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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Mo 5. Dez 2022, 04:50
von Maulwurf
El Bar – Frühstück mit Leiche (Álex de la Iglesia, 2017) 7/10

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Ein Vormittag an einem belebten Platz, irgendwo in Madrid. Eine Bar wie tausende andere. Eine ältere Chefin, ihr mittelalter Angestellter, und die Gäste: Ein Müllmann, ein Hipster der als Werbetexter arbeitet, ein paar Geschäftsleute, ein Obdachloser, eine Spielerin. Einer der Geschäftsleute verlässt das Lokal, ein Schuss fällt, und der Mann liegt tot auf dem Pflaster. Der Müllmann will helfen, wieder ein Schuss, der zweite Tote. Es ist klar: Wer aus der Türe tritt ist tot. Die Nachrichten? Verschweigen das Thema. Das Handynetz? Ausgefallen. Die Nerven? Bis zum Zerreißen und darüber hinaus angespannt. Irgendwann wird dann klar, dass das ganze mit dem Dicken zu tun hat, der da hinten auf dem Klo liegt und ausschaut wie ein Überbleibsel aus einem frühen Peter Jackson-Film. Zu tun hat mit den Polizisten, die unter schwerer Bewaffnung Autoreifen auf den Platz laden und anzünden, woraufhin in den Nachrichten von einem plötzlich ausgebrochenen Großfeuer die Rede ist. Und offensichtlich hat das auch was mit den Typen in den Seuchenanzügen zu tun, die mit Flammenwerfern anrücken.

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Aber das ist erst später. Bis dahin ist schon eine ganze Menge passiert, viel mehr, als der kleine Maulwurf es gedacht hätte. EL BAR hatte ich mir ausgeliehen, dann aber so überhaupt keine Lust gehabt den zu sehen. Zu modern, zu Mario Casas (an dem ich mich in KEIN FRIEDE DEN TOTEN etwas übersehen habe), zu hip und zu abgedreht, so habe ich mir das im Vorfeld gedacht. Ich bin kein großer Freund von Álex de la Iglesias Filmen – Das, was ich bisher von ihm gesehen habe hat mir in den wenigsten Fällen wirklich gefallen. Aber damit der Leihfilm endlich zurückgegeben werden kann, habe ich beim „Anschauen“ das gemacht, was man halt so macht wenn man desinteressiert ist: Am Handy daddeln, die Fernbedienung in der Umgebung der Vorspultaste knuddeln …

Und ganz plötzlich, nach rund einer halben Stunde voller dummer Menschen mit nervigen Dialogen und uninteressanten Aktionen, ganz plötzlich zieht irgendwas an dem Film. De la Iglesia hat etwas Geheimnisvolles gemacht, um aus der langweiligen und dialoggeschwängerten Situation herauszukommen. Hat die Spannungsschraube angedreht, und vor allem die Zwanghaftigkeit der Situation böse zugespitzt. Ganz plötzlich sind die Figuren lebendige Menschen, der schnelle Schnitt nervt nicht mehr, und die schlimme Lage, in der sich die Protagonisten befinden, wird zu einem tödlichen und faszinierenden Karussell.

Wie in einem klassischen Milgram-Experiment heißt es plötzlich Die einen und die anderen. Die einen, das sind die mit der Waffe. Die andern, das sind die, die in den Keller müssen. Und wie es so ist im Leben, kann sich diese Situation auch ganz schnell umdrehen. Wer hat jetzt die Waffe? Und damit die Verfügungsgewalt über seine Mitmenschen? Die Deutungshoheit über die Lage?

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Fünf Menschen in einer Extremsituation, in der alles, was man jemals über Zivilisation gelernt hat, vollkommen außer Kraft gesetzt wird. Oder, je nach der Bosheit der Erfahrungen, genau zutrifft. Ein Obdachloser, der, seitdem er auf der Straße lebt, nur Ablehnung und Gewalt erfahren hat. Ein Werbetexter, der sich nach Anerkennung sehnt. Eine Spielerin, die bevorzugt mit dem Rücken zu den Menschen steht, damit sie nicht gesehen wird. Ein Mann in den besten Jahren, der sein Leben als Bedienung in einem Café fristet. Und eine junge Frau, die nicht weiß wo sie hingehört und was sie will, und die aufgrund ihres guten Aussehens immer und überall nur als mögliches Fickfleisch betrachtet wird. Eine geladene Pistole. Vier Ampullen mit einem möglichen Gegengift. Und absolute Straffreiheit für den Überlebenden.

Und so habe ich vom fast völligen Desinteresse bis hin zum Nägelkauen sämtliche Stadien durchgemacht, die so ein Film einem Zuschauer bieten kann. Wobei die letzte halbe Stunde schon eine böse und kranke Phantasie über etwas ist, was man unter dem Begriff Überlebenskampf zusammenfassen kann. Vor allem Jaime Ordóñez als Penner Israel ist überwältigend. Mit einer Ausstrahlung wie Tomas Milian zu Zeiten von DER BERSERKER und einem genialen Overacting (und ich meine das genau so) beherrscht er fast alle Szenen in denen er spricht. Oder schreit. Oder zuschlägt. Oder einfach nur grinst. Und so ganz nebenher den Zuschauer am Schlafittchen packt und in eine böse, kranke und ausgesprochen realistische Welt zieht.

EL BAR ist ein unerwartet packender und böser Film über Menschen in einer unerwartet plötzlichen und bösen Extremsituation, der nach den hiesigen Erfahrungen mit Corona mehr als nur einen Kloß im Hals hinterlässt …

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Do 8. Dez 2022, 06:07
von Maulwurf
Die Lady in Zement (Gordon Douglas, 1968) 6/10

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Der Privatschnüffler Tony Rome findet beim entspannten Tauchen vor der Küste von Miami eine Frau in einem Zementblock. Und kurz danach bekommt er den Auftrag, eine gewisse Sondra zu finden, die verschwunden ist. Und die eine verteufelte Ähnlichkeit mit der Dame in besagtem Zementblock hat. Tony Rome ist zwar mit seinem Kunden, dem 220-Pfund-Russen Gronsky, nur bedingt glücklich, aber Geld stinkt nicht, und so macht er sich auf die Suche nach Sondra. Beziehungsweise ihrem Mörder. Oder ihrer Mörderin, denn er lernt sehr schnell die extrem attraktive Kit Forrester kennen, eine alkoholsüchtige Millionärin mit Riesenausschnitt, sowie deren Nachbarn Al Mungar, der die Nachforschungen von Tony als eher lästig empfindet, und der die Leute hat, die sich um Tony auch entsprechend kümmern können …

Irgendwie möchte man die amerikanischen Großproduktionen dieser Zeit, also das klassische Hollywood Ende der 60er-Jahre, am liebsten in die Ärmchen nehmen und ihnen liebe Dinge zuflüstern und sie streicheln und kuscheln, damit sie sich nicht so einsam und überflüssig vorkommen. DIE LADY IN ZEMENT zum Beispiel. Eigentlich(!) ein guter Krimi mit noiresken Ansätzen, einem großartigen Hauptdarsteller als Hauptdarsteller, und Raquel Welch als Sexmonster mit Will-haben-Effekt. Daneben noch Dan Blocker, ja ja, genau der Hoss aus BONANZA, der vollkommen befreit den Gronsky spielt und sich sichtlich freut, dass er mal von der Scheiß-Puderosa-Ranch runter durfte, sowie ein swingender und groovender Soundtrack von Hugo Montenegro – Burt Bacharach war wohl gerade vergeben …

Alles tolle Ansätze, alles gute Ideen, aber wie so oft, wenn die Geldgeber ein Team zusammenwürfeln und den zu erreichenden Erfolg vorgeben, wie so oft hakt es irgendwo im Getriebe. Die Handlung ist so dermaßen verworren, dass ich am nächsten Tag erstmal nachdenken musste, wer denn nun eigentlich der Mörder war, oder ob die Enthüllung nicht aus Versehen vergessen wurde. OK, die Handlung soll wahrscheinlich ignoriert werden, und immerhin haben wir Sinatras Knautschgesicht und Welchs Titten, das muss reichen. Tut es aber nicht! Die Stimmung ist sehr locker und gelöst, man ergeht sich unter den Palmen von Miami ohne dass jemals eine Spannung oder gar eine Bedrohung aufkommt, und das Dramatischste was passiert ist tatsächlich, dass Sinatra nach einem Barbecue von seinem besten Freund, dem Inspektor Santini, verfolgt wird. Es ist halt alles irgendwie im Fluss, richtiger: Im Flow, es passiert nichts überraschendes, und es hat keine herausragenden oder bemerkenswerten Charaktere (außer Gronsky natürlich, aber der hat zu wenig Screentime um etwas zu reißen). Die deutsche Synchro passt sich an und haut die lockeren Sprüche im Dreivierteltakt raus, und irgendwann nerven die Modeausdrücke aus dieser Zeit so sehr, dass man auf Englisch umschaltet, um zu schauen, ob die Jungs und Mädels da genauso schnodderig reden. Und siehe da, der Originalton bügelt ebenfalls alle Feinheiten platt und ergeht sich in furchtbar witzigen Kalauern bis zum Umfallen.

DIE LADY IN ZEMENT macht durchaus Spaß, und es ist auch durchaus ein netter Film. Guter Zeitvertreib mit guten Schauspielern, guter Musik und guten Bildern. Aber mehr darf man halt einfach nicht erwarten. Old Hollywood hatte in dieser Zeit einfach nicht mehr die Ideen (die in diesem Fall grundsätzlich sowieso aus Edward Dmytryks LEBWOHL, LIEBLING von 1944 stammt und nicht mehr als ein Rip-Off ist), sondern nur noch das Geld für die großen Namen mit den beliebten Gesichtern. Aber die starken Stories mit den großartigen Inszenierungen, die wurden woanders gemacht.

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: So 11. Dez 2022, 05:37
von Maulwurf
Zwischen gestern und morgen (Harald Braun, 1947) 8/10

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München 1947. Der Zeichner Michael Rott kommt nach 10 Jahren zurück nach München. In eine Stadt, die einmal fast sein Glück bedeutet hätte, und die jetzt aus Ruinen und Unglück besteht. Nicht nur die Häuser sind zerstört, auch die Menschen sind es. Durch die Schwarzmarktgeschäfte gibt es nur noch ein „Was bekomme ich dafür?“ – Nach 12 Jahren des Grauens gibt es kein Miteinander mehr, nur noch ein Gegeneinander. Es wird nicht mehr an die Unschuld geglaubt. Jeder ist schuldig. Irgendwie.
Rott quartiert sich in genau dem Hotel ein, in dem er vor 10 Jahren ebenfalls gewohnt hat, dem halb zerstörten Hotel Regina. Doch die Menschen begegnen ihm mit Misstrauen und Ablehnung. Und dann denkt man, wenn man jetzt als Freund wieder zurück kommt in ein Land, das fast alle Freunde verloren hat, dann müsste man willkommen sein. Und was hat der fremde Herr aus der Schweiz erlebt? Dass man ihm mit einem lauten Knall die Tür vor der Nase wieder zuwirft. Rott bekommt heraus, dass damals vor 10 Jahren, ein wertvoller Schmuck abhanden kam, und er seitdem als Dieb angesehen wird. Jetzt ist er wieder da, zurück aus der Sicherheit des Schweizer Exils, und die Erinnerungen an diesen letzten Abend im Hotel kommen wieder hoch.

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München 1937.
Michael Rott. Der aufstrebende Zeichner und Karikaturist trifft sich mit dem Ministerialdirektor Trunk, einem hohen Tier im Propagandaministerium, von dem er sich Aufträge erhofft. Vor dem Treffen karikiert er Trunk, und durch einen unglücklichen Umstand findet dieser die Zeichnung und steckt sie ein. Zu spät merkt Rott, dass er durch seine Leichtfüßigkeit und seine Art, nichts wirklich ernst zu nehmen, sein Leben riskiert. Er wird nie erfahren, dass er auch das Leben seiner Freunde riskiert, da er sich in die Schweiz absetzt, wo er in Sicherheit sein und es ihm gut gehen wird. Und während die Menschen zuhause in langen Bombennächten um alles zittern müssen was sie ausmacht, sitzt Rott im sicheren Ausland und glaubt an das Gute im Menschen. Wen wundert es, dass er jetzt scheel angeschaut wird?

Alexander Corty. Der früher erfolgreiche Schauspieler will wieder zurück auf die Bühne, doch das wird ihm verboten. Als Liebhaber ist sein Typ nicht mehr gefragt, auch wenn er gegen eine entsprechende Änderung der Gage gerne die älteren und gesetzten Herrn spielen dürfte. Aber mit seinen grauen Haaren und dem gesetzten Benehmen ist er ein Relikt aus fernen Zeiten, das nach erfolgreichen Filmjahren nun auf der Bühne eigentlich nichts mehr verloren hat. So wird es ihm zumindest erklärt, aber es stellt sich die Frage, ob die Begegnung mit seiner Ex-Frau Nelly Dreyfuss nicht ausschlaggebend dafür war, dass der Agent nichts mehr von ihm wissen will.

Nelly Dreyfuss. Cortys frühere Frau, eine Jüdin, die nach Monaten im Versteck endlich wieder einmal den Geschmack eines luxuriösen Lebens atmen möchte. Teppich, Champagner - Eine Badewanne! Sie trifft Corty, aber sie wird auch von Trunk erkannt, der weiß, dass sie eine Jüdin ist. Nelly möchte ihrem Ex-Mann das letzte geben was sie besitzt, ihren kostbaren Schmuck, um ihm wieder auf die Füße zu helfen, doch Corty weigert sich den Schmuck anzunehmen. In ihrer Verzweiflung gibt sie Rott den Schmuck, weil sie weiß, dass dieser mit Corty befreundet ist. Sie bittet ihn, ihrem Ex-Mann den Schmuck gleich am nächsten Morgen zu überreichen. Es ist der Abend, an dem Rott vor der Polizei Hals über Kopf flüchten muss.

Annette Rodenwald. Sie führt den Kiosk im Hotel und ist in Rott verliebt. Und er in sie. Sie verbringen einen Teil dieser letzten Nacht miteinander. Doch als Rott wieder in seinem Zimmer ist wird er gewarnt, und tatsächlich sind Trunk und die Gestapo schon auf dem Weg zu ihm. Er kann flüchten, doch selbst dies ist nur die halbe Geschichte. Denn als die Polizei in sein Zimmer kommt ist da noch jemand.

Victor de Kowa. Der Nationalsozialist, der sich als Opfer des Nationalsozialismus ins Bild setzen lässt. Und der in den ersten Sekunden seines Auftritts aussieht, als ob er das alles hier nicht gewollt hat, und von dem Ergebnis seiner politischen Überzeugung vollkommen niedergeschmettert scheint. Menschlich gesehen das allerletzte, ist seine schauspielerische Leistung hier allesüberragend. Michael Rott ist ein Mensch, der nicht versteht was er sieht. Der sich als Heimkehrer in einer Welt zurechtfinden muss, die nicht mehr die seine ist. In der er als Verbrecher angesehen wird, dessen Motiv für die Rückkehr nebulös und uninteressant ist. Alle anderen sehen ihn als miese Type an, und vielleicht ist de Kowa auch deswegen so überzeugend, weil er seine jetzigen Erfahrungen als einstiger Parteigänger zeigen kann. Weil er das, was er menschlich nach 1945 erlebt hat, in diese Rolle einbringen konnte. Das bemerkenswerteste Bild des Films dürfte in diesem Zusammenhang die Szene sein, wenn de Kowa mit seinen Koffern über einen schmalen Steg inmitten der Trümmer balanciert. Wobei sowohl die Trümmer wie auch der (gekonnte) Balanceakt nicht nur seine Umgebung betrafen, sondern sicher auch seine psychische Verfassung. Nach einem erneuten Treffen mit der jungen und energiegeladenen Kat ist die Brücke dann allerdings schon ein ganzes Stückchen breiter, scheinen die erlangte Sicherheit und der Ausblick in die Zukunft nicht mehr ganz so fragil und schwankend. Trotzdem, de Kowas Entschuldigung an das Publikum sieht als Dialog zwischen dem regimekritischen Rott und dem Funktionär Trunk eher mau aus:
- Ich will nicht verschweigen, dass ihre Haltung häufig zu schweren Bedenken Anlass gegeben hat.
- Ich bedauere es unendlich.
Dabei kann der verschwundene Schmuck sehr wohl als Metapher für das verlorene Vertrauen verstanden werden, dass Rott durch seine Flucht verspielt hat. Jetzt, 1947, sieht Rott sich bei seinen früheren Freunden und Bekannten einer Mauer aus Ablehnung gegenüber – Du hast uns damals im Stich gelassen, so scheint die Stimmung zu sein. „Wer nicht dabei war, mein Herr, weiß nichts!“ so drückt es der zum Misanthropen gewordene Professor von Walther aus, und genau diese Stimmung schlägt Rott nun entgegen. Das Misstrauen, dass einem entgegengebracht wird, der seine eigene Sicherheit höher setzte als die Solidarität zu den Geknechteten und sein Heil in der Flucht suchte, und der erst wieder zu den Verlierern zurückkommt, als ihm nichts mehr geschehen kann. Ob es auch das war, was Victor de Kowa empfand, als er nach dem Zusammenbruch wieder arbeiten wollte? Der Regisseur des Propagandafilms KOPF HOCH, JOHANNES!, der 1944 auf die von Goebbels geführte Gottbegnadeten-Liste gesetzt wurde, und damit um einen Fronteinsatz herumkam, ist in den Jahren ab 1945, wo er Intendant der Berliner Tribüne war, sicher nicht immer auf freundliche Gesichter gestoßen. Auch de Kowa hatte nämlich 10 Jahre vorher etwas Kostbares gestohlen: Das Vertrauen, dass ihm seine Mitmenschen entgegenbrachten. Und jetzt war er wieder da und schaut ungläubig über die Vernichtung, die seine damaligen Freunde über die Welt gebracht haben …

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Hildegard Knef. Ihr Auftritt zeigt sie als klassisches Trümmerkind, als jemand, der sich in dieser Welt aus Schutt und Dreck zurechtfindet und seinen Weg gehen wird. Es wird schon irgendwie weitergehen, es muss doch, das ist ihr Credo. Ein Satz, der von Rott dankbar aufgenommen wird, der die deutsche Mentalität in den schweren Nachkriegsjahren charakterisiert, und der mir erst wenige Tage vor der Sichtung des Films von einem Opfer der entsetzlichen Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal untergekommen ist. Von einem Menschen, der genauso wie die Menschen 1945 vor einem Krater steht, der gestern noch sein Leben war. Hildegard Knefs Katrina ist taff und zäh, sie lässt sich nicht unterkriegen. Weder von dem Elend, noch von den Geschäften in die sie verwickelt ist. Nur die Liebe kann sie bezwingen. Sicher ein dramaturgisches Einerlei einer Charakterisierung, aber es passt so perfekt zu dieser burschikosen jungen Frau und in diese Zeit. Hildegard Knef strahlt die Sonne der aufgehenden Zukunft aus, während Viktor de Kowa vor den Trümmern seiner vergangenen Überzeugungen steht.

Willy Birgel. Ab etwa 1937 lief er in unzähligen Filmen als Frauenschwarm und Charmeur, und in ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN spielt er sichtlich auch sich selber. Einen älter gewordenen Schauspieler, der die jugendlichen Rollen nicht mehr bekommt, auch wenn er sie noch so gerne hätte, und dem nur noch die Langweilerparts der gesetzten Herrn zufallen wie Brotkrumen vom Teller der Erfolgreichen. Willy Birgel gibt den Grandseigneur alter Schule mit sichtbarer Hingabe, entsprechend inszeniert er auch seinen Tod mit einer Grandezza, die einem Melodram alter Schule würdig ist. Trotzdem kann man seine Rolle durchaus als stichelnden Kommentar in Richtung aller erfolgreichen Schauspieler des Dritten Reichs verstehen, die nicht willens waren sich zur Menschlichkeit zu bekennen anstatt zur Karriere. Alexander Corty lässt sich im Film 1936 von seiner jüdischen Frau scheiden, die er damit dem sicheren Tod ausliefert. Heinz Rühmanns Scheidung von seiner jüdischen ersten Frau Maria Bernheim war 1938, und auch wenn er sie anschließend zwar noch unterstützte, wurde diese Entscheidung, auch wenn die Ehe bereits vorher nur noch auf dem Papier existierte, sicher auch politisch gutgeheißen, was dann wohl zur entsprechenden Unterstützung führte. Aber gut, nicht jeder konnte ein Hans Albers sein, der all die Jahre fest zu seiner jüdischen Frau stand, was sicher auch nicht immer leicht war.

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Sybille Schmitz. Einer der größten weiblichen Stars des Films im Dritten Reich, sank ihr Stern ab 1938, nachdem sie sich einerseits dem sexuellen Verlangen Joseph Goebbels‘ entzog, und gleichzeitig zunehmend gegen den Staat opponierte. Ein paar Durchhalte- bzw. Propagandafilme während der Kriegsjahre (WETTERLEUCHTEN UM BARBARA, DAS LEBEN RUFT, welcher 1944 ihr letzter Film unter dem Regime war) sorgten für ein zeitweiliges Auftrittsverbot nach dem Krieg. Als Nelly Dreyfuss darf sie irgendwann „Seit 3 Jahren bin ich nicht mehr hier gewesen. Wie schön, dass sie mich noch kennen.“ sagen, ein mehr als deutlicher Kommentar zu ihrer eigenen persönlichen Situation. Aber so sehr Schmitz‘ Karriere nach dem Krieg nicht mehr vom Fleck kam, so wenig bewegt sich auch Nelly Dreyfuss‘ Lage. Als Jüdin dürfte sie eigentlich gar nicht im Hotel übernachten, und nur der Sympathie des Hoteldirektors Ebeling verdankt sie diese Nacht im Luxus. Jedem spielt sie etwas vor, ihr Ex-Mann Corty ahnt kaum wie schlecht es ihr wirklich geht, und vor allem ihre psychische Lage verschlechtert sich zusehends. Das etwas affektierte Spiel der Schmitz wirkt zwar in diesen Augenblicken leicht antiquiert, und ist mimisch deutlich 10 Jahre früher einzuordnen, passt aber in diesem Augenblick hervorragend. Ein Mensch, der aus der Zeit gefallen ist, der seine besten Tage deutlich hinter sich hat, und nun versucht mit dem Unglück und dem drohenden persönlichen Untergang klarzukommen. Das ist nicht mehr das mondäne Hotel Sacher, und Sybille Schmitz ist nicht mehr die raffinierte Spionin Nadja Woroneff, dies ist das zerbombte Hotel Regina, und sie spielt eine Jüdin zu einem Zeitpunkt, wo es nicht gut war Jude zu sein. Mehr als 10 Jahre nach ihren großen Erfolgen ist ihre Schönheit allmählich dem Untergang geweiht, ist ihr Schauspiel rückwärts gewandt, und stehen andere, neue Schauspieler auf der Schwelle zum Glück. Die erfolgreiche Zeit ist vorbei, und Sybille Schmitz weiß dies genauso gut wie Nelly Dreyfuss das weiß. Das Ergebnis sind unendlich traurige und dabei hochgradig eindrucksvolle Momente, die tief in das Herz des Zuschauers treffen. Ob Sybille Schmitz, die nach diesem Film sage und schreibe zwei Jahre kein Filmengagement mehr hatte, in ihren letzten Lebenstagen wohl an die Handlung dieses Films gedacht hat, und sich zur bewussten Flucht entschloss, so wie Nelly Dreyfuss es tut?
Interessant in diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass der Regisseur Harald Braun „mit der Rolle der verfolgten Jüdin seiner Sekretärin und guten Freundin Nelly Dreyfuss ein Denkmal setzen wollte. Frau Dreyfuss sah Sybille Schmitz sehr ähnlich, so sehr, dass sie auf der Straße oft als Frau Schmitz angehalten und um Autogramme gebeten wurde“ (1).

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Menschen zur falschen Zeit und am falschen Ort. Menschen, die den Erfolgen der früheren Tage nachtrauern und sich vor der Gegenwart fürchten. Zwischen dem glorreichen Gestern und dem ungewissen Morgen sich nicht entscheiden mögen wie es weitergehen soll und in einer Starre bleiben, die ihnen unter Umständen die Chancen verschließt. Im Jahr 1947 sicher eine Beschreibung, in der sich viele Filmzuschauer wiedergefunden haben dürften. Aber es wird schon irgendwie weitergehen, es muss doch. Und so, wie Rott wieder eine neue Liebe findet, so wird auch die Beziehung zwischen dem Hotelbesitzer Rolf Ebeling und seiner Frau weitergehen. Wie, das wird in diesem Film nicht dargestellt, und das ist sicher auch gut so. Dadurch bleibt unser Herz an der unglücklichen Annette Rodenwald hängen, die an ihrer Situation in keinster Weise schuld ist, aber trotzdem mit den Folgen leben muss. Wie so viele der damaligen Zuschauer, die durch Umstände, an denen sie nichts ändern konnten, ausgebombt wurden, geliebte Menschen verloren haben, vor den Trümmern des eigenen Lebens standen. Aber es muss ja irgendwie weitergehen. ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN gab diesen Menschen eine Stimme und vielleicht auch ein klein wenig Hoffnung. Heute gibt der Film dem Zuschauer einen Einblick in eine bittere und schwere Zeit, und durch den Vergleich mit der eigenen, meist vergleichsweise luxuriösen, Situation die klare Anleitung an die Hand, dass es ja irgendwie weitergehen wird. Der Vorwurf, der Harald Braun damals gemacht wurde, dass seine Filme das Vergangene ja nicht kritisch betrachten, wie es etwa die Filme Helmut Käutners zu dieser Zeit taten (DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, IN JENEN TAGEN, den ich persönlich allerdings überhaupt nicht als kritisch bewerte), kam folgerichtig ausschließlich aus dem Elfenbeinturm des Feuilletons, und der damalige Erfolg des Films zeigt, dass die Menschen im Deutschland des Jahres Null eher nach Hoffnung verlangten als nach kritischer Auseinandersetzung.

Denn da sind ja auch noch die anderen Menschen im Film. Diejenigen, die nur am Rande beleuchtet werden, die aber mitunter entscheidend sind für die Dramaturgie oder für das Leben. Die nicht im Scheinwerferlicht stehen, sondern die Nebenrollen ausfüllen, genauso im Film wie auch im Leben. Da ist der Professor der Kunstgeschichte, der so gern gelebt hat, und der nach dem Krieg ein einsamer und verbitterter kleiner Mann wurde. Der von allen seinen Doktoranden aufzählen kann, was aus ihnen geworden ist: Gehängt, erschossen, tot, vermisst, blind, gefallen …
Der Ministerialdirektor Trunk, der klassische Karrierist einer Diktatur, der mit seinem Wohlwollen das Wohl und Wehe von Schicksalen anderer Menschen aufgleist. Der sich anmaßt, den Willen des Ministers in Form von Tod oder Leben auszuführen. Ein Mensch, wie man ihn in allen Regimen immer wieder trifft, und wie er menschlicher eigentlich nicht sein kann. Menschlich im Sinne von Begriffen wie karrieregeil, obrigkeitshörig, machtbesessen …
Trunk: Es ist nur im Sinne unserer Volksführung, wenn hin und wieder auch die gesunde Heiterkeit zu ihrem Recht kommt. Wer lacht, schimpft nicht.
Antwort Rott: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
Oder der namenlose kleine Trinker an der Bar, der während des Bombenangriffs nur Augen hat für die Schnapsflasche auf dem Tresen. Grandios dargestellt von Werner Peters in seiner ersten Rolle, kann man ihn nicht verurteilen dass er weder Auge noch Ohr hat für die anderen Menschen im Keller. Wer würde im Angesicht des drohenden Todes anders handeln und an etwas anderes als sein eigenes Vergnügen denken?

Das Großartige an ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN ist seine Alltäglichkeit, die trotz der (naturgemäß) dramaturgischen Überhöhung den Blick auf diese Menschen lenkt. Menschen, die man damals wie heute jederzeit treffen konnte und kann, die alltäglich sind und dem Film trotz seiner Verortung in der Nachkriegszeit eine große Zeitlosigkeit geben. ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN könnte mit nur geringen Änderungen auch in der DDR der Jahre 1981 und 1991 spielen, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Personae ist die gleiche: Der in die Sicherheit Geflüchtete, der wieder heimkommt und dort geschmäht wird. Die verlassene Liebe, welche die Sicherheit einer anderen Beziehung gewählt hat um nicht allein zu sein. Derjenige, der gestern noch Erfolg hatte und morgen in der Masse untergehen wird. Die Verfolgte, die ebenfalls dem Gestern nachtrauert, sich nicht rechtzeitig lösen konnte und somit kein Morgen mehr haben wird. Und die junge Energische, die das Gestern abstreift und den Blick nach vorne lenkt.

ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN ist der Stoff aus dem große Dramen sind, eingebettet in eine dramatische Zeit und eine geschickt in Rückblenden erzählte Handlung. Mitreißend und packend erzählt, und dabei doch viele wunde Punkte nicht aussparend. Vielleicht hier und da ein wenig aufgesetzt wirkend in seiner Symbolik, aber auf jeden Fall großes Kino!

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Zwischen_ ... und_morgen
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_de_Kowa

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Mi 14. Dez 2022, 05:25
von Maulwurf
Die Ausgrabung (Simon Stone, 2021) 7/10

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Im heißen Sommer 1939 holt sich die Gutsbesitzerin Edith Pretty den Hobbyarchäologen Basil Brown ins Haus. Schon seit langem interessiert es sie, ob nicht unter den merkwürdig geformten Hügeln auf ihrem Land etwas zu finden sein mag. Brown betreibt diese Beschäftigung zwar wirklich nur aus Liebhaberei, hat sich dabei aber profundes Fachwissen angeeignet. Und was er findet, übersteigt die Vorstellungskraft jedes studierten Archäologen: Der Rumpf eines Schiffes aus dem 6. Jahrhundert, mit einem Schatz an Bord, der die Geschichte des britischen Frühmittelalters revolutionieren wird. Klar, dass so ein Fund auch die Großkopferten anzieht. Und ebenso klar, dass diese den kleinen und vermeintlich unbedarften Brown ausbooten wollen.

Rüdiger Suchsland schreibt in seinem Blog, DIE AUSGRABUNG sei „ein auf konventionelle Art gelungener Film“. Genau so ist es, denn diese unauffällige und ruhig erzählte Geschichte zieht ihre Stärken gerade aus diesem Umstand, dass sie eben unauffällig und ruhig ist. Die Menschen behandeln sich gegenseitig mit einem gewissen Respekt und mit Anstand, und selbst wenn es einmal unanständig wird, ist dies aus heutiger (und nicht-britischer) Sicht immer noch ausgesprochen ehrenhaft und mit einer steifen Oberlippe versehen. Die Höhepunkte des Films, wie etwa die Entdeckung um was es sich bei dem Objekt tatsächlich handelt, oder die Entdeckung von Edith Prettys Krankheit, sind diskret in die Geschichte eingebettet und tragen angenehm zu einem langsamen Erzählfluss bei, der nicht einmal aus dem Tritt gerät, dabei aber eine konstante und flüssige Geschwindigkeit besitzt. Ein wesentliches Stilmerkmal, welches vor allem die möglicherweise langatmigen Szenen umschifft, ist, dass die Personen stumm durch das Bild laufen, während ihre Stimmen die Dialoge wie Gedanken dazu erzählen. Dadurch ist es möglich, eine zarte Annäherung zwischen Pretty und Brown in einem im Regen stehenden Wagen zu einem spannenden und überhaupt nicht langweiligen Moment zu machen – Wie Gedanken umtanzen die gedachten Worte die Schauspieler, die sich ganz auf ihr Spiel und ihre Mimik konzentrieren können, während der Zuschauer die in Sätze gefassten Blicke in sich aufsaugen kann.

Natürlich ist DIE AUSGRABUNG nicht spannend wie ein Thriller oder ein Actionfilm. Es passiert eigentlich nicht viel, doch durch die ständig wechselnden Situationen und vor dem Hintergrund des permanent drohenden Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges entsteht ein ungeheures Spannungsfeld. Wir wissen, dass all die sympathischen jungen Männer bald in den Krieg ziehen müssen und möglicherweise sterben, und wir wissen auch, dass die tapferen Frauen im Film bald schrecklich einsam sein werden. Erinnerungen an den grandiosen ABBITTE werden wach, der die letzten Tage des alten Englands in einem ähnlichen Licht zeigt, wenngleich auch erheblich dramatischer.
DIE AUSGRABUNG ist konventionell, ja das ist er. Konventionell in einem positiven Sinne wohlgemerkt, denn er setzt auf die Stärken seiner Schauspieler, seiner schönen Bilder und seiner Stimmungen, ohne sich dem Trend zu lustigen Onelinern oder grotesken Situationen sinnlos auszuliefern. Simon Stone setzt seine Mimen in den Vordergrund, nicht den Aktionismus, und macht den Film so zu einem im besten Sinne altmodischen Film-Erlebnis über das Spannungsfeld von Vergangenheit, Vergänglichkeit und Zukunft.

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Sa 17. Dez 2022, 05:41
von Maulwurf
The Rhythm Section – Zeit der Rache (Reed Morano, 2020) 6/10

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Vor drei Jahren starb die Familie der Studentin Stephanie Patrick bei einem Flugzeugabsturz, und dieses schreckliche Unglück konnte Stephanie nie überwinden. Als Folge dann Drogenabhängigkeit, billigste Prostitution, Absturz total. Und jetzt steht da plötzlich dieser Journalist und behauptet, dass dieser Absturz kein Unglück war, sondern ein Bombenanschlag. Ausgeführt, um einen einzigen Mann an Bord dieser Maschine zu eliminieren, und um ein Zeichen an andere Aufsässige seiner Sorte zu senden: Ihr, die ihr nicht dem wahren Islam gehorcht, wir kriegen euch alle.
Klar, dass Stephanie in einen Sturm der Gefühle gerät, und in ihrer Verzweiflung reagiert sie falsch und sorgt dafür, dass der eigentliche und namentlich bekannte Bombenleger untertaucht. Stephanie nistet sich daraufhin bei einem früheren MI6-Agenten in Schottland ein und lässt sich innert weniger Monate zu einer Agentin ausbilden. Keine Super-Nikita, aber zum Töten wird es wahrscheinlich gerade mal langen. Das Ziel: Den Mann im Hintergrund suchen und umbringen, bevor dieser weitere Anschläge auf Unschuldige ausüben kann.

So eine Inhaltsangabe liest sich erstmal wie so vieles, was im Kino der 10er- und 20er-Jahre dieses Jahrhunderts vorherrscht: Idiotische Handlung, Schießereien, Explosionen, Atemlosigkeit, Bombast, Leere. Überraschung Nummer 1: Der Film ist tatsächlich über weite Strecken sehr ruhig gehalten, und begleitet eine junge Frau bei ihrer Reise in eine Welt zu der sie nicht gehört, und wo sie das Überleben auch nicht wirklich gelernt hat. Angst, Zweifel, ein Ziel vor Augen, Rachedurst, und dann doch wieder Angst und Schwäche, diese widerstreitenden Gefühle werden visualisiert und überzeugend rübergebracht. THE RHYTHM SECTION ist alles mögliche, aber kein Michael Bay-Film!

Klingt aber trotzdem erstmal wie eine banale Thrillerhandlung, die zwischen den Roman eines Len Deighton und dem erwähnten NIKITA schon hundertmal wiedergekäut wurde, und deren Inhalt langsam abgegrast erscheint: Eine Amateurin lässt sich zur Killermaschine ausbilden um eine private Rache auszuüben. Überraschung Nummer 2: Stephanie wird niemals eine Killermaschine sein, und dies wird ihr auch klar erklärt. Sie ist eine mäßige Kämpferin, sie ist in den falschen Momenten schwach, und sie hat Skrupel zu töten. Menschliche Skrupel, was nichts anderes bedeutet, als dass sie immer verwundbar sein wird. Da gibt es diese Autoverfolgungsjagd mitten durch Tanger, und so eine Verfolgungsjagd kann man auf verschiedene Arten filmen. So wie in den italienischen Polizeifilmen, mit wilden Kurvenfahrten und spannenden Slaloms mitten durch den existierenden und langsameren Verkehr einer Großstadt. Oder so wie in Frankenheimers RONIN, wo im falschen Augenblick Passanten auftauchen und das Tempo gnadenlos ist. Überraschung Nummer 3: Reed Morano setzt auf den Beifahrersitz des gejagten Fahrzeugs einen Mann mit Handkamera, und der filmt – Die Fahrerin! Und den Blick aus der Windschutzscheibe! Die Fahrerin, Stephanie, ist hoffnungslos überfordert und schreit und flucht und ist alles andere als souverän in ihrer kleinen Speikiste, hinter der ein großer Mercedes stärker und schneller ist. Und vor der Windschutzscheibe tauchen plötzlich(!!) Menschen auf. Oder biegen andere Autos aus Nebenstraßen ein, die dann auch noch einen Hänger hinter sich herziehen. Oder verengt sich die Straße plötzlich durch Marktstände. Tauchen Mofafahrer auf. Oder ist der Verfolger einfach schneller und gewiefter, und wenn Stephanies Wagen querstehend in Richtung Abhang geschoben wird, dann sitzen wir immer noch in diesem Auto und können uns überhaupt nicht wehren. Ein glatter Gegenentwurf zu MacGuyver und vor allem zu Bourne! Grandios!!

Das war die gute Nachricht. Die nicht so gute: Leider sind die narrativen Sequenzen, also alles was nicht Action ist, nicht so überzeugend geworden wie die erstklassigen Kampfszenen. Stephanies Entwicklung von der Drogennutte hin zur Amateurattentäterin ist mit unendlich vielen der immergleichen Flashbacks an ihre Familie gepflastert, genauso wie an sehr viele Momente während ihrer Ausbildung, die jeglichen Inhalts entbehren. Ihr Mentor B (der heißt hier wirklich so) demütigt sie lieber, anstatt ihr eine ordentliche Ausbildung im Nahkampf zu geben, so scheint es, und auch wenn B‘s Verhalten sicher nicht ohne Grund ist, so fehlt hier doch ein wenig der (cineastische) Inhalt. Dazu kommen noch einige Löcher innerhalb der Handlung, die zwar den Ablauf nicht wirklich ausbremsen, aber den Zuschauer gegebenenfalls mit offenen Fragen hinterlassen: Wie kann Stephanie zwischen Spanien und den USA pendeln? Mit ihrer Tarnidentität als deutsche Terroristin? Sicher nicht. Aber wie dann …? Die Sache mit dem Bombenzünder im Bus ist megaspannend und klasse gefilmt, in sich aber nicht logisch, und ausgerechnet der Schlussszene entbehrt dann gleich jeglicher Sinn …

Von daher hat es hier leider doch einiges an Schatten neben dem Licht: Viel Zeit wird mit Dingen vergeudet welche die Laufzeit unnötig strecken oder redundant sind, dafür lernen wir auf der anderen Seite phasenweise Stephanies Innenleben kennen und erhalten Einblicke in die Seele eines Menschen, der alles verloren hat und komplett gebrochen wurde. Und der sich mal eben hopplahopp ganz schnell wieder aufrappelt, was zwar idiotisch klingt, aber zugegebenermaßen durch Blake Lively überragend dargestellt wird.

Fazit: Die Action ist furios, die Machart ist überraschend gelungen, aber inhaltlich wäre da durchaus noch einiges zu verbessern. Und sei es nur der originale Titel, der sich auf genau eine einzige Dialogzeile bezieht, und damit die Ideenlosigkeit der Grundausrichtung passend illustriert.

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Di 20. Dez 2022, 05:14
von Maulwurf
Mad love (Karl Freund, 1935) 7/10

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In der griechischen Sage erschafft Pygmalion eine Statue aus Marmor und nennt diese Galatea. Enttäuscht von den Menschen liebt er diese Statue über alles, und eines Tages erwacht sie in seinen Armen tatsächlich zum Leben und schenkt ihm einen Sohn.
MAD LOVE, das US-amerikanische Remake von Robert Wienes ORLACS HÄNDE, basiert auf diesem Stoff. Dr. Gogol, der geniale Chirurg, ist in die Schauspielerin Yvonne verliebt, doch als er erfährt, dass sie ihre letzte Vorstellung gibt, und danach mit ihrem Ehemann auf Flitterwochen fahren will, zerbricht etwas in ihm. Er organisiert sich die Wachsstatue aus dem Theater in dem Yvonne auftrat, lässt jeden Tag ihr Haar kämmen, und spielt abends im trauten Heim Orgel für seine geliebte Galatea.
Yvonne wartet derweil vergeblich am Bahnhof auf ihren Gatten Stephen Orlac, der von einem Auftritt zurückkommen wollte. Orlac ist ein gefeierter Pianist, doch in dieser Nacht trifft ihn das Schicksal: Der Zug in dem er sitzt verunglückt, und seine Hände werden zerstört. Ausgerechnet Dr. Gogol sieht eine Möglichkeit: Er könnte die Hände des jüngst hingerichteten Messermörders Rollo verwenden, damit Orlac auch weiterhin Klavier spielen kann. Auf Bitten seiner geliebten Yvonne ist er bereit dies zu tun, und die Operation wird auch ein voller Erfolg. Doch wird sie das wirklich? Gogols Wunsch, dass Yvonne sich ihm damit annähert, wird durch ihre freundliche aber bestimmte Abwehr grausam zerstört, und gleichzeitig hat Orlac kein musikalisches Gefühl mehr in seinen Händen. Doch Messer werfen, dass kann er gut. Genauso gut wie Rollo! Orlac, der nicht weiß, dass seine Hände gar nicht seine eigenen Hände sind, beginnt bereits dem Wahnsinn anheim zufallen, als er ein Treffen hat. Mit Rollo …

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MAD LOVE ist ein schönes Beispiel dafür, was man aus einem großartigen Film, der viele existenzielle Fragen aufwirft, und mit einer wunderbar düsteren und unheimlichen Atmosphäre aufwartet, in einem Remake machen kann: Ein Zauberwerk an pulpiger Action, an kitschigen Dialogen und an lächerlichen Nebenfiguren. Einen Groschenroman, der gerne große Literatur wäre. Tatsächlich ist bis zu einem bestimmten Punkt das einzige positive, was man über MAD LOVE sagen kann, der Umstand, dass der Film, trotzdem er ein amerikanischer Film ist, in Frankreich spielt. Dadurch konnte Regisseur Karl Freund eine altertümlich und geradezu gotisch anmutende Architektur einsetzen, die dem Film sehr viel Flair gibt und ihn fortbringt von einer modernen und hektischen Stimmung, die er in der Art-Deco-Hölle der USA im Jahre 1935 unweigerlich bekommen hätte. So aber sehen wir dunkle Säulenhallen, Pferdekutschen, und alles wirkt einfach ein wenig … altertümlich. Fast an Richard Oswalds ALRAUNE erinnernd. Oder an eine Geschichte von H.P. Lovecraft …

Aber ich schreibe Bis zu einem bestimmten Punkt, und das meine ich auch so. Die ersten 45 Minuten sind oft schnell und oberflächlich (zumindest im Vergleich zum Original), und der rasende Reporter zieht die Geschichte mit seiner idiotischen Komik und seinem Yankee-Slang mindestens genauso nach unten wie der Journalist in DAS ZWEITE LEBEN DES DR. X. Eine Figur, die in den damaligen (Horror-) Filmen gern und oft eingesetzt wurde um durch das Comic Relief den Schrecken zu mildern, die aber aus heutiger Sicht viel grauenhafter wirkt als die Monster und Unholde. Genauso wie die ständig betrunkene Haushälterin von Dr. Gogol, die mit ihrem Papageien auf der Schulter wie eine Hommage an W.C. Fields wirkt, und merkwürdigerweise kommt es, wenn die beiden dummen und überflüssigen Figuren zusammentreffen, tatsächlich zu einer funktionierenden und komischen Szene, die den Rhythmus des Films nicht zerstört …

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Aber so etwa nach 45 Minuten kommt eben dieser Punkt - Die Lichter gehen aus und das Grauen beginnt. Auftritt Rollo in seiner bizarren Verkleidung (und natürlich ist jedem klar wer in Wirklichkeit dahintersteckt, aber darum geht es ja gar nicht – Die Wirkung dieser Figur ist phänomenal!). Orlac verliert sich immer mehr in seinen Wahnvorstellungen, und spätestens wenn Yvonne sich selbst begegnet verlässt MAD LOVE die Pfade des normalen Grusels und wird zu etwas psychotronischem. Peter Lorre begeistert als Dr. Gogol, mit Glatze und Glubschaugen, fast emotionslos, außer wenn er der schönen und mit einem verführerischen Augenaufschlag gesegneten Yvonne huldigen darf, und dabei ist er so ausgehungert nach Liebe und Berührung. Lorre agiert hier in seinem ersten amerikanischen Film, und angeblich hat er den Text phonetisch gelernt, weil er fast kein Englisch sprach. Vielleicht lag es auch daran, dass er zu Beginn des Films so steif wirkt in seiner Darstellung, aber irgendwie passt es zu diesem, vom Leben enttäuschten und unattraktiven kleinen Mann, der seine überbordende Liebe an eine Wachsfigur verschenkt, weil er sich anders nicht ausdrücken kann.
Und immerhin wird der Name Lorres im Vorspann vor dem Titel genannt. Zu Recht, denn was Lorre hier liefert ist eigentlich oscarreif. Lorre gibt dem Wahn ein Gesicht, das bei aller Obszönität unser Mitleid erhält, denn wir wohnen der Metamorphose des Menschen zum Monster bei, und selbst am Ende, wenn Dr. Gogol vollkommen den Verstand verloren zu haben scheint, erkennen wir dank der Kunst Lorres den einsamen und verlorenen Menschen. Während also Dr. Gogol nach und nach seinen Visionen erliegt, und gleichzeitig sein Assistent ihn selber medizinisch überflügelt (was er, im Liebesrausch gefangen, nicht einmal mehr merkt), steigert sich das Fiebrige und Wahnhafte des Films zu einem wahren Rausch und kulminiert letzten Endes in einem frühen Psychothriller. Die gute Handwerkskunst Karl Freunds, das grandiose Spiel Peter Lorres und die mächtigen Dekorationen ergänzen sich zu einem gotisch-überwältigenden Ganzen, das den viel zu redseligen und zerfasernden ersten Teil vollkommen auslöscht. Und es ist beileibe nicht die Polizei, die das Verbrechen am Ende aufhält, sondern Orlac, der kunstvoll ein Messer auf das Böse wirft und es tötet, nachdem Gogol lange Zeit seiner inneren Stimme lauschte, die da flüsterte „Jeder Mann tötet was er liebt“. Ob Orlac das auch so sieht, jetzt, wo er zwar nicht mehr Klavier spielen, dafür aber perfekt mit Messern umgehen kann …?

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Fr 23. Dez 2022, 05:27
von Maulwurf
Bait (Hugo Haas, 1954) 5/10

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Das müssen früher wahrlich schlimme Zeiten gewesen sein für alleinstehende Frauen. Peggy zum Beispiel. Peggy war glücklich verliebt, man heiratete, doch irgendwie ging an dem Tag alles drunter und drüber, und am Ende haben die Dokumente gefehlt, welche die Hochzeit belegt haben. Und die Behörde hat diese Dokumente auch nicht mehr hergebracht. Kurz danach musste ihr Mann fortgehen, in einen fernen Krieg, und das nächste was sie über ihn hörte war das widerliche Wort Gefallen. Und seitdem gilt ihr Kind als unehelich und Peggy als, na ja, so eine halt. Jeder sagt das. Sie ist Freiwild für die Männer, und ein Objekt des Spottes und des Hasses für die ganze Gegend.
Doch jetzt kommt dieser ältliche, etwas korpulente Mann. Mr. Marko. Ein Abenteurer serbischer Abstammung, der vor 15 Jahren hier in der Gegend mal eine Goldmine entdeckte. Behauptet er zumindest. Seinen Partner fand man kurz darauf tot im Schnee, erfroren, und Mr. Marko sucht seit sage und schreibe 15 Jahren diese Mine, weil er nicht mehr weiß wo sie lag. Und jetzt steht er hier vor Peggy, die er bisher in den buntesten Farben und mit den saftigsten Ausdrücken zur Sau gemacht hat, entschuldigt sich bei ihr, und macht ihr einen Heiratsantrag, unter der Bedingung dass sie mitkommt auf seine Hütte in den Bergen. Wo, wie sie lernt, tatsächlich jede Menge Gold darauf wartet, abgebaut zu werden. Und wo auch der junge und attraktive Ray, Mr. Markos Partner, haust. Und sie lernt auch, dass Mr. Marko sie nicht ein einziges Mal umarmt oder küsst, sogar ganz im Gegenteil Ray auffordert sie zu küssen. Die Absichten von Mr. Marko bei dieser Ehe sind nicht so ganz klar …

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Sind sie eigentlich schon. Denn der Zuschauer hat einen gewissen Wissensvorsprung gegenüber Ray und Peggy, und er ahnt den Plan von Mr. Marko bereits. Denn diesen Plan hat ihm der Teufel eingeflüstert. Und was hier vielleicht noch pathetisch klingen mag wird im Film schnell zur bittersüßen Realität, beginnt BAIT doch mit einem älteren Mann, der eine endlos erscheinende Treppe hinaufsteigt, oben dann Autogrammwünsche gesichtsloser Fans befriedigt, in die Kamera schaut und in bestem Upperclass-Englisch sagt: „Let me please introduce myself – I am the devil.“

Wer kichert da? Setzen, eins. Der Leser hat in moderner Popkultur gut aufgepasst und weiß jetzt, dass Mick Jagger diesen Film irgendwann mal gesehen haben muss …

Auf jeden Fall ist dies ein starker Beginn, der dann aber leider etwas nachlässt und in ein nicht allzu aufregendes Drama mit zunehmenden Ansätzen eines Thrillers hinübergleitet. Es ist wird relativ schnell klar, dass Mr. Marko und Ray nicht unbedingt die allerbesten Freunde werden (Ray heißt nicht umsonst mit Nachnamen Brighton, was schon auf eine gewisse Leichtfüßigkeit im Leben hinweist, während Mr. Marko sein Heil in der Religion gefunden hat und keine Freude kennt, außer in der Bibel zu lesen), aber das Gold hält sie zusammen. Doch genauso, wie sie beim Abbau der Mine aufeinander angewiesen sind, genauso glitzert auch die Habgier in ihren Augen, und es stellt sich die Frage, wie man die vereinbarte 50:50-Partnerschaft ein wenig umgestalten könnte. Zum Vorteil des einen oder des anderen. Und an dieser Stelle kommt eben Peggy ins Spiel …

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Das letzte Drittel des Films, in dem der namensgebende (blonde) Köder seine Aufgabe erfüllt und die Falle allmählich zuschnappt, dieses letzte Drittel ist tatsächlich recht spannend geraten und unterhält vortrefflich. Doch die Mühe der vorhergehenden Minuten wird damit nur teilweise aufgehoben – So sehr sich die drei Schauspieler auch anstrengen dieses Kammerspiel interessant zu gestalten, da fehlen einfach ein wenig der Kniff und die Spannung in der Handlung, die das Kammerspiel in etwas Klaustrophobisches und Enervierendes transformieren könnten. Es plätschert einfach ein wenig zu sehr um richtig Freude zu machen, und um aus dem Begriff der schlichten Unterhaltung herauszukommen. Drehbuchautor, Hauptdarsteller und Regisseur Hugo Haas, der zum Zeitpunkt des Drehs bereits runde 30 Jahre Erfahrung in der Filmindustrie hinter sich hatte, schafft es nicht wirklich, dem Plot etwas Überraschung oder Aufregung einzuhauchen. Die englische Wikipedia schreibt über Haas unter anderem „ … he launched a successful if unacclaimed career as a film director in Hollywood with a string of B movie melodramas, usually starring blonde actresses in the role of a predatory mantrap. Haas usually cast himself as the male lead in the films although the female role almost always dominated the storyline and was usually exclusively promoted on film posters.“ (1) Jedes einzelne Wort dieses Textes trifft auf BAIT zu! Was dann irgendwie schon wieder bemerkenswert ist …

BAIT ist angenehme Unterhaltung zum schnellen Schauen (der Film hat gerade mal 80 Minuten) und zum genauso schnellen Vergessen. Cleo Moore reißt es raus, die in ihrer ersten Szene im Film tatsächlich barfuß läuft (und damit zumindest einen Teil der Gerüchte über Peggy bestätigt, gibt sie damit doch zu dass sie einen gewissen Hang zur Unabhängigkeit hat), und sowohl in Jeans wie auch im Negligé oder im Bademantel sehr sexy rüberkommt. Neben ihrer handfesten und charakterstarken Figur verblassen der solide John Agar als Ray und der biedere Hugo Haas als Mr. Marko weitgehend. Dazu ein durch seine billigen Effekte und eine merkwürdig geschnittene Parallelmontage verschenktes Ende, und fertig ist das Filmchen für zwischendurch. Nichts wirklich Besonderes, aber ein Pinup von Cleo Moore würde ich mir trotzdem jederzeit übers Bett hängen …

(1) https://en.wikipedia.org/wiki/Hugo_Haas

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Mo 26. Dez 2022, 07:04
von Maulwurf
Schornstein Nr. 4 (Jean Chapot, 1966) 7/10

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Vor 6 Jahren, als damals 19-jährige, hat Julia ihren 8 Tage alten Sohn zu Zieheltern gegeben. Was sollte sie damals mit einem Kind? Sie wollte leben, sie wollte ihr Leben er-leben, ein Kind hätte da nur gestört. Vor zwei Jahren hat sie Werner Kreuz kennengelernt und hat ihr Leben mittlerweile komplett umgekrempelt. Sie ist verliebt in Werner und führt ein biederes Leben als Hausfrau in Berlin. Doch jetzt will sie ihren Sohn wiederhaben. Jetzt, und nicht irgendwann. Nicht in sechs Jahren, und auch nicht wann anders, sondern JETZT. Sie fährt nach Essen und umschleicht das Haus der Familie Kostrowicz. Sie schenkt dem kleinen Carlo einen Spielzeug-LKW, sie klingt nachts an der Tür der Kostrowicz‘, sie geht die mühsamen juristischen Schritte um ihren Sohn zu bekommen. Julia steigert sich in diese Obsession hinein, entfremdet sich zusehendes von Werner, und bringt die Kostrowicz‘ zu völligen Verzweiflung. Denn das Gesetz ist tatsächlich auf ihrer, auf Julias, Seite. Als Carlo mit Polizeigewalt zu den Kreuz‘ gebracht wird zerbricht in Radek Kostrowicz, der der Jungen längst als den eigenen Sohn ansieht, etwas: Er klettert auf den 100 Meter hohen Schornstein Nr. 4 an seiner Arbeitsstätte und droht damit hinunterzuspringen, wenn sein kleiner Carlo nicht bis morgen früh um 6 Uhr wieder beim ihm ist.

Ein fahles Schwarzweiss mit wenigen Kontrasten, spröde Bilder von leeren Räumen, und in diesen leeren und fahlen Räumen Personen die sich umkreisen. Die sich gegenseitig sagen dass sie sich lieben, aber tatsächlich nur in ihrem eigenen leeren und farblosen Kosmos leben. „Der erste Film von Jean Chapot sieht aus wie der fünfunddreißigste Problemfilm eines Delannoy, nur eine gewisse Ambition, die dennoch zu nichts führte, verrät das Debüt.“ schreibt Uwe Nettelbeck in der Zeitschrift Filmkritik (1). Mmh, mal abgesehen davon, dass nur Jean Delannoy gemeint sein kann, dessen Filmographie Problemfilme wie DER GLÖCKNER VON NOTRE-DAME (über die Integration von Behinderten in einer streng katholischen Umgebung) oder ACTION MAN (über das schwierige Verhältnis altgedienter Bankräuber zu ihrer nicht-kriminellen Umwelt) enthält, abgesehen davon weiß ich natürlich was Uwe Nettelbeck meint. Diese trockene und sehr intellektuelle Herangehensweise an ein Thema, dieses L’art pour l’art, das kann einen Zuschauer schon abschrecken, zumal erst recht in der heutigen Zeit, in der im Kino Themen wie Weltzerstörung bzw. Rettung derselben vorherrschend sind und mit Computern anstatt mit Schauspielern dargestellt werden.

SCHORNSTEIN NR. 4, beziehungsweise DIE DIEBIN, wie er im Untertitel und auch in den österreichischen Kinos hieß, macht es seinem (heutigen) Zuschauer sicher nicht leicht. Lange Dialoge (die von der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras geschrieben wurden), eine sprunghafte Handlung, die zwischen Berlin und Essen hin- und herpendelt und dem Zuschauer fortwährende Aufmerksamkeit abfordert, und das Psychogramm nicht nur einer Frau, die irgendwann in ihrer wilden Jugend einmal eine falsche Entscheidung getroffen hat, und die sie jetzt gegen alle Widerstände umkehren will, sondern ebenfalls das Bild eines Mannes (nämlich Radek Kostrowicz), dem etwas genommen werden soll was ihm einmal gegeben wurde, und der diesen Verlust nicht erträgt. Solche Dinge sind, das meine ich jetztsehr wohl im Ernst, schwerer Stoff, normalerweise eher der Abteilung Das kleine Fernsehspiel nachts um 23:45 zuzurechnen.

Aber wenn man aufpasst, wenn man sich dieser trockenen und nicht unbedingt interessant klingenden Thematik hingibt, dann wird man mit Schauspielerkino belohnt, wie man es selten zu sehen bekommt. Für Romy Schneider war es nach David Swifts LEIH MIR DEINEN MANN und Woody Allens WAS GIBT’S NEUES, PUSSY? endlich wieder einmal eine Möglichkeit, eine anspruchsvolle Rolle zu spielen. Sich in eine gequälte und verzweifelte Seele zu versetzen und alles zu zeigen, was sie als Schauspielerin drauf hatte. Und das auch noch in Deutschland, war SCHORNSTEIN NR. 4 doch nach ihrem Fortgang 1959 die erste Rückkehr ins deutsche Kino (die Rolle in Fritz Kortners LYSISTRATA 1961 fand für das Fernsehen statt). Entsprechend freute sie sich über diese Rolle und steckte eine Menge Energie in den Film. Eine junge Frau, die ihr eigenes Kind wiederhaben will, und die es über dem Konflikt, den sie damit auslöst, schier zerreißt. Wobei die Antwort auf die Frage, ob Julia wirklich ihr Kind haben will oder eigentlich nur die Idee eines Kindes liebt, nur ganz zart angedeutet wird. Wie so viele Eltern möchte sie sich die Liebe ihres Kindes erkaufen, und steht dem Weinen des Kleinen eher ratlos gegenüber, was tendenziell zur letzteren Möglichkeit weist. Eine grandiose Leistung Romy Schneiders, diese Ambivalenz zu zeigen, ohne sich dabei festlegen zu müssen!
An ihrer Seite zum ersten Mal Michel Piccoli als ihr Ehemann Werner. Das Paar, das später in vielen Filmen gemeinsam die Seelen- und Liebeswelt so mancher Filmgestalten erkunden sollte, legt hier bereits eine perfekte Chemie an den Tag. Die Dialoge, die Blicke, die kleinen, manchmal kaum ahnbaren Bewegungen … Im Gesamtbild sieht man wie die eigentlich harmonische Ehe unter der Belastung von Julias Besessenheit nach und nach zerbricht, obwohl keiner der beiden dies wirklich möchte. Eine Situation, die sicher keinem gänzlich unbekannt ist: Man lebt sich auseinander, obwohl die grundlegende Zuneigung doch noch da ist. Nur wo? Das Paar liegt nebeneinander im Bett, sie hat ihm die Existenz eines ihm bisher unbekannten Kindes gestanden, und nun will sie seine Berührung als Zeichen seiner Liebe. Piccoli hebt den berührten Arm, nur ein kleines Stückchen, ein paar Zentimeter vielleicht, aber diese paar Zentimeter genügen schon als Zurückweisung. Keine Worte, keine Blicke, nur diese kaum wahrzunehmende Bewegung …

Auf der anderen Seite dann Hans Christian Blech als Radek Kostrowicz. Seit 6 Jahren Vater, und er liebt seine Familie und seinen Sohn über alles. Das Schlimmste was man ihm antun kann ist, seine Familie zu zerstören. Und genau das geschieht! Seine Ungläubigkeit wird zu Ärger, der Ärger zu Wut, die Wut zu Hass und Verzweiflung. Und doch ist alles vertan, weil er sich nicht rechtzeitig um die gesetzlichen Grundlagen seiner Familie gekümmert hat, und nun sieht er nur noch einen einzigen Ausweg: Er will an die Herzen der Menschen appellieren ihm seinen Sohn wiederzugeben, oder er geht in den Tod. In einen spektakulären Tod, der das Gewissen diese schamlosen Person, dieser Julia Kreuz, auf ewig belasten wird. Auch Blech zeigt diese allmähliche Vernichtung seiner Existenzgrundlage stark und intensiv, und da der Fokus der Geschichte mitnichten nur auf Julia liegt, sondern auch Radek einen großen Teil der Erzählung widmet, ist das Mitleid mit diesem armen Mann unweigerlich. Die Lösung dieser Situation scheint unmöglich, keiner der Beteiligten will nachgeben, und der Versuch Werners, mit Radek ein klärendes Gespräch zu führen, scheitert an eben dieser Ausweglosigkeit. Schließlich ist Carlo ebenso seiner wie Julias Sohn. Mehr erfahren wir nicht über Radek, und mehr muss man auch gar nicht wissen – Ein Mann der vor der Vernichtung seiner seelischen Grundlagen steht, das reicht als Charakterisierung und als Handlungsgrundlage völlig aus!

Wie gesagt, wenn man sich auf diese Art Film einlassen kann, wird man mit großartigem Schauspielerkino belohnt. Dazu kommen Bilder, die die Leere dieser Menschen und ihrer Welt perfekt illustrieren. Während außenrum ein ewiges Gewimmel ist, das deutsche Wirtschaftswunder sich in steter Arbeit in Essen und unaufhörlichem Verkehr in Berlin genauso manifestiert wie in dem schmucken Einfamilienhäuschen in der Arbeitersiedlung oder dem kühl-eleganten Appartement des Kreuz’schen Bürgertums, ist innendrin Leere. Oft genug stehen die Protagonisten mit dem Rücken an einer leeren Wand (nicht nur metaphorisch, sondern eben auch bildlich gesprochen), die Barrieren zwischen den Personen werden deutlichst vor Augen geführt, und ganze Szenen scheinen in einem weißen und leeren Raum gedreht worden zu sein. Die damit entstehende Stimmung, der Frost zwischen den Wörtern und das Eis zwischen den Menschen, lässt auch heute noch frieren. Und das eigene Verhältnis zum geliebten(?) Menschen überdenken …

Kunstkino, ja. Schwierig, ja. Aber dabei spannend und überzeugend.

(1) Booklet zur DVD SCHORNSTEIN NR. 4 von Oliver Bayan

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: Do 29. Dez 2022, 05:30
von Maulwurf
The house of lost women (Jess Franco, 1983) 7/10

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HouseofLostWomenBLUB_800x.jpg (21.61 KiB) 150 mal betrachtet

Vier Menschen, die in einem luxuriösen Haus auf einer ansonsten unbewohnten Insel feststellen müssen, dass die Hölle nicht immer nur die anderen sind, sondern manchmal auch sie selber. Der Vater, Mario Pontecorvo, war vor vielen Jahren in Argentinien ein erfolgreicher Schauspieler, musste aber wegen angeblicher sexueller Übergriffe fliehen. Jetzt lebt er in den Träumen von damals, kann aber meistens die Orte und die Zeiten nicht mehr richtig zusammen bekommen. Die ganze Situation überfordert und belastet ihn zunehmend psychisch, aber auch körperlich. Die eine Tochter, Desdemona, träumt vom Reisen über die ganze Welt. Und davon, entjungfert zu werden. Ihr Leben findet letzten Endes zwischen ausgiebiger Selbstbefriedigung und leeren Träumen statt. Die andere Tochter, Paulova, ist körperlich und geistig behindert, muss gefüttert werden, und hat das Gemüt einer Zweijährigen. Die Stiefmutter, Dulcinea, träumt von einem potenten Mann, der es ihr mit Hingabe und Stehvermögen so richtig besorgen kann, und auch wenn sie Paulova auf ihre distanzierte Art durchaus liebt, so hat sie doch kein Problem damit, die Tochter mit der Reitgerte ordentlich zu bestrafen. Dann kommt ein Fremder auf die Insel. Er nennt sich Tony Curtis, schaut gut aus, und er scheint Mario von früher zu kennen. Jeder projiziert etwas anderes auf Tony Curtis, und er kann unter Umständen auch den einen oder anderen Wunsch erfüllen. Aber was oder wer ist Tony Curtis? Und was geschieht mit der fragilen Gemeinschaft, die durch den Besuch des Mannes ganz plötzlich einen Kontrapunkt für alle Sorgen, Phantasien und Ängste bekommt?

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Der Großmeister der schmierigen und dunklen Erotik verfilmt Pier Paolo Pasolinis TEOREMA, so scheint es. Doch wo Pasolini seinen Klassiker mit viel Licht und noch mehr Künstlichkeit präsentiert, zieht sich Jess Franco zurück auf das Terrain, welches er in den frühen 80ern mit besonders viel Verve beackert hat: Zu den vereinsamten und verlorenen Menschen, die ihre Lebensunfähigkeit mit Sexualität und Gewalt zu kompensieren versuchen, und dabei nur noch tiefer in die Einsamkeit abrutschen. Oft bis zum Tod.

LA CASA… macht da keine Ausnahme. Vier Menschen, die psychisch alle vollkommen derangiert sind, und die ihre Macken mit unerbittlicher Grausamkeit aneinander ausleben. Da zeigt die ältere Tochter der geistig zurückgebliebenen wie man richtig onaniert. Da peitscht die Stiefmutter die Tochter mit der Reitgerte aus, immer kräftig auf den nackten Körper drauf damit es auch nur ja richtig wehtut. Die Stiefmutter treibt es auch vor den Augen des Ehemannes mit dem Fremden, und als das Pärchen ihres Voyeurs und seinen entsetzten Tränen ansichtig wird, da geht es als Antwort erst richtig zur Sache, nur mit wesentlich kälterem Blick. Gerald Kuklinski schreibt in seiner Besprechung auf Italo-Cinema von einer dysfunktionalen Familie, aber ich glaube, dass das noch viel tiefer geht. Die Schäden dieser Menschen sind sehr weitreichend und echte Psychosen.

Mario sitzt nur da und blättert in alten Erinnerungsalben. Ah, das war da und dort! Dann kommt er ins Grübeln: Oder an jenem Platz? Er weiß es einfach nicht mehr, und sein einziger Bezugspunkt ist die Stadt Mendoza in der Nähe von Buenos Aires, aber ob er wirklich jemals dort war? Mario lebt in seiner ganz eigenen Welt, über die er keine Kontrolle und keinen Überblick hat. Sein Gehirn ist ein einziges Chaos, und der einzige Mensch, der sich überhaupt noch die Mühe macht auf Marios Verwirrung einzugehen, ist Desdemona, die ihren Vater liebt. Unabhängig davon, wie man das Wort Liebe auffasst …

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Desdemona, die 18-jährige Tochter, gespielt von einer 28-jährigen Lina Romay mit straßenköterblonder Perücke. Desdemona, allein dieser Name. Laut der Wikipedia bedeutet Desdemona „unglücklich“, „unter einem Unstern stehend“, „vom Schicksal verfolgt“. Der Film beginnt mit Desdemona, die alleine an einem Strand entlangläuft, ihren üppigen Körper der Natur und der Kamera preisgebend, und traurig über das Meer sinniert. Weltschmerz pur, was streckenweise erstaunlich gut funktioniert. Eine 18-jährige, die in einem aufgezwungenen Zölibat lebt, sich dabei aber ihres aufregenden Körpers sehr wohl bewusst ist, hat natürlich nur ein einiges Ziel: So viel Sex wie möglich zu haben. Der einzige Mann auf der Insel ist ihr Vater, und der ist, wie aus einer Liebesszene mit Dulcinea zu entnehmen ist, eher impotent. Weswegen dann sogar Zigaretten oder Orangenschnitze zu Liebeswerkzeugen umfunktioniert werden.

Dulcinea, die Stiefmutter. Die literarische Dulcinea ist das weibliche Traumbild bei Don Quijote, in deren Namen der alte Mann seine Heldentaten vollbringt, ohne dass sie jemals davon erfahren wird. Dulcinea ist also etwas wie ein unerreichbarer Zustand, was recht drollig ist, ist Dulcinea doch in einem Zustand, in dem sie zumindest bei ihrem Mann nichts erreicht. Oder, anders ausgedrückt, Marios Traumbilder, die auf seine Frau abzielen, können niemals eine Erfüllung erreichen. Das Abbild Dulcineas in seinem Geist wird immer ein Abbild bleiben, und niemals zu einer wirklichen Frau werden. Gleichzeitig scheint Dulcinea ein wenig wie die böse Stiefmutter aus dem Märchen zu sein. Sehr körperbetont, und immer auf der Suche nach erfüllendem Sex, ist sie gezwungen ihr Leben mit einem impotenten Mann, einer geistig behinderten Stieftochter eins, und einer ihr sexuell mittlerweile langsam den Rang ablaufenden Stieftochter zwei zu verbringen. Auch hier ist es nur logisch dass es zu Zwangszuständen der Seele kommt.

Und dann betritt Tony Curtis das Haus. Gutaussehend und geheimnisvoll zieht er alle Wünsche, Träume, und jedes Begehren auf sich. Tony Curtis ist, bei aller vermeintlichen Harmlosigkeit die in ihm steckt, ein Katalysator, der die in Riten erstarrte Familie durcheinanderwirbelt und für deren Auflösung er sorgt. Durch Curtis‘ Anwesenheit erkennt Mario wer er in Wirklichkeit ist und zieht daraus dann auch die finale Konsequenz, Dulcinea findet ihre Erfüllung in gutem Sex, und auch Desdemona sieht ihre Wunschträume erfüllt. Vorerst, doch wenn sie am Ende ihre kranke Schwester über die Insel schiebt, sich ihre Einsamkeit nur noch vergrößert hat, und sie gleichzeitig weiß, dass sie diese Insel niemals verlassen wird, dann ist dies ein dunkler und unglücklicher Schluss der den Zuschauer mit viel Traurigkeit in die Realität entlässt. Dazu eine schöne Musik von Daniel White, und wir sind umgehend wieder beim Weltschmerz …

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Die zentralen Momente, die auch den weitaus größeren Teil des Films einnehmen, sind die Sexszenen, und wie meist bei Franco in dieser Zeit, sind diese ruhig, dunkel und ausgiebig. Die wenigen Schnitte fordern von Kamera und Schauspielern das Äußerste, und vor allem GEMIDOS DE PLACER ist mir als Vergleich immer wieder eingefallen, wobei dieser in seiner Schnittfrequenz noch viel weiter geht. Aber gerade Lina Romay hat einige lange und sehr intensive Szenen, die verstörend und erotisch zugleich wirken. Die Schnitte sind deutlich als nachträglich eingefügt zu erkennen, um zum Beispiel beim Sex zwischen Dulcinea und Tony Curtis den weinenden Mario dazwischen zu schneiden. Aber der Akt selber wurde sichtlich in einem Take gedreht. Das Ergebnis sind intensive Szenen, die in ihren guten Momenten tief unter die Haut gehen, und in den nicht so guten immer noch gekonnt die Balance zwischen Erotik und Irritation einnehmen. Bemerkenswert sind dabei die oft im Hintergrund zu hörenden Szenen aus DALLAS sowie einige auf die Aktion im Vordergrund passend zugeschnittenen Werbespots, bei denen man dann nicht weiß ob man lachen oder weinen soll. Vordergründiger Sex mit hintergründiger Werbemessage – Film kann so schön sein …

Natürlich ist auch und gerade bei Jess Franco, der im Jahr 1982 sage und schreibe 13 Filme drehte, kein herausragendes Meisterwerk der Filmkunst zu erwarten (wieso eigentlich nicht?). Aber gegen Obskuritäten wie DAS SCHLOSS DER REITENDEN LEICHEN oder OASE DER ZOMBIES ist LA CASA.. sowieso schon ein Goldstück, und auch insgesamt betrachtet ragt dieser Film ein gutes Stück aus dem Oeuvre Francos heraus. Die Verbindung aus Sexualität und Psychose, aus Klaustrophobie und Sehnsucht, die gelingt nur wenigen Regisseuren so gut wie ihm, und hier ist das dunkle Spiel auch zudem noch hervorragend gefilmt und erstklassig anzuschauen.

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Verfasst: So 1. Jan 2023, 06:45
von Maulwurf
Im Stahlnetz des Dr. Mabuse (Harald Reinl, 1961) 6/10

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Das Verbrechersyndikat von Chicago will gemeinsame Sache machen mit einer Bande in Deutschland. Kontakte werden geknüpft, und das Syndikat schickt zwei Vertrauensleute hierher, die ein gigantisches Rauschgiftgeschäft abwickeln sollen: Mrs. Bizarro und Nick Scappio, der sich als FBI-Agent Joe Como tarnt. Mrs. Bizarro wird sehr schnell ermordet, aber Scappio kann Kontakt zur Unterwelt aufnehmen. Durch den Mord kommt allerdings Kommissar Lohmann ins Spiel, und der alte Fuchs wittert sofort, dass hier etwas nicht stimmt. Dass es sich hier nicht nur um irgendwelche großen Gangster handelt die miteinander spielen wollen. Und dass Scappio/Como wahrscheinlich eher ein FBI-Agent ist der sich als Gangster tarnt denn umgekehrt. Wahrscheinlich hat er Lex Barker vorher im Kino gesehen und sich gedacht, dass so ein kerniges Mannsbild unmöglich zu den Bösen gehören kann …
Lohmann kommt dahinter, dass das Gefängnis der Stadt der Dreh- und Angelpunkt der Sache ist, und das Häftlinge dort „offiziell“ flüchten können um Verbrechen zu begehen. Er kann auch ermitteln, dass den Häftlingen ein fremder Wille aufgezwungen wird, und dazu fällt ihm ein Name ein: Dr. Mabuse, der Meisterverbrecher …

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Eigentlich sollte man das nicht vergleichen, aber irgendwie tut man es ja dann doch: Der Vorgängerfilm, DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE, inszeniert von Fritz Lang, war ein starker und dicht inszenierter Noir, der sich des Themas der lückenlosen Überwachung von Menschen mittels Thrillerelementen geschickt annahm. Nun ja, Harald Reinl ist kein Fritz Lang, und Lex Barker kein Peter van Eyck, weswegen sich ein Vergleich wie gesagt verbietet. Eigentlich. Aber er kommt einfach immer wieder von selber hoch, der Vergleich, und flüstert einem ins Ohr: Was hätte Lang aus beispielsweise der Sequenz gemacht, in der die willenlosen Häftlinge wie Roboter in den Tod geschickt werden? Warum muss die Held-und-Heldin-sind-im-Keller-gefangen-Szene aus DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE so einfallslos kopiert werden? Als Hommage? Gert Fröbe ist wie auch bereits im Vorgänger ein mehr als würdiger Nachfolger von Otto Wernicke, aber dem Schurken kann man allein schon aufgrund seines Bartes den Bösewicht auf 10 Meter Entfernung ansehen. Selbst Daliah Lavi bleibt blass, überhaupt kein Vergleich zu dem nur wenig später entstandenen IL DEMONIO, und auch Lex Barker hat nicht den Drive aus so vielen anderen Filmen.

Dabei ist IM STAHLNETZ.. eigentlich gar nicht schlecht. Es werden viele falsche Spuren gelegt, das Verwirrspiel um Lex Barkers Identität ist schnell durchschaut aber amüsant, Gert Fröbe rockt die Hütte wie absolut immer wenn er die Leinwand bzw. den Bildschirm betritt, und das hohe Tempo des Films hilft ungemein, die vielen logischen Fehler zu übersehen. Als Krimi aus einer Zeit, in welcher der Begriff Krimi ein Markenname war der die Leute ins Kino brachte, taugt IM STAHLNETZ.. nämlich sehr wohl. Ein unbekannter Schwerverbrecher, der mit üblen Methoden die Welt oder zumindest mal die Stadt in seine Gewalt bringen will, das geht eigentlich immer. Die flotte Musik von Peter Sandloff macht gut Laune, die Straßen der großen Stadt sind zumindest aus heutiger Sicht gut eingefangen, und Nebenpersonen wie der Trödler oder der Pfarrer sind herrlich zwielichtig und beleben die 08/15-Szenerie ungemein.

Nein, es ist entweder die Gesamtmischung, die nur bedingt zünden will, oder, was wahrscheinlicher ist, der sich aufdrängende Vergleich, die Profanisierung des Mabuse-Mythos in das populäre Korsett eines Krimis, was hier ein wenig das Vergnügen schmälert. Alle bisherigen Mabuse-Filme waren Filmklassiker mit dem ganz großen Atem, die selbst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung noch fesseln, und auch heute noch eine beängstigend aktuelle Szenerie zeigen. IM STAHLNETZ.. ist der erste Mabuse, der nicht mehr so 100-prozentig nach vorne geht, was dann einfach für ein wenig Enttäuschung sorgt. Wie spannender Gruselkrimi Made in Germany besser geht hat die Rialto zur gleichen Zeit mit der Edgar Wallace-Reihe gezeigt (wobei der im gleichen Jahr entstandene DER FÄLSCHER VON LONDON ebenfalls nicht zu den Highlights von Harald Reinl gehört, ganz im Gegensatz zum Vorjahresfilm DIE BANDE DES SCHRECKENS), und Artur Brauner ist, wie so oft, den großen Erfolgsreihen hinterher gedackelt, hat die Nachzügler gedreht und die Brosamen abbekommen.

Nochmal, IM STAHLNETZ DES DR. MABUSE ist beileibe kein schlechter Film, aber nach den Höhenflügen der bisherigen Mabuse-Streifen werden nun kleinere und einfachere Brötchen gebacken. Muss man halt hinnehmen, und dann kann der Film sehr wohl Spaß machen …

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