Tatort: Grenzgänger
Neckermann macht's möglich
„Wer spät ins Bett geht und früh raus muss, der weiß, woher das Morgengrauen kommt…“ – „Lass mich am frühen Morgen mit Goethe in Ruhe!“ – „Das ist von Robert Lembke.“
Die passenderweise am A.C.A.B.-Tag des Jahres 1981, also am 13.12. erstausgestrahlte zweite Episode des berüchtigten Duisburger „Tatort“-Ermittlungsduos Schimanski/Thanner (Götz George/Eberhard Feik) stammt von Regisseurin Ilse Hofmann („Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“-Erstverfilmung) – ihr erster von bis heute zehn „Tatort“-Beiträgen. Er basiert auf einem Drehbuch Felix Hubys.
„Ich gelte im Allgemeinen als weniger höflich!“
Schimanski muss von Kriminalrat Königsberg (Ulrich Matschoss, „Tatort: Strandgut“) erfahren, dass er mit dem V-Mann Gerhardt Hollai (Günther Maria Halmer, „Lucky Star“) gesehen wurde, der daher mutmaßlich nicht mehr sicher ist. Tatsächlich wurde Hollais Wohnung durchwühlt – und Hollai ist nicht zu Hause. Der Informant Udo „Bombe“ Blickel (Willi Thomczyk, „Was nicht passt, wird passend gemacht“) steckt Schimanski, dass sich Hollai vermutlich im Keller des windigen Einzelhändlers Kessenich (Charles Brauer, Hamburger „Tatorte“) aufhält. Schimanski und Thanner verschaffen sich Zutritt und enttarnen Hollai nun vollständig – davon ausgehend, das Kessenich ohnehin längst im Bilde sei. Hollai kehrt in den normalen Kriminalpolizeidienst zurück, doch steht die Frage im Raum, ob er nun nicht eventuell ein V-Mann im Dienste der Unterwelt sein könnte und weiterhin gemeinsame Sache mit Kessenich macht. Dies herauszufinden obliegt nun Schimanski, der seinen Freund und Kollegen beschattet, sich mit ihm betrinkt und sein näheres Umfeld wie seine Freundin Hanni (Beatrice Kessler, „Tatort: Drei Schlingen“) durchleuchtet. Hanni wusste bisher gar nicht, dass ihr Freund ein Bulle ist und erfährt es recht unsanft von Schimanski…
„Mein Gott, diese Empfindlichkeit…“
Schimanski reagiert zunächst aufbrausend auf Königsbergs Vorwürfe hinsichtlich der möglichen Enttarnung Hollais, was jedoch in erster Linie der zerfahrenen Situation und den für Hollai gefährlich werden könnenden Umständen geschuldet ist. So erobert Schimmi in der Folge auch rabiat einen Münzfernsprecher für sich und verschafft sich gewaltsam Zutritt zu Hollais Wohnung. Mit diesem prügelt er sich später sogar noch in Hannis Boutique. Seinem Ruf als „Ruhrpott-Rambo“ wird Schimanski also mehr als gerecht. Doch auch Hollai kann ungemütlich würden, nämlich als er sich mit einem pedantischen Erbsenzähler von einem Bullen herumärgern muss, der die Inventur von Hollais Undercover-Dienstwohnung durchführt – eine köstliche Szene, die den hyperkorrekten Diensteifer deutscher Beamter aufs Korn nimmt. Und es wird gesoffen! Schimanski trinkt im Dienst, besäuft sich mit Hollai in einer Kneipe, wo sie zu Westernhagens rüden Rock’n’Roll-Nummern tanzen, Schimmi geht zu Opa Friedrich aufs Hausboot ordentlich einen zwitschern und nimmt einen Rentner von einer Parkbank mit, und er besorgt sich drei Dosen Bier vom Späti. Für einen „Tatort“-Kommissar dürfte er damit einen Rekord aufgestellt haben.
Die Musik Marius Müller-Westernhagen zieht sich durch die ganze Episode, seine Kultnummer „Hier in der Kneipe fühl‘ ich mich frei“ wurde offenbar eigens für den „Tatort“ geschrieben, zumindest exklusiv für ihn verwendet. In den Kneipen laufen ebenso wie bei Schimanski privat weitere Westernhagen-Songs aus dessen Rock’n’Roll-Phase weit vor seiner Armani-Arenarocker-Zeit. Schimanski nervt mit einem Telespiel und bearbeitet einen „Zauberwürfel“, womit er nicht nur seinen allgemein sehr nervösen Eindruck untermauert, sondern weiteres Zeitkolorit einbringt. Den späteren Hamburger „Tatort“-Ermittler Charles Brauer als Gangster Kessenich hätte ich ohne seinen Schnauzbart fast nicht erkannt. Mit seinem Auftritt reiht er sich ein in die Riege von „Tatort“-Antagonisten, die später auf die Seite des Gesetzes wechseln sollten – ganz wie einst Götz George. Günther Maria Halmer mimt seine Figur angenehm zurückhaltend und nuanciert, womit er zum Spannungserhalt bis zum Finale beiträgt. Und Willi Thomczyk als Ruhrpott-Original ist einmal mehr eine Bank. Eberhard Feik als Thanner spielt diesmal eine eher untergeordnete Rolle, kabbelt sich kaum mit seinem Kollegen.
Mit „Grenzgänger“ sensibilisiert der Duisburger „Tatort“ für die Herausforderungen, Probleme und Gefahren, die das Prinzip verdeckter Ermittler(innen) mit sich bringt. Ferner stellt er die Gesetzestreue von Polizisten infrage, haben diese erst einmal die Möglichkeit, etwas vom großen Kuchen abzubekommen – und können sie ihre Position im Staatsdienst dafür auch noch zu ihrem Vorteil nutzen. Achtung, Spoiler:
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Statt die Moralkeule zu schwingen oder das Märchen prinzipientreuer, idealistischer Polizisten zu kolportieren, lässt man Hollai beide Parteien – Bullen und Gangster – gegeneinander ausspielen und sich mit der Geliebten sowie einem hübschen Sümmchen per Neckermann-Pauschalreise ans Meer absetzen, was ihm von seinen Kollegen ausdrücklich gegönnt wird. Die Systemkritik lautet in etwa: Weshalb als Polizist ausschließlich bestehende ungerechte Besitzverhältnisse sichern, wenn sich die Gelegenheit ergibt, auch einmal zu eigenen Gunsten umzuverteilen und damit sowohl den Reichen als auch verschlagenen, brutalen Gangstern ein Schnippchen zu schlagen?
Leider grätschte WDR-Redakteurin Steinhaus dazwischen und erzwang einen abweichenden Ausgang der Handlung. Dies merkt man dem Ende deutlich an, es wirkt inkohärent und weist ein, zwei Wendungen zu viel auf. Ein staatstragendes, typisches
Happy End wurde es trotzdem nicht – die eigentliche Intention bleibt deutlich, der Nachdreh erhält Alibi-Charakter. 7,5 von 10 Runden darf Marius‘ „Tatort“-Single für diesen harsch provokanten, dem deutschen Spießbürger die Zornesröte ins Gesicht getrieben habenden zweiten Auftritt Schimanskis und Thanners auf meinem Plattenteller drehen, bevor ich mich in die Kneipe verabschiede, von man einen durstig machenden „Tatort“ wie diesen am besten feiert. Prost, Schimmi, prost, Hollai!