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Die verrückten 90er – Das Turbo-Jahrzehnt der Deutschen
„Das schnellste Jahrzehnt der Deutschen.“
Mit der rund eineinhalbstündigen Dokumentation „Die verrückten 90er – Das Turbo-Jahrzehnt der Deutschen“ unterbrach WDR-Redakteur Heiko Schäfer die Chronologie seiner Reihe: Waren auf „Die verrückten 80er“ noch die „Die verrückten 70er“ gefolgt, musste man auf „Die verrückten 60er“ bis ins Jahr 2021 warten, denn zunächst nahmen er und sein Team sich die 1990er vor. Der Film wurde im Jahre 2017 erstausgestrahlt. Mit stärkerem lokalen Bezug vertiefte der WDR das Thema zwei Jahre später innerhalb der zehnteiligen Dokureihe „Unser Land in den 90ern“, während ZDF Info den Dreiteiler „Die 90er – Jahrzehnt der Chancen“ sendete. Vorausgegangen war Schäfer die NDR-Doku „Einfach krass! Die coolen 90er“ aus dem Jahre 2016, deren Ausstrahlung auch unter anderen Titeln wiederholt wurde (und mir leider noch unbekannt ist, die aber starke Inhaltliche Parallelen zur Melanie Didiers WDR-Doku „Jung in den 90ern – Gameboy, Girlies, Glücksgefühle“ bis hin zu den kommentierten Studiogästen aufzuweisen scheint).
Konzeptionell bleibt Schäfer sich treu, scheint sich mir diesmal lediglich noch strenger an die Chronologie des Jahrzehnts zu halten: Vermischtes Unterhaltsames und Wissenswertes aus Politik und Gesellschaft, Popkultur und Boulevard, Sport, Wirtschaft etc. wird zu einem bunten Panoptikum geschnürt und in Form zahlreicher Originalaufnahmen, wie sie in den 1990ern über die Mattscheiben flimmerten, unterschiedlichen prominenten Gästen gezeigt, die diese, unterstützt von Off-Stimme Susanne Hampl, kommentieren. Bei diesen handelt es sich diesmal um die Humoristin Tahnee Schaffarczyk sowie die Humoristen Torsten Sträter und Abdelkarim, die Musikerinnen und Musiker Marusha, Sabrina Setlur, Bürger Lars Dietrich, Sebastian Krumbiegel und Bastian Campmann, die Moderatorin Anna Planken und ihre männlichen Kollegen Dieter Könnes und Daniel Aßmann.
Nach einer popkulturellen und politischen Collage als Prolog steigt man mit dem Jahr 1990 ein, weil man sich weiterhin nicht an der eigentlichen Dekade, die von 1991 bis zum Jahr 2000 reicht, orientiert. Es werden folgende Themen angerissen:
1990:
• Mode: Plateauschuhe (furchtbar)
• Attentat auf Lafontaine
• Attentat auf Schäuble
• Währungsunion
• Frank Rijkards Attacken gegen Rudi Völler während der Herrenfußball-WM in Italien
• Die Popper- und Neo-Hippie-Selbstdarstellung „Loveparade“
• Golfkrieg
• Game Boy
• Diddl-Maus (obwohl sie erst 1991 erstmals auftauchte)
1991:
• Noch einmal Golfkrieg, in Farbe auf CNN (kritisch kommentiert von Sträter)
• Ötzi-Fund
• Naziterror in Hoyerswerda
• Internet und World Wide Web
• Mode (1991 noch sehr ‘80er)
• Trend zu Einkindfamilien und damit zu Spielkonsolen (steile These)
• My Little Pony (eigentlich ein ‘80er-Phänomen)
1992:
• Die EG wird zur EU
• Doping in der Leichtathletik
• Herrenfußball-EM in Schweden mit Dänemark statt Jugoslawien
• Supersoakers
• Autotelefon und Mobiltelefonie
• Naziterror in Rostock
• Super-NES
• Bill Clinton wird neuer US-Präsident
• Trennung von Prinz Charles und Lady Di
1993:
• Attentat auf Monica Seles
• Mode: Schlabberlook und Tierfellmuster, bunte Sakkos, Raver-Kitsch
• Naziterror Mölln (obwohl ‘92) als Überleitung zum Naziterror in Solingen (sehr gut: die Namen der Todesopfer werden genannt)
• Neue fünfstellige Postleitzahlen
• Bundesverdienstkreuz für die Ohoven
• Höchster Rheinpegelstand, dämliche Gaffer
1994:
• Eiskunstlauf: Tonya Harding versus Nancy Kerrigan (auch ein Zeichen für die neue Verrohung der damaligen Zeit)
• Daily Talks
• Kult-Kaufhauserpresser „Dagobert“
• Herrenfußball-WM in den USA und Stefan Raabs Böörti-Songs
• Die Fähre Estonia sinkt, rund 900 Tote
• Tattoos und Arschgeweihe
1995:
• Mode: bauchnabelfrei und gepierct
• Christos Reichstagsverhüllung
• Noch einmal Mobilfunk
• Balkankrieg (wird endlich aufgegriffen)
• Windows 95 (*würg*)
1996:
• Feuerkatastrophe im Düsseldorfer Flughafen
• Golden Goal und Herrenfußball-EM-Titel in England
• Neue Damenfrisuren
• Rio Reisers Tod inkl. Kurzporträt
• Abschaffung des Sonntagsbackverbots
• Telekom-Aktien (lol)
• DVD
• Flachbildfernseher
1997:
• Klonschaf Dolly
• Vergewaltigung in der Ehe wird strafbar, die CDU ist dagegen und boykottiert die Abstimmung
• Das Tamagotchi
• Lady Dis Unfalltod
• Mercedes‘ A-Klasse versagt beim Elchtest
1998:
• US-Präsident Bill Clintons Lewinsky-Affäre (Stichwort Oral Office)
• Herrenfußball-WM in Frankreich…
• …und der dortige Hooligan-Terror
• Viagra
• Die Schröder-Bundesregierung
1999:
• Alando wird von eBay gekauft, die Gründer rufen ihre Jamba-Handy-Klingeltonscheiße ins Leben
• Literaturnobelpreis für Günther Grass
• iMacs in der TV-Sendung „Computer-Club“
• Angst vorm Jahreswechsel
Diese Doku will kein nostalgischer Feelgood-Film sein und spart auch unangenehme Themen wie Kriege, Attentate und Plateauschuhe nicht aus. Klar, um den Golfkrieg und den Neonazi-Terror (Stichwort „Baseballschlägerjahre“) kommt keine Doku über das Jahrzehnt herum, manches aber wird sicherlich gern ausgespart. Dass jedoch heutzutage beim allgemeinen Entsetzen über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, darüber, dass wieder ein Krieg in Europa Realität geworden ist, der mit der Zerschlagung Jugoslawien nach Ende des Kalten Kriegs einhergehende Balkankrieg gern vergessen wird, nun… dazu trägt vielleicht auch bei, wie nebensächlich jene humanitäre, politische und moralische Vollkatastrophe auch in Schäfers Film behandelt wird – beinahe, als habe es sich um ein singuläres Ereignis im Jahre 1995 gehandelt. Die Massenarbeitslosigkeit der 1990er und der massive Sozialabbau spätestens gegen Ende des Jahrzehnts finden hingegen erst gar keine Erwähnung.
Bei einer ja dennoch gegebenen derartigen Fülle an Themen darf (und wird) natürlich auch niemand mit Tiefgang rechnen; und kritische Worte zu Ereignissen und Phänomenen, zu denen es mindestens zwei Meinungen geben kann, überlässt man den prominenten Kommentatorinnen und Kommentatoren. In Kombination mit dem Off-Kommentar und den alten TV-Ausschnitten sorgen diese sowohl für einen recht hohen Unterhaltungswert als auch für eine persönliche Note, wobei sich insbesondere Torsten Sträter hervortut und zu fast allem die richtigen Worte findet, während die anderen größtenteils Gefälliges, das nicht aneckt, von sich geben. Überrascht war ich, dass man das Phänomen der täglichen (Nach-)Mittagstalkshows, die irgendwann in inflationären Ausmaßen gesendet wurden und die Trash-TV-Initialzündung darstellten, in einem Anflug öffentlich-rechtlicher Selbstkritik speziell anhand Pastor Jürgen Fliege aufgriff, der meines Erachtens stellvertretend für die Verflachung der Öffentlich-Rechtlichen seinerzeit steht. Erwartungsgemäß wird aber auch dies nicht vertieft.
Abseits politischer Themen geht es eher boulevardesk zu, dennoch vermisse ich zahlreiche Themengebiete wie die neuen Popularitätswerte von Top-Models, den die ‘80er in den Schatten stellenden Konsum-, Marken und Körperwahn, den MTV- und Viva-Boom, den Siegeszug von Daily Soaps, musikalische Trends wie Grunde, Gitarrenmusik-/Hip-Hop-Crossover, Eurodance, den Boygroup-Hype, das Punk-Revival (inkl. der legendären Chaostage 1995), die Wiederentdeckung des deutschen Schlagers (z.B. Guildo Horn) oder auch Kurt Cobains und Falcos Tod, wie Henry Maske und RTL den Boxsport gesellschaftsfähig machten, den Boom von Extremsportarten und die Kino-Höhepunkt des Jahrzehnts. Einiges davon findet sich aber in den eingangs erwähnten weiteren abendfüllenden ‘90er-Dokus.
Unterlegt werden die einzelnen Abschnitte mit damaliger zeitgenössischer Musik, wobei man es mit der Chronologie nicht so genau nimmt und Chers Autotune-Hit „Believe“ beispielsweise bereits 1993 integriert. Die Perspektive ist insgesamt eher west- denn gesamtdeutsch, was indirekt zeigt, wie abgehängt die neuen Bundesländer damals waren. Als Rundumschlag für Freundinnen und Freunde solcher Formate sicherlich sehenswert und unterhaltsam, aber nur leidlich als generationenübergreifendes Dekadenporträt und – wie üblich – nur bedingt zur Vermittlung über das Mindestmaß hinausgehender Informationen geeignet.