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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: Fr 3. Mai 2019, 17:31
von buxtebrawler
Tatort: Das Nest

„Wir sind, wer wir sind.“

Im sechsten Dresdner „Tatort: Wer jetzt allein ist“ sagte Alware Höfels leider Lebwohl, an Oberkommissarin Karin Gorniaks (Karin Hanczewski) Seite wurde somit ein Platz frei. Dieser wurde in „Das Nest“ mit Cornelia Gröschel als Kommissarin Leonie Winkler neu besetzt. Zwar durfte mit Alexander Eslam („Bissige Hunde“) ein noch relativ unerfahrener Regisseur auf dem Regiestuhl platznehmen, fürs Drehbuch ging man aber auf Nummer sicher und verpflichtete mit Erol Yesilkaya einen Mann als Autor, der bereits diverse herausragende Beiträge zur Krimireihe für sich verbuchen konnte.

Ein nächtlicher Autounfall lässt die verletzte Maja Peters (Judith Neumann, „Liebesfilm“) ein abgelegenes Hotel aufsuchen, das jedoch leersteht – bis auf einen maskierten Mörder, der gerade eines seiner Opfer bearbeitet. Peters alarmiert die Polizei, woraufhin das SEK zusammen mit Kommissariatsleiter Schnabel (Martin Brambach), der Ermittlerin Gorniak und der neuen Kollegin Winkler das Gebäude durchsucht. Man findet weitere Leichen, mit denen der Mörder offenbar Alltagssituationen menschlichen Zusammenlebens wie in einem Puppenhaus nachgestellt hat. Doch es gelingt ihm, Gorniak ein Messer in den Bauch zu rammen und zu entkommen. Zwei Monate lang ist sie außer Gefecht gesetzt und tritt zunächst ihren Dienst in der Asservatenkammer wieder an. Winkler aber ist auf sich allein gestellt mit dem Fall überfordert. Gorniak ist von der Zusammenarbeit mit ihrer neuen Kollegin zunächst wenig begeistert, hat diese doch durch ihr zögerliches Verhalten es dem Täter erst ermöglicht, zuzustechen. Die Chance, den Mörder dingfest zu machen, verleiht Gorniak jedoch neue Kraft. Der Kreis der Verdächtigen reduziert sich schließlich auf zwei Personen, Mitarbeiter derselben Klinik: Chirurg Christian Mertens (Benjamin Sadler, „Ein Atem“) und Krankenpfleger Bernd Haimann (Wolfgang Menardi, „Bergblut“). Einer von ihnen ist der Mörder und bringt kurzerhand den anderen um, um den Verdacht auf ihn zu lenken…

Die durch den Rückzug von Autor Ralf Husmann immer ernster gewordene Dresdner „Tatort“-Reihe um ein weibliches Ermittlungsduo muss nun also eine neue Ko-Hauptrolle einführen, die es im Drehbuch alles andere als leicht hat, womit man die Tradition erschwerter Neuanfänge für neue Kollegen oder Kolleginnen fortsetzt. Eigentlicher Star dieses Falls ist jedoch der Mörder, denn nach anfänglichem Whodunit? avanciert „Das Nest“ schnell zum Thriller, der viel vom Täter zeigt und dem Publikum einen Informationsvorsprung gegenüber den Ermittlerinnen gewährt. Und dies alles wohlgemerkt nach einem herrlich gruseligen Auftakt, der an die Finals manch Slasher erinnert, in denen das Leichenversteck des Mörders entdeckt wird.

Der Mörder ist ein unauffälliger netter Familienvater von nebenan, der seiner eigentlichen Passion exakt durchkalkuliert und eiskalt nachgeht und Gorniak dadurch einmal mehr in akute Lebensgefahr bringt. Das ist hochspannend inszeniert und mündet in ein Finale, dessen Ausgang den Zuschauerinnen und Zuschauern aus Sicht der Ermittlerinnen präsentiert wird, dessen tatsächlicher Verlauf jedoch schwammig bleibt – wahrscheinlich ist jedoch, dass hier im Prinzip ein Fall von Selbstjustiz vorliegt, der von der Polizei vertuscht wird und um das Verständnis des Publikums buhlt. Das mag problematisch und diskussionswürdig sein, macht diesen Fall jedoch keinesfalls schlechter. Seine Ermittlungsarbeit lebt vom Kontrast zwischen Gorniak und Winkler, der zum Gegensatz von praktischer, intuitiv geleiteter, manch Grenzüberschreitung hinnehmender Polizeiarbeit und auf der einen und eher verunsicherter, theorie- und faktengestützter Vorgehensweise auf der anderen Seite avanciert, womit beide Charaktere, die sich in den folgenden Episoden weiter zusammenraufen werden müssen, grob umschrieben wäre. Winklers „Ladehemmung“ zu Beginn erinnert an den Fall „Waffenschwestern“ mit Andrea Sawatzki, nimmt jedoch einen anderen Verlauf. Gorniak scheint sich an der Seite Winklers ein Stück weit neu zu erfinden bzw. stärker in Alwara Höfels ehemalige Rolle einzufinden.

Schade, dass der Fall trotz aller Qualitäten etwas unrund wirkt, da man aus dem starken Motiv aus der Exposition, den drapierten Leichen, nichts machte: Die Beweggründe des Mörders bleiben höchst diffus, eine tiefere Auseinandersetzung mit seinen psychischen Defekten wäre wünschenswert gewesen und hätte das Potential gehabt, „Das Nest“ auf den Dresden-„Tatort“-Olymp zu heben. So bleibt ein starker Fall, der verdammt gute Thriller-Unterhaltung mit Gänsehaut-Momenten bietet, jedoch nicht alle losen Enden befriedigend zusammenführt. Auf die weitere Entwicklung im „Tatort“-Dresden darf man nichtsdestotrotz gespannt sein!

Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: Sa 4. Mai 2019, 22:01
von FarfallaInsanguinata
Zur Episode "Voll auf Hass" hatte ich mich ja schon vor einigen Jahren geäußert. Bleibt für mich ein indiskutabler Haufen Dreck.
Nachzulesen im Fred zum Film "Kahlschlag", wer mag...

Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: Di 28. Mai 2019, 15:45
von karlAbundzu
Tatort München: Die ewige Welle
Ein neuer Tatort aus München, mit Batic, Leitmayr und Kalli. Aber eigtnlich nur Leitmayr.
Der war in den frühen 80ern so eine Art Surfpunk, fuhr mit Freund und Freundin in einer Menage a trois an Portugals Stränden entlang, bis halt dieses mit der Liebe auftauchendem Besitzdenken das Trio trennt. Franz wird Bulle, Mikesch und Frida haben, wenn auch beide unterschiedlich noch das freie Leben im Kopf.
Mikesch will mit einem jungen Surferfreund nach Sri Lanka abhauen, sozusagen das aktuelle Portugal, will dafür einen riesen Drogendeal durchziehen, wird angestochen, Leute sterben an seinem Zeug, er rennt verletzt durch München und versucht es irgendwie richtig hinzubekommen.
Also: Kein Krimi, hier eine Geschichte zu was war und was daraus wird un werden kann. Mikesch und Franz stehen im Mittelpunkt, es gibt immer wieder Rückblenden an den Strand Portugals.
Das Schöne dabei, moralisch wird keine Stellung genommen, ob nun Franz oder Mikesch oder Frida den richtigen Weg gingen/gehen. Das hat auch alles eine Leichtigkeit und ist flockig erzählt. Insgesamt ein wenig soupig, aber schön zu sehen. Um so überraschender, dass sich gen Ende der Ton ins harte tragische ändert.
Inklusive hübscher Nebencharaktere wie den durchgeknallten Althippie, der nur kein Stress will, aber irgendwie doch den Check hat. Gespielt vom tollen Michael Tregor, der immer mit den speziellen Rollen besetzt wird. Würde ich gerne mehr und größer sehen.
Auch gut, der Gorilla vom Gangsterboss!
Insgesamt ein wenig soupig, aber schön zu sehen.

Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: Mi 29. Mai 2019, 22:27
von FarfallaInsanguinata
Den betreffenden Tatort habe ich zwar nicht gesehen, aber etwas witzig finde ich das schon, wenn im Nachhinein diversen Fernsehcharakteren versucht wird, eine "rebellische" Vergangenheit anzudichten. Inga Lürsen musste doch vor einigen Jahren auch mal auf ihre Kontakte aus Hausbesetzerzeiten zurückgreifen, wenn ich das richtig erinnere.
Und die Darsteller erst, die waren ja sowieso alle voll die Unangepassten als Jugendliche.

Ich kann das beim besten Willen nicht ernst nehmen. Die Realität sah nunmal völlig anders aus. 95% der jungen Menschen waren völlig angepasste brave Spießer und wir anderen 5% waren quasi Aussätzige. Und egal, wie hipp und gewünscht es heute sein mag, als etablierter reicher Arsch zu behaupten, man wäre ja in seiner Jugend ach mal so aufmüpfig gewesen, bleibt es trotzdem nur eine Lüge.

Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: Fr 31. Mai 2019, 14:42
von karlAbundzu
PS: EIn Tatort, in dem zu Commando von den Ramones gepogt wird, kann nicht ganz schlecht sein.

Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: Fr 31. Mai 2019, 16:53
von purgatorio
buxtebrawler hat geschrieben:Tatort: Das Nest
Den habe ich mir wegen des Lokalkolorits auch angesehen. Ich fand die zweite Hälfte zwar weniger gut, mitunter nicht plausibel und zu offen, aber das Opening beeindruckte mich sehr. Mit wenigen Einstellungen (Kennzeichen, Rücklicht, Perspektive, Nebel und Nacht) wird die Situation hinreichend als nächtlicher Unfall im Wald und ohne Hilfe umrissen. Die Kameraarbeit skizziert das Szenario nur flüchtig. Dann das Hotel und der ultraspannende Auftakt - groß-ART-ig!!! Ich war absolut beeindruckt. Dieses Niveau konnte die Episode dann zwar nicht halten, aber schwer unterhaltsam war sie trotzdem. Sollte ich wohl öfter mal in einen Tartort reinschauen?

Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: So 2. Jun 2019, 12:30
von Reinifilm
purgatorio hat geschrieben:
buxtebrawler hat geschrieben:Tatort: Das Nest
Den habe ich mir wegen des Lokalkolorits auch angesehen. Ich fand die zweite Hälfte zwar weniger gut, mitunter nicht plausibel und zu offen, aber das Opening beeindruckte mich sehr. Mit wenigen Einstellungen (Kennzeichen, Rücklicht, Perspektive, Nebel und Nacht) wird die Situation hinreichend als nächtlicher Unfall im Wald und ohne Hilfe umrissen. Die Kameraarbeit skizziert das Szenario nur flüchtig. Dann das Hotel und der ultraspannende Auftakt - groß-ART-ig!!! Ich war absolut beeindruckt. Dieses Niveau konnte die Episode dann zwar nicht halten, aber schwer unterhaltsam war sie trotzdem. Sollte ich wohl öfter mal in einen Tartort reinschauen?
Ich glaube ja fast dass die Macher sich an einigen Stellen leider etwas zurückhalten mussten (gerade in der zweiten Hälfte), da aufgrund des Sendeplatzes maximal FSK 12 drin ist.
Dennoch die stärkste Tatort-Folge in letzter Zeit.

Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: Di 4. Jun 2019, 14:17
von buxtebrawler
purgatorio hat geschrieben:Sollte ich wohl öfter mal in einen Tartort reinschauen?
Als Dresdner auf jeden Fall in die Dresdner ;)

Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: Mi 26. Jun 2019, 11:44
von buxtebrawler
Tatort: Borowski und das dunkle Netz

„Wir sind ja nicht die NSA!“

Fall 29 für Borowski (Axel Milberg), Fall zwölf für Brandt (Sibel Kekilli): Regisseur und Co-Autor David Wnendt („Er ist wieder da“) schickt in Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Thomas Wendrich das Kieler Ermittlungsduo in die Untiefen des Darknets und erklärt dem Publikum, was das eigentlich ist und wie die Polizei es zu bekämpfen versucht. Wnendts erste TV-Arbeit wurde am 19. März 2017 erstausgestrahlt.

In einem Kieler Fitnessstudio werden Jürgen Sternow (Pjotr Olev, „Krüger aus Almanya“), Leiter der Cybercrime-Abteilung des LKA, und der Betreiber des Studios von einem maskierten Killer (Maximilian Brauer, „Wir waren Könige“) ermordet. LKA-Leiter Wolfgang Eisenberg (Michael Rastl, „Kleine Fische“) und Staatsanwalt Tom Austerlitz (Jochen Hägele, „Virtual Revolution“) betrauen die Kieler Hauptkommissare Borowski und Brandt mit dem Fall. Die Spur führt ins Darknet, mit dem sich die jungen Ermittler Cao (Yung Ngo, „Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel“) und Dennis (Mirco Kreibich, „Das Romeo-Prinzip“) auskennen, die Teil des Überwachungssystems „Schakal“ für digitale Medien sind. Dort wurde ein Auftragsmörder angeheuert, dessen Auftraggeber nun Beweise sehen will. Der Mörder ist in einem Hostel untergetaucht, in dem die Rezeptionistin Rosi (Svenja Hermuth, „Sex & Crime“) sexuelles Interesse an ihm hegt. Je näher die Polizei dem Täter kommt, desto nervöser wird dieser und begeht Fehler – doch wer war der Auftraggeber und was war sein Motiv?

Die dem Fall zugrunde liegenden brutalen Morde werden in Ego-Shooter-Videospiel-Ästhetik aus der Point-of-View-Perspektive visualisiert und bilden damit einen fulminanten Auftakt, zumal sich eines der Opfer als äußerst wehrhaft erweist. Sie sollen nicht die einzigen stilistischen Besonderheiten dieses „Tatorts“ bleiben: Das „Schakal“-System wird in einem Zeichentrick-Werbespot erläutert, Deep- und Darknet mittels digitaler Animation erklärt – durchaus so, dass ein durchschnittliches „Tatort“-Publikum es versteht. Auch das Bitcoin-Kryptowährungsprinzip versucht man den Zuschauerinnen und Zuschauern näherzubringen und gewährt Einblicke in die digitale polizeiliche Ermittlungsarbeit, macht (zweifelhafte) Werbung für Cyber-Schnüffeleien, erwähnt aber auch die positiven Aspekte des Darknets – staatlicher Bildungsauftrag erfüllt.

Dieser wird durchaus komödiantisch transportiert, allein schon durch die arg klischeehafte Zeichnung der IT-Nerds, von denen einer leicht stottert, der andere ein T-Shirt mit „πMP“-Aufdruck trägt und die per Buzzer automatisiert Pizza bestellen. Das Whydunit? gerät da lange Zeit ins Hintertreffen, wird aber in der zweiten Hälfte verstärkt aufgegriffen. Wie so oft spielt eine Kinderzeichnung eine Rolle, die sich jedoch erst gegen Ende erschließt. Bis es soweit ist, säbelt sich der Täter versehentlich einen kleinen Finger ab, wird von Rosi umsorgt, die sich oben ohne zeigt und sterben muss, weil sie von vergifteten Pralinen nascht, und wird’s ziemlich unappetitlich, wenn die Ermittlungen einen mumifizierten Leichnam zutage fördern, während die Nerds über Mitarbeitermangel und Überarbeitung klagen. Eine Verfolgungsjagd durch Kiel will einem weismachen, man könne mir nichts, dir nichts während einer laufenden Handballpartie ins oder vielmehr durchs Stadion rennen. Und weshalb sich in der Umkleide nackte Spielerinnen tummeln, während ein Spiel der Herren läuft, wissen wohl auch nur die „Tatort“-Macher allein.

Bei seiner Vernehmung spricht der Täter in Rätseln, verletzt sich selbst und ist nach zwei Dritteln des Falls tot. Die Polizei will dem Auftraggeber eine Falle stellen, ein Vertreter des Mordopfers kommt ins Spiel und wer dem Fall nicht mehr so ganz folgen kann, ist damit sicherlich nicht allein. Nachdem zum Finale mit Rückblenden gearbeitet wurde und sich Brandt in die Höhle des Löwen und damit in akute Lebensgefahr begeben hat, endet der „Tatort“ jedoch ultrabrutal und beantwortet die meisten Fragen. Rosis Geschichte hingegen wird nicht zu Ende erzählt, ihre Rolle bleibt trotz ihres üppigen Körperbaus flach.

Wnendts Mischung aus Action, Spannung, Härte und Humor ist gewagt und geht nicht immer ganz auf, den eigentlichen Fall droht man mitunter aus den Augen zu verlieren und die eine oder andere Unstimmigkeit stört. Auch mit den Klischees wird’s übertrieben, vor allem, wenn das Darknet-Portal mit verzerrter Stimme zum Anwender spricht – dezent geht anders. Apropos: Borowski bekommt einen Sprachassistenten, den Filmkenner als eine Art Nachkommen des HAL 9000 aus „2001 – Odyssee im Weltraum“ erkennen werden – ein gelungener, durchaus etwas hintergründiger Gag und Hommage zugleich. Auch die musikalische Untermalung, u.a. mit einer einnehmenden wiederkehrenden Klaviermelodie, überzeugt. Fazit: Mordfall in der knallharten Realität, Ermittlungen im Cyberspace – kann man so machen, wenn es in dieser Melange aus Bildungs-TV und stilistisch abwechslungsreichem Krimi auch vielleicht etwas zu viel auf einmal ist. Da ist noch Luft nach oben, so unterhaltsam „Borowski und das dunkle Netz“ auch sein mag.

Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Verfasst: Mo 8. Jul 2019, 17:55
von buxtebrawler
Tatort: Es lebe der Tod

„Können Sie mir sagen, warum alle das Leben so wahnsinnig ernstnehmen? Wenn man bedenkt, dass jeder Mensch die meiste Zeit tot und nicht lebendig verbringt…“

TV-Regisseur Sebastian Marka durfte nach drei Beiträgen zur öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Krimireihe den sechsten Fall um den Wiesbadener LKA-Kriminalhauptkommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) nach einem Drehbuch Erol Yesilkayas verfilmen – und damit seinen Beitrag zum seit 2011 für seine Unkonventionalität, Experimentier- und (in Bezug auf Kinoklassiker) Zitierfreude bekannten „Tatort“-Ableger leisten. „Es lebe der Tod“ wurde am 20. November 2016 erstausgestrahlt.

„Sie sind wahnsinnig!“

Ein Serienmörder hält das hessische Wiesbaden in Atem: Seinen Taten ist gemein, dass er seine Opfer betäubt, sie in eine Badewanne setzt und ihnen die Pulsadern aufschneidet. Um ihn zu fassen, inszenieren Murot, seine Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) und ihr Team einen vermeintlichen weiteren Mord, den sie dem Täter zuschreiben, der sich jedoch in Details von dessen tatsächlichen Taten unterscheidet. Der Plan geht auf, denn der Mörder Arthur Steinmetz (Jens Harzer, „Nackt unter Wölfen“) sucht den persönlichen Kontakt zu Murot, um seine Unschuld in diesem scheinbaren Fall zu erklären. Die Polizei nutzt die Gelegenheit, um ihn zu verhaften und dem Verhör durch Murot zuzuführen. Der intelligente Apotheker Steinmetz räumt alle Morde ein, von denen er weiß, dass sie sich ihm ohnehin nicht nachweisen lassen. Sein Motiv: Er hat sich ausschließlich unheilbare kranke oder des Lebens überdrüssige Opfer ausgesucht, von denen er glaubte, ihnen mit ihrer Ermordung einen Gefallen zu tun. Und da er selbst krankheitsbedingt nicht mehr lange zu leben hat, glaubt er, sie besonders gut zu verstehen. Was Murot nicht ahnt: Niemand Geringerer als er soll Steinmetz‘ letztes Opfer werden – denn wenngleich der Kommissar von seinem Hirntumor geheilt wurde, hat Steinmetz tiefsitzende Depressionen bei ihm diagnostiziert…

Der Täter ist – wohlgemerkt nach einem Auftakt par excellence – also schnell dingfest gemacht, Whodunit? wird zu Whydunit? wird zur Frage, was er als nächstes vorhat und vor allem, wie er es umsetzen will. Ganz richtig ist das aber eigentlich nicht, denn die Frage, um wen es sich bei Murots Gegenüber handelt, wird erst im Laufe der ausführlich gezeigten Verhörsituation beantwortet, in der Steinmetz sich erklärt und seine Identität ermittelt wird. Die ruhige Erzählweise steht im Kontrast zu einer auf Kinoniveau agierenden dynamischen Kameraführung und öffnet Räume, die die Charakterisierung Steinmetz‘ innerhalb eines sich zuspitzenden Psychoduells mit Murot ausfüllt. Inhaltlich wie stilistisch treffen hier Serienkiller-Thriller à la „Sieben“ auf psychologisches Drama, und auch der eine oder andere Teil der „Saw“-Reihe dürfte den Filmschaffenden nicht unbekannt gewesen sein.

Im Prinzip gibt Steinmetz vor, Sterbehilfe zu leisten, was das Drehbuch auch kaum infrage stellt; die Kritik an seinem Vorgehen bleibt oberflächlich. De facto spielt er sich jedoch als Richter über Leben und Tod auf und ermordet auch Menschen, deren psychische Erkrankungen behandelbar wären. Allem bewusst heraufbeschworenen Schwermut zum Trotz hätte man gut daran getan, dies zumindest einmal auszuformulieren, um nicht Gefahr zu laufen, einem entsprechend vorbelasteten Teil des „Tatort“-Millionenpublikums den Lebensmut zu rauben oder die ganz Armseligen in Euthanasie-Fantasien zu bestätigen.

Seine Faszination erlangt „Es lebe der Tod“ vor allem aus dem Umstand, dass Murot es mit einem Täter zu tun bekommt, der ihn psychologisch durchschaut und stets einen Schritt weiter zu sein scheint als er. Dieser Umstand führt zu einem exakt durchkalkulierten Plan, dem sich Murot beugen muss und ihn vor die Wahl stellt: Sein Leben oder das der Tochter (Ceci Chuh, „Boy 7“) seiner Kollegin Wächter. Da im Vorfeld geschickt Gerüchte lanciert wurden, Tukur würde seinen Dienst als „Tatort“-Kommissar evtl. quittieren, musste das Publikum den Heldentod für möglich halten, was das Finale deutlich spannender machte als aus heutiger Perspektive angesichts des Wissenstands, dass bereits ein weiterer Murot-Fall ausgestrahlt wurde. Doch auch dann funktioniert die Inszenierung durchaus, inkl. surrealer Einblicke in die Zwischendimension zwischen Leben und Tod und der Frage nach Murots tatsächlicher Lebensmüdigkeit. Wer entsprechend gepolt ist, darf sich ferner an einer gewissen Bondage-Ästhetik Ceci Chuhs erfreuen.

Marka arbeitet mit gelegentlichen Einschüben und Rückblenden ins Jahr 1988 sowie in Murots Kindheit. Der traumatisierende, unverarbeitete Tod seines Vaters muss als Erklärungsversuch für seine Depressionen herhalten, womit eine psychologische Komponente Einzug hält, die Stoff für weitere Ausarbeitungen der Figur Murot bietet. Mit „Es lebe der Tod“ ist ein dialogreicher, actionarmer, aber umso spannenderer und hervorragend geschauspielerter „Tatort“ gelungen, zu dessen bedrückender Atmosphäre Sufjan Stevens immer wieder angespieltes Stück „Fourth of July“ beiträgt – und der manch Zuschauerin oder Zuschauer auf, verglichen mit der exploitativen „Saw“-Reihe, sanftere Weise den Wert ihres Lebens vor Augen führen und zu etwas Demut raten dürfte.