Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Moderator: jogiwan
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Tatort: Rechnung ohne Wirt
„Ist das hier Kleinchicago, oder was?!“
Auch Regisseur und Drehbuchautor Peter Adam bürgt für gute „Tatort“-Beiträge um das Duisburger Duo Schimanski (Götz George) und Thanner (Eberhard Feik), wie er bereits mit den Episoden „Das Mädchen auf der Treppe“ und „Miriam“ unter Beweis gestellt hatte. Sein insgesamt vierter „Tatort“ (der dritte mit ebendiesen Ermittlern) wurde im Spätsommer/Frühherbst 1983 gedreht, aber erst am 9. Dezember 1984 erstausgestrahlt. „Rechnung ohne Wirt“ ist ein waschechter Ruhrpott-Krimi ohne nennenswerte Sozialdrama-Anteile geworden:
„Zahl oder stirb – das ist die Wahrheit!“
Der Boxer Bubi Kantmeier wurde auf der Straße angeschossen. Offenbar sollten die Schüsse ihn nicht töten, doch erlitt er eine Herzattacke und starb. Im Notizbuch des Verstorbenen findet sich der Name Guido Tessari (Guido Gagliardi, „Lindenstraße“), ein italienischer Restaurantbesitzer und Freund Schimanskis. Als Schimanski Tessari zu seiner Verbindung zu Kantmeier befragt, druckst dieser zunächst herum. Als Schimanski jedoch vor Ort Zeuge eines Anschlags aufs Restaurant wird, berichtet ihm Guido, dass er sich mit Schutzgelderpressern herumplage, sich aber zu zahlen weigere. Diese schrecken auch vor körperlichen Übergriffen auf Guido nicht zurück und wollen ihn sogar zu Hause überfallen. Doch Schimanski vereitelt diesen Plan und überwältigt die beiden Schläger (Luigi Tortora und Biagio Piccolo) zusammen mit Guido. Nun hat Guido einen Trumpf im Ärmel. Damit er sich bei Leone, dem Kopf der Bande, einen Vorteil verschaffen kann, versteckt Schimanski die Gangster bei einem Bekannten, gegen den er wegen dessen illegalem Glücksspiel etwas in der Hand hat. Die Angelegenheit scheint zu Guidos Vorteil geklärt, die Festgesetzten werden laufengelassen. Doch der gerade von einem Kennenlern-Umtrunk mit dem neuen Kriminaloberrat Wolf (Wilfried Blasberg, „Der Fan“) zurückkehrende Thanner weiß nichts davon und verhaftet die Mafiosi auf der Straße. Nun fürchtet man den Zorn Leones… Doch war Guido immer ehrlich zu Schimanski?
„Es kann doch wohl nicht sein, dass Sie um diese Zeit schon wieder betrunken sind!“
Zu Beginn gibt’s ein Wiedersehen mit Schimanskis Adoptivtochter (Vy Nguyen), mit der Schimmi zum Tatort braust. Die beiden Zeugen, ein unheimlich spießiger alter Sack (Gert Burkard, „Didi – Der Doppelgänger“) und eine angepunkte junge Dame (Traute Hoess, „Berlin Alexanderplatz“), sorgen mit ihren Dialogen für Amüsement, doch bei den Ermittlungen im Gaststätten- und Schutzgeldmilieu wird es ernst. Schimmi kooperiert mit einem kleinen Gauner, um die beiden Mafioso-Handlanger rechtswidrig festzuhalten, und muss schließlich sogar versuchen, die Ermittlungen des neuen Vorgesetzten Wolf, einem echten Paragraphenreiter, zu sabotieren. Zwischen Thanner und Schimanski kracht’s bisweilen auch, Schimmi geht gar körperlich auf den triumphierenden Thanner los. Dieser wiederum lernt im Zuge der Ermittlungen in Susi Steuben (Conny Glogger, „Der Glockenkrieg“) eine nette alleinerziehende Dame kennen und verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen. Viel italienisches Temperament bringt zudem Guido ein, insbesondere bei seinem Gefeilsche mit einem Gebrauchtwagenhändler.
Solch humorige Szenen stehen im Kontrast zu einem desillusionierenden Sittenbild der italienischen Gastronomie, zu einer ehemals so herzlichen Freundschaft, die Schimanski neu überdenken muss, und zu einem heftigen Dauerregen, in dem einige Freiluftszenen spielen. Die Verbindung des Todesopfers mit der Schutzgeldthematik entspinnt sich erst nach und nach bzw. gerät zunächst in den Hintergrund, um schließlich für die geschickt platzierte Wendung eine entscheidende Rolle zu spielen. Das ist dramaturgisch wie erzählerisch prima gelöst. Mit seinem permanenten, gestelzten Vorschriftsgequatsche wird sich Neuling Wolf auf Dauer sicherlich keine Freunde machen, im Gegensatz zu jemandem wie Königsberg ist diese Figur jedoch etwas sehr nah an einer reinen Karikatur angelehnt. Als kleine Hommage an italienische Regisseure gehen wiederum Rollennamen wie Federico Leone (von einer Nebenrolle selbst mit Fellini und Sergio in Verbindung gebracht) oder Tessari durch. Und nicht zuletzt ist es der Soundtrack einmal mehr wert, genauer hinzuhören, bringt er doch südländische folkloristische Einflüsse mit und lässt Toni Miccoli am Ende inbrünstig „Mari“ schmettern.
Ein rundum gelungener „Tatort“ also, in dem die Grenzen zwischen Tätern und Opfern, zwischen legal und illegal verschwimmen, der sich auf weder verklärende noch rassistische Weise kritisch mit der italienischen Gemeinschaft auseinandersetzt und dabei deutlich macht, wie sehr man sie doch eigentlich lieben will. Capito?
„Ist das hier Kleinchicago, oder was?!“
Auch Regisseur und Drehbuchautor Peter Adam bürgt für gute „Tatort“-Beiträge um das Duisburger Duo Schimanski (Götz George) und Thanner (Eberhard Feik), wie er bereits mit den Episoden „Das Mädchen auf der Treppe“ und „Miriam“ unter Beweis gestellt hatte. Sein insgesamt vierter „Tatort“ (der dritte mit ebendiesen Ermittlern) wurde im Spätsommer/Frühherbst 1983 gedreht, aber erst am 9. Dezember 1984 erstausgestrahlt. „Rechnung ohne Wirt“ ist ein waschechter Ruhrpott-Krimi ohne nennenswerte Sozialdrama-Anteile geworden:
„Zahl oder stirb – das ist die Wahrheit!“
Der Boxer Bubi Kantmeier wurde auf der Straße angeschossen. Offenbar sollten die Schüsse ihn nicht töten, doch erlitt er eine Herzattacke und starb. Im Notizbuch des Verstorbenen findet sich der Name Guido Tessari (Guido Gagliardi, „Lindenstraße“), ein italienischer Restaurantbesitzer und Freund Schimanskis. Als Schimanski Tessari zu seiner Verbindung zu Kantmeier befragt, druckst dieser zunächst herum. Als Schimanski jedoch vor Ort Zeuge eines Anschlags aufs Restaurant wird, berichtet ihm Guido, dass er sich mit Schutzgelderpressern herumplage, sich aber zu zahlen weigere. Diese schrecken auch vor körperlichen Übergriffen auf Guido nicht zurück und wollen ihn sogar zu Hause überfallen. Doch Schimanski vereitelt diesen Plan und überwältigt die beiden Schläger (Luigi Tortora und Biagio Piccolo) zusammen mit Guido. Nun hat Guido einen Trumpf im Ärmel. Damit er sich bei Leone, dem Kopf der Bande, einen Vorteil verschaffen kann, versteckt Schimanski die Gangster bei einem Bekannten, gegen den er wegen dessen illegalem Glücksspiel etwas in der Hand hat. Die Angelegenheit scheint zu Guidos Vorteil geklärt, die Festgesetzten werden laufengelassen. Doch der gerade von einem Kennenlern-Umtrunk mit dem neuen Kriminaloberrat Wolf (Wilfried Blasberg, „Der Fan“) zurückkehrende Thanner weiß nichts davon und verhaftet die Mafiosi auf der Straße. Nun fürchtet man den Zorn Leones… Doch war Guido immer ehrlich zu Schimanski?
„Es kann doch wohl nicht sein, dass Sie um diese Zeit schon wieder betrunken sind!“
Zu Beginn gibt’s ein Wiedersehen mit Schimanskis Adoptivtochter (Vy Nguyen), mit der Schimmi zum Tatort braust. Die beiden Zeugen, ein unheimlich spießiger alter Sack (Gert Burkard, „Didi – Der Doppelgänger“) und eine angepunkte junge Dame (Traute Hoess, „Berlin Alexanderplatz“), sorgen mit ihren Dialogen für Amüsement, doch bei den Ermittlungen im Gaststätten- und Schutzgeldmilieu wird es ernst. Schimmi kooperiert mit einem kleinen Gauner, um die beiden Mafioso-Handlanger rechtswidrig festzuhalten, und muss schließlich sogar versuchen, die Ermittlungen des neuen Vorgesetzten Wolf, einem echten Paragraphenreiter, zu sabotieren. Zwischen Thanner und Schimanski kracht’s bisweilen auch, Schimmi geht gar körperlich auf den triumphierenden Thanner los. Dieser wiederum lernt im Zuge der Ermittlungen in Susi Steuben (Conny Glogger, „Der Glockenkrieg“) eine nette alleinerziehende Dame kennen und verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen. Viel italienisches Temperament bringt zudem Guido ein, insbesondere bei seinem Gefeilsche mit einem Gebrauchtwagenhändler.
Solch humorige Szenen stehen im Kontrast zu einem desillusionierenden Sittenbild der italienischen Gastronomie, zu einer ehemals so herzlichen Freundschaft, die Schimanski neu überdenken muss, und zu einem heftigen Dauerregen, in dem einige Freiluftszenen spielen. Die Verbindung des Todesopfers mit der Schutzgeldthematik entspinnt sich erst nach und nach bzw. gerät zunächst in den Hintergrund, um schließlich für die geschickt platzierte Wendung eine entscheidende Rolle zu spielen. Das ist dramaturgisch wie erzählerisch prima gelöst. Mit seinem permanenten, gestelzten Vorschriftsgequatsche wird sich Neuling Wolf auf Dauer sicherlich keine Freunde machen, im Gegensatz zu jemandem wie Königsberg ist diese Figur jedoch etwas sehr nah an einer reinen Karikatur angelehnt. Als kleine Hommage an italienische Regisseure gehen wiederum Rollennamen wie Federico Leone (von einer Nebenrolle selbst mit Fellini und Sergio in Verbindung gebracht) oder Tessari durch. Und nicht zuletzt ist es der Soundtrack einmal mehr wert, genauer hinzuhören, bringt er doch südländische folkloristische Einflüsse mit und lässt Toni Miccoli am Ende inbrünstig „Mari“ schmettern.
Ein rundum gelungener „Tatort“ also, in dem die Grenzen zwischen Tätern und Opfern, zwischen legal und illegal verschwimmen, der sich auf weder verklärende noch rassistische Weise kritisch mit der italienischen Gemeinschaft auseinandersetzt und dabei deutlich macht, wie sehr man sie doch eigentlich lieben will. Capito?
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
- karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Tatort Dresden: Die Zeit ist gekommen.
Ein Vorbestrafter (zu Unrecht?) wird zum Mordverdächtigen, er und seine Frau möchten nicht, dass er wieder ein paar Jahre im Knast verschwindet, und wollen ihren Sohn as dem Heim holen und abhauen. Doch da sind auch schon die ermittelnden Polizis*innen Gorniak, Schnabel und Winkler mit einem SEK im Schlepptau.
Spannend vom Anfang bis Ende. Erst der Kriminalfall angedacht, dann schnell in den Geiselnahme-Modus, super gefilmt, super gespielt und guter Sound. Und Brambach löst den Fall so richtig cool nebenbei. Eigentlich geht es um zwei Familien, die einfach nur normale Familie sien wllen, was aber nicht geht. Und dann hatte ich noch Schiß, das jetzt das übliche kommt, aber es wird sich glücklicherweise anders entschieden und prima aufgelöst.
Ich mag!
Ein Vorbestrafter (zu Unrecht?) wird zum Mordverdächtigen, er und seine Frau möchten nicht, dass er wieder ein paar Jahre im Knast verschwindet, und wollen ihren Sohn as dem Heim holen und abhauen. Doch da sind auch schon die ermittelnden Polizis*innen Gorniak, Schnabel und Winkler mit einem SEK im Schlepptau.
Spannend vom Anfang bis Ende. Erst der Kriminalfall angedacht, dann schnell in den Geiselnahme-Modus, super gefilmt, super gespielt und guter Sound. Und Brambach löst den Fall so richtig cool nebenbei. Eigentlich geht es um zwei Familien, die einfach nur normale Familie sien wllen, was aber nicht geht. Und dann hatte ich noch Schiß, das jetzt das übliche
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jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
- buxtebrawler
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Tatort: Die Zeit ist gekommen
„Was seid ihr eigentlich für Scheißeltern?“
„Tatort“ Dresden Nr. 8 für Kommissarin Karen Gorniak (Karin Hanczewski), „Tatort“ Nr. 3 für ihre Kollegin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel): Der Fall „Die Zeit ist gekommen“ wurde im Sommer 2019 unter der Regie Stephan Lacants („Fremde Tochter“), der damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte, nach einem Drehbuch Stefanie Veiths und Michael Comtesses gedreht und am 05.04.2020 erstausgestrahlt.
„Täter sind manchmal irrational!“
Familienvater Louis Bürger (Max Riemelt, „Der rote Kakadu“) hatte es nicht leicht: Drei Jahre musste er im Knast absitzen, weil er – nach eigener Aussage – zu Unrecht verurteilt worden war. Nun scheinen sich die Ereignisse zu wiederholen: Vor seinem Haus wird ein Polizist tot aufgefunden, offenbar erschlagen mit dem Baseballschläger Louis‘ zwölfjährigen Sohns Tim (Claude Heinrich, „8 Tage“), der in einem Jugendheim lebt. Gorniak und Winkler verhaften den unter dringendem Tatverdacht stehenden Mann, der sich doch eigentlich zusammen mit Tim und seiner Frau Anna (Katia Fellin, „Supernova“) ein neues, glückliches Leben aufbauen wollte. Nach einer Selbstverletzung in der Untersuchungshaft wird er auf die Krankenstation verlegt, von wo aus er mit Annas Hilfe fliehen kann. Doch als sie Tim aus dem Heim abholen wollen, um sich gemeinsam nach Kroatien abzusetzen, ist die Polizei ihnen bereits auf den Fersen. Die Bürgers verschanzen sich im Heim und nehmen das Personal als Geiseln, während Kripoleiter Michael Schnabel (Martin Brambach) das Gebäude umstellen lässt. Ist Louis der Mörder oder sagt er die Wahrheit, wenn er unschuldig zu sein behauptet? Und wenn er tatsächlich kein Mörder ist: Wird er es in dieser aussichtlosen Lage bleiben…?
Der Film beginnt achronologisch mit seiner schmerzhaftesten Szene: der Selbstverletzung Louis Bürgers in der U-Haft mittels einer angespitzten Zahnbürste, die er sich in Ohr rammt. Die Aufmerksamkeit des Fernsehpublikums dürfte diesem „Tatort“ damit sicher sein, danach geht es zwei Tage in der Zeit zurück und man lernt die Figuren vor dem Todesfall und vor der Verhaftung kennen. Das Ensemble wird erweitert um Louis‘ Schwager Holger Schanski (Karsten Mielke, „Vermisst in Berlin“) und dessen Frau Lilly (Bea Brocks, „Ostfriesensünde“), die ein ambivalentes Verhältnis zu Louis pflegen. Louis Bürger wird als sehr emotionaler, auch aufbrausender Typ charakterisiert, der bei seiner Verhaftung der Verzweiflung nah ist. Zudem existiert nicht nur bei ihm, sondern auch bei seiner Frau ein seit seiner zurückliegenden Verurteilung tiefverwurzeltes Misstrauen in Polizei und Justiz. Aus dieser Konstellation ergibt sich die Geiselnahme, die spontan entsteht und als letzte Möglichkeit angesehen wird, dem Zugriff der Polizei zu entkommen.
Fortan entwickelt sich eine intensiv inszenierte, einige nervenaufreibende Spannungsszenen ausspielende Handlung, bei der die Anspannung aller Involvierten sicht- und spürbar wird. Sommerhitze und Stress produzieren Schweißperlen, die die Kamera ebenso einfängt wie die immer verzweifelter werdende Lage im Kinderheim, aus der immer nervösere Geiselnehmer resultieren – zumal weder Geisel Nico (Emil Belton, „Unter dem Sand“) noch die zunächst von den Bürgers unbemerkten Bewohnerinnen Verena (Emilia Pieske, „Millennials“) und Larissa (Paula Donath, „Burg Schreckenstein“) sich in ihre defensiven Rollen einzufinden gewillt sind. Nico versucht immer wieder, Louis zu überrumpeln, während die Mädchen sich verstecken. Die Einsatzkräfte wiederum versuchen sich am gewagten Spagat zwischen Kontrolle und Deeskalation auf der einen und Beendigung der Situation durch Spezialkräfte auf der anderen Seite.
Der eigentliche Täter lässt sich hingegen recht schnell erahnen, doch die Täterfrage steht nicht im Vordergrund. Stattdessen mischt sich die Spannung mit einer Dramatik, die keine einseitige Parteiergreifung durch das Publikum erlaubt. Die Unberechenbarkeit von Menschen in Extremsituation wird zur großen Unbekannten und die Frage ist, ob es der Polizei gelingen wird, den Fall schnellstmöglich – also noch während der Geiselnahme – zu lösen und das Vertrauen der Bürgers zurückzugewinnen. Max Riemelt meistert dabei die große Herausforderung, Täter und Opfer zugleich zu spielen. Getrieben von der Sehnsucht nach einem besseren Leben und einem echten Neuanfang setzt Louis alles auf eine Karte und profitiert vom sensiblen, besonnenen Umgang der Kripo-Kommissarinnen mit der Situation, die auch bereit sind, eigene Fehler in Kauf nehmen, statt die Verantwortung ans SEK zu übertragen. Dem Realismus bleibt dieser „Tatort“ insofern verpflichtet, als am Ende mitnichten alles eitel Sonnenschein ist. Auch Schüsse fallen und Menschen werden verletzt.
Louis Bürgers Vorstrafe bleibt indes ungeklärt, was genau damals geschehen ist, bleibt diffus. Die Chance, eine größere Geschichte über Justizversagen und was es mit Menschen macht zu erzählen, bleibt leider ungenutzt, der „Tatort“ fokussiert sich ausschließlich auf eine individuelle dysfunktionale Familienkonstellation und entlässt Polizei und Justiz größtenteils aus der Verantwortung, indem sie selbst zu einer Art Opfer der verqueren Situation stilisiert werden. Dennoch ist „Die Zeit ist gekommen“ ein in sich stimmiger, fesselnder und hochemotionaler Krimi/Thriller geworden, der schauspielerisch nicht nur vom expressiven Riemelt lebt, sondern mit seinem vollen Ensemble zu überzeugen weiß, insbesondere auch mit der auf sehr natürliche Weise attraktiven, mimische Zwischentöne beherrschenden Katia Fellin, die sich hiermit für weitere größere Rollen empfiehlt.
„Was seid ihr eigentlich für Scheißeltern?“
„Tatort“ Dresden Nr. 8 für Kommissarin Karen Gorniak (Karin Hanczewski), „Tatort“ Nr. 3 für ihre Kollegin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel): Der Fall „Die Zeit ist gekommen“ wurde im Sommer 2019 unter der Regie Stephan Lacants („Fremde Tochter“), der damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte, nach einem Drehbuch Stefanie Veiths und Michael Comtesses gedreht und am 05.04.2020 erstausgestrahlt.
„Täter sind manchmal irrational!“
Familienvater Louis Bürger (Max Riemelt, „Der rote Kakadu“) hatte es nicht leicht: Drei Jahre musste er im Knast absitzen, weil er – nach eigener Aussage – zu Unrecht verurteilt worden war. Nun scheinen sich die Ereignisse zu wiederholen: Vor seinem Haus wird ein Polizist tot aufgefunden, offenbar erschlagen mit dem Baseballschläger Louis‘ zwölfjährigen Sohns Tim (Claude Heinrich, „8 Tage“), der in einem Jugendheim lebt. Gorniak und Winkler verhaften den unter dringendem Tatverdacht stehenden Mann, der sich doch eigentlich zusammen mit Tim und seiner Frau Anna (Katia Fellin, „Supernova“) ein neues, glückliches Leben aufbauen wollte. Nach einer Selbstverletzung in der Untersuchungshaft wird er auf die Krankenstation verlegt, von wo aus er mit Annas Hilfe fliehen kann. Doch als sie Tim aus dem Heim abholen wollen, um sich gemeinsam nach Kroatien abzusetzen, ist die Polizei ihnen bereits auf den Fersen. Die Bürgers verschanzen sich im Heim und nehmen das Personal als Geiseln, während Kripoleiter Michael Schnabel (Martin Brambach) das Gebäude umstellen lässt. Ist Louis der Mörder oder sagt er die Wahrheit, wenn er unschuldig zu sein behauptet? Und wenn er tatsächlich kein Mörder ist: Wird er es in dieser aussichtlosen Lage bleiben…?
Der Film beginnt achronologisch mit seiner schmerzhaftesten Szene: der Selbstverletzung Louis Bürgers in der U-Haft mittels einer angespitzten Zahnbürste, die er sich in Ohr rammt. Die Aufmerksamkeit des Fernsehpublikums dürfte diesem „Tatort“ damit sicher sein, danach geht es zwei Tage in der Zeit zurück und man lernt die Figuren vor dem Todesfall und vor der Verhaftung kennen. Das Ensemble wird erweitert um Louis‘ Schwager Holger Schanski (Karsten Mielke, „Vermisst in Berlin“) und dessen Frau Lilly (Bea Brocks, „Ostfriesensünde“), die ein ambivalentes Verhältnis zu Louis pflegen. Louis Bürger wird als sehr emotionaler, auch aufbrausender Typ charakterisiert, der bei seiner Verhaftung der Verzweiflung nah ist. Zudem existiert nicht nur bei ihm, sondern auch bei seiner Frau ein seit seiner zurückliegenden Verurteilung tiefverwurzeltes Misstrauen in Polizei und Justiz. Aus dieser Konstellation ergibt sich die Geiselnahme, die spontan entsteht und als letzte Möglichkeit angesehen wird, dem Zugriff der Polizei zu entkommen.
Fortan entwickelt sich eine intensiv inszenierte, einige nervenaufreibende Spannungsszenen ausspielende Handlung, bei der die Anspannung aller Involvierten sicht- und spürbar wird. Sommerhitze und Stress produzieren Schweißperlen, die die Kamera ebenso einfängt wie die immer verzweifelter werdende Lage im Kinderheim, aus der immer nervösere Geiselnehmer resultieren – zumal weder Geisel Nico (Emil Belton, „Unter dem Sand“) noch die zunächst von den Bürgers unbemerkten Bewohnerinnen Verena (Emilia Pieske, „Millennials“) und Larissa (Paula Donath, „Burg Schreckenstein“) sich in ihre defensiven Rollen einzufinden gewillt sind. Nico versucht immer wieder, Louis zu überrumpeln, während die Mädchen sich verstecken. Die Einsatzkräfte wiederum versuchen sich am gewagten Spagat zwischen Kontrolle und Deeskalation auf der einen und Beendigung der Situation durch Spezialkräfte auf der anderen Seite.
Der eigentliche Täter lässt sich hingegen recht schnell erahnen, doch die Täterfrage steht nicht im Vordergrund. Stattdessen mischt sich die Spannung mit einer Dramatik, die keine einseitige Parteiergreifung durch das Publikum erlaubt. Die Unberechenbarkeit von Menschen in Extremsituation wird zur großen Unbekannten und die Frage ist, ob es der Polizei gelingen wird, den Fall schnellstmöglich – also noch während der Geiselnahme – zu lösen und das Vertrauen der Bürgers zurückzugewinnen. Max Riemelt meistert dabei die große Herausforderung, Täter und Opfer zugleich zu spielen. Getrieben von der Sehnsucht nach einem besseren Leben und einem echten Neuanfang setzt Louis alles auf eine Karte und profitiert vom sensiblen, besonnenen Umgang der Kripo-Kommissarinnen mit der Situation, die auch bereit sind, eigene Fehler in Kauf nehmen, statt die Verantwortung ans SEK zu übertragen. Dem Realismus bleibt dieser „Tatort“ insofern verpflichtet, als am Ende mitnichten alles eitel Sonnenschein ist. Auch Schüsse fallen und Menschen werden verletzt.
Louis Bürgers Vorstrafe bleibt indes ungeklärt, was genau damals geschehen ist, bleibt diffus. Die Chance, eine größere Geschichte über Justizversagen und was es mit Menschen macht zu erzählen, bleibt leider ungenutzt, der „Tatort“ fokussiert sich ausschließlich auf eine individuelle dysfunktionale Familienkonstellation und entlässt Polizei und Justiz größtenteils aus der Verantwortung, indem sie selbst zu einer Art Opfer der verqueren Situation stilisiert werden. Dennoch ist „Die Zeit ist gekommen“ ein in sich stimmiger, fesselnder und hochemotionaler Krimi/Thriller geworden, der schauspielerisch nicht nur vom expressiven Riemelt lebt, sondern mit seinem vollen Ensemble zu überzeugen weiß, insbesondere auch mit der auf sehr natürliche Weise attraktiven, mimische Zwischentöne beherrschenden Katia Fellin, die sich hiermit für weitere größere Rollen empfiehlt.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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- karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Tatort Frankfurt: Die Guten und die Bösen
Das Präsidium wird umgebaut, gleichzeitig ist eine Teambuilderin vor Ort, Grund genug für Janneke und Brix sich ordentlich die Kante zu geben, um irgendwann nach u. a. Rammstein-Karaoke vor Ort einzuschlummern. Geweckt werden sie von Matzerath (Peter Lohmeyer), der von einem Mord berichtet und die beiden zum Tatort fährt.
Nach kurzem wundern der beiden Kommissare und erster in Augenscheinnahme gesteht Matzerath den Mord.
Eine schöne Konstellation: Die beiden dauerverkaterten Kommissare, ein Mörder, der Wert auf die Richtigkeit des Systems legt und nichts zu seiner Strafmilderung beiträgt. Ein Gebäude im Umbau, überall fehlerhaft, labyrinthisch, Wasser tropft und bricht ein, und im Keller sitzt eine Pensionierte mit den ungelösten Fällen (Gespielt von Hannelore Elsner in ihrer letzten TV-Rolle, angenehm schrullig angelehnt.
So spielt das Gebäude eine eigene Rolle, ein bißchen mit dem Holzhammer aber stimmig.
Auch Lohmeyer als eigentlich straighter Bulle sehr toll. Wie er immer wieder den beiden hilft, Kopfschmerztabeletten ausgibt, Zigarette ausgibt usw. Während die beiden Kommissare eigentlich die ganze Zeit neben ihren Kater auch den Sinn der Polizeiarbeit hinterfragen, Brix wohl noch mit etwas anderen zu kämpfen hat, und sogar kleine Auftritte von der Teambuilderin und des Assistenten shr gelungen sind. Und ständig denkt man, das da noch ein Twist kommt, das Buch spielt mit unsren Tatortsehgewohnheiten.
Die Musik zwischendurch schon Bohren &tCoG-mäßig, toll.
Gut.
Das Präsidium wird umgebaut, gleichzeitig ist eine Teambuilderin vor Ort, Grund genug für Janneke und Brix sich ordentlich die Kante zu geben, um irgendwann nach u. a. Rammstein-Karaoke vor Ort einzuschlummern. Geweckt werden sie von Matzerath (Peter Lohmeyer), der von einem Mord berichtet und die beiden zum Tatort fährt.
Nach kurzem wundern der beiden Kommissare und erster in Augenscheinnahme gesteht Matzerath den Mord.
Eine schöne Konstellation: Die beiden dauerverkaterten Kommissare, ein Mörder, der Wert auf die Richtigkeit des Systems legt und nichts zu seiner Strafmilderung beiträgt. Ein Gebäude im Umbau, überall fehlerhaft, labyrinthisch, Wasser tropft und bricht ein, und im Keller sitzt eine Pensionierte mit den ungelösten Fällen (Gespielt von Hannelore Elsner in ihrer letzten TV-Rolle, angenehm schrullig angelehnt.
So spielt das Gebäude eine eigene Rolle, ein bißchen mit dem Holzhammer aber stimmig.
Auch Lohmeyer als eigentlich straighter Bulle sehr toll. Wie er immer wieder den beiden hilft, Kopfschmerztabeletten ausgibt, Zigarette ausgibt usw. Während die beiden Kommissare eigentlich die ganze Zeit neben ihren Kater auch den Sinn der Polizeiarbeit hinterfragen, Brix wohl noch mit etwas anderen zu kämpfen hat, und sogar kleine Auftritte von der Teambuilderin und des Assistenten shr gelungen sind. Und ständig denkt man, das da noch ein Twist kommt, das Buch spielt mit unsren Tatortsehgewohnheiten.
Die Musik zwischendurch schon Bohren &tCoG-mäßig, toll.
Gut.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Tatort: Doppelspiel
„Du denkst auch nur ans Saufen, Schimanski!“
Mit der Episode „Doppelspiel“ konnte die Duisburger „Tatort“-Reihe um die Kommissare Horst Schimanski (Götz George) und Christian Thanner (Eberhard Feik) ein kleines Jubiläum feiern: Der im Frühjahr 1984 gedrehte und ein knappes Jahr später erstausgestrahlte Fall war ihr zehnter. Die Regie ließ sich Schimanski-Miterfinder Hajo Gies abermals nicht nehmen, das Drehbuch stammte diesmal von Christoph Fromm.
„Wir sind Soldaten der Liebe.“
Jutta Stark wird tot vor ihrem Wohnblock aufgefunden. Die psychisch kranke Frau hatte sich anscheinend in selbstmörderischer Absicht heruntergestürzt, nachdem ihr Mann (Wolf-Dietrich Sprenger, „Kiez – Aufstieg und Fall eines Luden“) sie aus dem Krankenhaus geholt hatte, in dem sie sich nach einem Zusammenbruch hatte behandeln lassen. Zum Zeitpunkt ihres Todes habe Herr Stark einen Termin mit Paul Gassmann (Franz Buchrieser, „Heller Wahn“), einem Sektenguru der „Kirche der Gemeinschaft“, gehabt, die u.a. damit wirbt, Drogensüchtige heilen zu können. Es stellt sich heraus, dass die Starks Angehörige der Sekte waren bzw. sind. Jutta hatte dort ihre Kokainabhängigkeit behandeln lassen, sei jedoch tablettensüchtig geworden. Die Duisburger Kripo schaut sich die radikal antikommunistische Sekte genauer an und befragt Gassmann, der Herrn Starks Alibi nicht bestätigt. Es stellt sich heraus, dass Stark seine Frau zusammen mit der Therapeutin Ann Silenski (Angelika Bartsch, „Eisenhans“), ebenfalls Mitglied der Sekte, gegen den ausdrücklichen Rat des behandelnden Arztes aus dem Krankenhaus geholt hatte. Als die Spurensicherung feststellt, dass Jutta Stark gar nicht selbst gesprungen sein kann, erhärtet sich der Verdacht, es hier mit einem Mordfall zu tun zu haben, bei dem die Sekte eine Rolle spielt…
„Satan hat sie wieder süchtig gemacht…“
Die Sekte präsentiert sich als ebenso „spirituelle“ wie wehrhafte „Religionsgemeinschaft“, trainieren ihre Mitglieder doch fleißig Kampfsport. Ansonsten wirken sie sediert, wie in Trance, beinahe roboterhaft. Ihr wahres Ziel scheint sehr weltlichen Charakters zu sein, mutmaßlich die Unterstützung des bewaffneten Kampfs gegen Nordkorea. Dahinter steckt mindestens ein finanzstarkes Unternehmen, und die politische Ausrichtung dürfte, so mutmaßt man bei der Kripo, der Grund dafür sein, weshalb die Sekte Anerkennung und Unterstützung durch Staaten wie die BRD bekommt. Ihre hirngewaschenen gefügigen Mitglieder hat sie jedenfalls bestens im Griff: Nach seiner Verhaftung stürzt sich Herr Stark spektakulär aus einem Fenster durch ein Glasvordach und flieht verletzt per Kfz, woraus eine schöne Verfolgungsjagd entbrennt – was den Reigen der Actionszenen dieses „Tatorts“ eröffnet.
„Sie sollten mal so richtig auf die Schnauze fallen!“
Schimmi ermittelt tanzend in der Disco „Black Jack“, die ebenfalls mit der Disco verbandelt ist, Thanner und Hänschen (Chiem van Houweninge) durchwühlen derweil Silenskis Praxis und finden eine weitere Spur, die zum Schiff „Linda Horn“ führt. Und während Silenski an der Sekte zu zweifeln beginnt, als sie erkennt, wie sehr sie in Drogenhandel und Waffengeschäfte verstrickt ist, liefern sich Andere tödliche Schießereien mit der Polizei, woraufhin die Kommissare zu Königsberg (Ulrich Matschoss) zum Rapport müssen. Damit ist natürlich nicht Schluss, Schimmi hechtet in den Kofferraum eines fahrenden Busses, eine weitere Schießerei sorgt für akute Lebensgefahr auf allen Seiten und ein inszenatorisch starkes Ende, das die Schizophrenie und Verlogenheit der Sekte noch einmal versinnbildlicht, bringt zumindest diesen Fall zu einem Ende – nachdem Schimanskis Berufsauffassung manch Spießbürger einmal mehr Schnappatmung beschert haben dürfte.
Realer Hintergrund dieser fiktionalen Handlung dürfte die Moon-Sekte, die sich selbst „Vereinigungskirche“ nennt, gewesen sein, die noch immer ihr Unwesen treibt und beschämenderweise tatsächlich (nicht nur) in der BRD als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde und dementsprechende Freiheiten genießt. Ob sie, wie natürlich etwas überzeichnet in diesem „Tatort“ dargestellt, ihre Mitglieder erst drogenabhängig macht und sie dann zu heilen vorgibt, um sie zu einer willenlosen Herde zu formen, weiß ich nicht. Die Moon-Sekte jedenfalls ist „exemplarisch für die Instrumentalisierung der Religion für die Durchsetzung politischer Ziele“, wie die baden-württembergische Landesregierung einst zu Protokoll gab.
Die vielen miteinander verwobenen Ereignisse und Personalien dieses „Tatorts“ hätten durchaus einem Mehrteiler zur Ehre gereicht. Relativ konzentriert am Ball zu bleiben erweist sich als sinnvoll, die gelungenen Actionszenen lockern die Komplexität des Falls aber ebenso auf wie die verspielte Kamera des späteren „Stalingrad“-Regisseurs Joseph Vilsmaier, die in Kombination mit David Knopflers Rocksongs „Double Dealing“ und „Heart to Heart“ diesen „Tatort“ auch zu einem audiovisuellen Erlebnis macht (wenn nicht gerade der bisweilen etwas arg verhallte Dialogton dominiert, da wäre etwas Nachjustierung wünschenswert gewesen). Für diese offene Auseinandersetzung mit miesen Sekten und den Gefahren, die von ihnen ausgehen, vergebe ich 7,5 von 10 Ohrfeigen an New-Age-Spinner(innen), Esoterik-Schwubler(innen) und andere weltfremde Naivlinge, zeige Sektengründer Sun Myung Moon und all seinen Kolleginnen und Kollegen den Stinkefinger und sende beste Grüße nach Duisburg.
„Du denkst auch nur ans Saufen, Schimanski!“
Mit der Episode „Doppelspiel“ konnte die Duisburger „Tatort“-Reihe um die Kommissare Horst Schimanski (Götz George) und Christian Thanner (Eberhard Feik) ein kleines Jubiläum feiern: Der im Frühjahr 1984 gedrehte und ein knappes Jahr später erstausgestrahlte Fall war ihr zehnter. Die Regie ließ sich Schimanski-Miterfinder Hajo Gies abermals nicht nehmen, das Drehbuch stammte diesmal von Christoph Fromm.
„Wir sind Soldaten der Liebe.“
Jutta Stark wird tot vor ihrem Wohnblock aufgefunden. Die psychisch kranke Frau hatte sich anscheinend in selbstmörderischer Absicht heruntergestürzt, nachdem ihr Mann (Wolf-Dietrich Sprenger, „Kiez – Aufstieg und Fall eines Luden“) sie aus dem Krankenhaus geholt hatte, in dem sie sich nach einem Zusammenbruch hatte behandeln lassen. Zum Zeitpunkt ihres Todes habe Herr Stark einen Termin mit Paul Gassmann (Franz Buchrieser, „Heller Wahn“), einem Sektenguru der „Kirche der Gemeinschaft“, gehabt, die u.a. damit wirbt, Drogensüchtige heilen zu können. Es stellt sich heraus, dass die Starks Angehörige der Sekte waren bzw. sind. Jutta hatte dort ihre Kokainabhängigkeit behandeln lassen, sei jedoch tablettensüchtig geworden. Die Duisburger Kripo schaut sich die radikal antikommunistische Sekte genauer an und befragt Gassmann, der Herrn Starks Alibi nicht bestätigt. Es stellt sich heraus, dass Stark seine Frau zusammen mit der Therapeutin Ann Silenski (Angelika Bartsch, „Eisenhans“), ebenfalls Mitglied der Sekte, gegen den ausdrücklichen Rat des behandelnden Arztes aus dem Krankenhaus geholt hatte. Als die Spurensicherung feststellt, dass Jutta Stark gar nicht selbst gesprungen sein kann, erhärtet sich der Verdacht, es hier mit einem Mordfall zu tun zu haben, bei dem die Sekte eine Rolle spielt…
„Satan hat sie wieder süchtig gemacht…“
Die Sekte präsentiert sich als ebenso „spirituelle“ wie wehrhafte „Religionsgemeinschaft“, trainieren ihre Mitglieder doch fleißig Kampfsport. Ansonsten wirken sie sediert, wie in Trance, beinahe roboterhaft. Ihr wahres Ziel scheint sehr weltlichen Charakters zu sein, mutmaßlich die Unterstützung des bewaffneten Kampfs gegen Nordkorea. Dahinter steckt mindestens ein finanzstarkes Unternehmen, und die politische Ausrichtung dürfte, so mutmaßt man bei der Kripo, der Grund dafür sein, weshalb die Sekte Anerkennung und Unterstützung durch Staaten wie die BRD bekommt. Ihre hirngewaschenen gefügigen Mitglieder hat sie jedenfalls bestens im Griff: Nach seiner Verhaftung stürzt sich Herr Stark spektakulär aus einem Fenster durch ein Glasvordach und flieht verletzt per Kfz, woraus eine schöne Verfolgungsjagd entbrennt – was den Reigen der Actionszenen dieses „Tatorts“ eröffnet.
„Sie sollten mal so richtig auf die Schnauze fallen!“
Schimmi ermittelt tanzend in der Disco „Black Jack“, die ebenfalls mit der Disco verbandelt ist, Thanner und Hänschen (Chiem van Houweninge) durchwühlen derweil Silenskis Praxis und finden eine weitere Spur, die zum Schiff „Linda Horn“ führt. Und während Silenski an der Sekte zu zweifeln beginnt, als sie erkennt, wie sehr sie in Drogenhandel und Waffengeschäfte verstrickt ist, liefern sich Andere tödliche Schießereien mit der Polizei, woraufhin die Kommissare zu Königsberg (Ulrich Matschoss) zum Rapport müssen. Damit ist natürlich nicht Schluss, Schimmi hechtet in den Kofferraum eines fahrenden Busses, eine weitere Schießerei sorgt für akute Lebensgefahr auf allen Seiten und ein inszenatorisch starkes Ende, das die Schizophrenie und Verlogenheit der Sekte noch einmal versinnbildlicht, bringt zumindest diesen Fall zu einem Ende – nachdem Schimanskis Berufsauffassung manch Spießbürger einmal mehr Schnappatmung beschert haben dürfte.
Realer Hintergrund dieser fiktionalen Handlung dürfte die Moon-Sekte, die sich selbst „Vereinigungskirche“ nennt, gewesen sein, die noch immer ihr Unwesen treibt und beschämenderweise tatsächlich (nicht nur) in der BRD als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde und dementsprechende Freiheiten genießt. Ob sie, wie natürlich etwas überzeichnet in diesem „Tatort“ dargestellt, ihre Mitglieder erst drogenabhängig macht und sie dann zu heilen vorgibt, um sie zu einer willenlosen Herde zu formen, weiß ich nicht. Die Moon-Sekte jedenfalls ist „exemplarisch für die Instrumentalisierung der Religion für die Durchsetzung politischer Ziele“, wie die baden-württembergische Landesregierung einst zu Protokoll gab.
Die vielen miteinander verwobenen Ereignisse und Personalien dieses „Tatorts“ hätten durchaus einem Mehrteiler zur Ehre gereicht. Relativ konzentriert am Ball zu bleiben erweist sich als sinnvoll, die gelungenen Actionszenen lockern die Komplexität des Falls aber ebenso auf wie die verspielte Kamera des späteren „Stalingrad“-Regisseurs Joseph Vilsmaier, die in Kombination mit David Knopflers Rocksongs „Double Dealing“ und „Heart to Heart“ diesen „Tatort“ auch zu einem audiovisuellen Erlebnis macht (wenn nicht gerade der bisweilen etwas arg verhallte Dialogton dominiert, da wäre etwas Nachjustierung wünschenswert gewesen). Für diese offene Auseinandersetzung mit miesen Sekten und den Gefahren, die von ihnen ausgehen, vergebe ich 7,5 von 10 Ohrfeigen an New-Age-Spinner(innen), Esoterik-Schwubler(innen) und andere weltfremde Naivlinge, zeige Sektengründer Sun Myung Moon und all seinen Kolleginnen und Kollegen den Stinkefinger und sende beste Grüße nach Duisburg.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Tatort: Das Haus im Wald
„Vögel, die morgens singen, frisst abends die Katz.“
Der elfte Duisburger „Tatort“ um die Kommissare Schimanski (Götz George) und Thanner (Eberhard Feik) wurde im Sommer 1985 erstausgestrahlt. Das Drehbuch stammt von Peter Adam, der auch Regie führte und damit seinen vierten und letzten Beitrag zu diesem Ermittlerduo leistete.
„Sagen Sie Schimanski, dass er ein Arschloch sei!“
Eine ihm unbekannte Frau namens Ulla (Christiane Lemm, „Bambule“) bittet Schimanski nach Feierabend um ein konspiratives Treffen in der „Bumerang“-Bar. Schimanski lässt sich darauf ein. Sie berichtet ihm, dass ihr Freund Michael „Mungo“ Mangold (Nicolas Brieger, „Die Reise nach Wien“), ein investigativer Journalist, plötzlich verschwunden sei, nachdem er einer heißen Sache auf der Spur gewesen sei. Entsprechende Beweismittel horte sie im gemeinsamen Zuhause, weshalb sie Schimanski zum abgelegenen Haus in Bruckhausen mitnimmt. Ulla macht jedoch einen etwas konfusen Eindruck, findet die Beweismittel zunächst nicht und Telefon und Auto versagen auch noch den Dienst, sodass Schimanski am nächsten Morgen nicht wegkommt – dabei hat er einen wichtigen Gerichtstermin. Plötzlich wird auf Ulla und Schimanski geschossen, woraufhin sich beide im Haus verschanzen müssen. Mit Eiermann Franz (Dominic Raacke, „Die Rache der Kannibalen“) stößt ein Dritter hinzu, der verletzt wird und im Haus um sein Leben bangen muss. Will man Ullas Freund Mungo ans Leder? Oder möchte jemand verhindern, dass Schimanski vor Gericht als Hauptbelastungszeuge in einem Mordfall aussagt?
„Wenn du ‘n Bulle bist, bin ich Ronald Reagan!“
Amüsanterweise wirkt es in der Kneipe auf die anderen Anwesenden so, als wolle Ulla Schimanski abschleppen. Schimmi holt erst mal ein paar Dosen Bier am Büdchen und fährt skeptisch bleibend mit Ulla mit. Als er schließlich bei ihr in Bruckhausen festsitzt, darf man Spekulationen anstellen, ob sich das Szenario womöglich in Richtung „Misery“ verschiebt oder Ulla ihn schlicht in eine Falle gelockt hat. Das einsetzende Belagerungsszenario mit einem bzw. mehreren lange Zeit nahezu unsichtbaren Gegnern lässt wiederum Erinnerungen an Carpenters „Assault – Anschlag bei Nacht“ aufkommen, den Peter Adam ganz bestimmt gesehen hatte. Das ist recht spannend inszeniert und bleibt es auch, als mit Franz, kurioserweise vom späteren Berliner „Tatort“-Ermittler Dominic Raacke gespielt, eine weitere Figur hinzustößt und sich angesichts der Situation mittels scharfer Schusswaffen zur Wehr setzen muss. Solche Schusswechsel sorgen ebenso für Action-Spitzen wie die spektakuläre Stuntszenze, in der Schimmi mit einem Motorrad verunfallt und angeschossen wird.
Bei der Polizei, bei der niemand von Schimanskis prekärer Lage weiß, übt man sich derweil in Kompetenzgerangel, an dem sich federführend Nasig (Rolf Zacher, „Der Formel Eins Film“) beteiligt, der sich nicht in die eigenen Ermittlungen im Fall Mangold pfuschen lassen will. Thanner jedoch versucht beharrlich, seinen Kollegen ausfindig zu machen und ermittelt im Umfeld der „Bumerang“-Bar. Mit dem Auftauchen des Gangsters Sonnys (András Fricsay, „Der Rekord“) auf Ullas Grundstück erhält die Bedrohung schließlich ein Gesicht und ein Motiv. Dem ungesund verrückt und gefährlich gewaltbereit anmutenden, mit Lust zur Überzeichnung von András Fricsay gemimten Blondling ist zu entnehmen, worum es wirklich geht, sodass sich die Geschichte nach und nach entspinnt. Schimanski nennt er stets einen „Kaffer“ und nimmt ihm zunächst gar nicht ab, dass es sich bei ihm um einen Bullen handelt…
Das Ambiente eines abgeschieden an einem Waldgebiet liegenden, ein Gefühl von Isolation und Ausgeliefertsein vermittelnden Hauses geht zu Ungunsten des urbanen Ruhrpott-Lokalkolorits, das so viele andere Duisburger „Tatorte“ ausmacht, stellt aber zugleich eine reizvolle Abwechslung dar, aus der Peter Adam einiges an unbehaglicher Stimmung herauskitzelt. Das Verhältnis zwischen Schimanski, Ulla und auch Franz bleibt stets ambivalent, ein gewisses Maß an Misstrauen untereinander bleibt bestehen und macht aus der Situation des ungleichen Trios eine Art Kammerspiel mit psychologischer Komponente. Schade ist, dass man über Mungo und seine Beweggründe kaum etwas erfährt – er lebt quasi nur in den Erzählungen anderer, die alle ein unterschiedliches Bild von ihm haben und weitertragen. Dieses Ungreifbare, Diffuse, das ihm dadurch anhaftet, passt aber wiederum zu diesem stilistisch aus der Reihe fallenden „Tatort“.
Trivium: Es gibt zwei Querverbindungen zu Thomas Gottschalk: András Fricsay hatte ein Jahr zuvor in „Zwei Nasen tanken Super“ mitgespielt und das Waldhaus befindet sich eigentlich im bayrischen Inning, wo es einst von Gottschalk bewohnt wurde. (Quelle: Wikipedia)
„Vögel, die morgens singen, frisst abends die Katz.“
Der elfte Duisburger „Tatort“ um die Kommissare Schimanski (Götz George) und Thanner (Eberhard Feik) wurde im Sommer 1985 erstausgestrahlt. Das Drehbuch stammt von Peter Adam, der auch Regie führte und damit seinen vierten und letzten Beitrag zu diesem Ermittlerduo leistete.
„Sagen Sie Schimanski, dass er ein Arschloch sei!“
Eine ihm unbekannte Frau namens Ulla (Christiane Lemm, „Bambule“) bittet Schimanski nach Feierabend um ein konspiratives Treffen in der „Bumerang“-Bar. Schimanski lässt sich darauf ein. Sie berichtet ihm, dass ihr Freund Michael „Mungo“ Mangold (Nicolas Brieger, „Die Reise nach Wien“), ein investigativer Journalist, plötzlich verschwunden sei, nachdem er einer heißen Sache auf der Spur gewesen sei. Entsprechende Beweismittel horte sie im gemeinsamen Zuhause, weshalb sie Schimanski zum abgelegenen Haus in Bruckhausen mitnimmt. Ulla macht jedoch einen etwas konfusen Eindruck, findet die Beweismittel zunächst nicht und Telefon und Auto versagen auch noch den Dienst, sodass Schimanski am nächsten Morgen nicht wegkommt – dabei hat er einen wichtigen Gerichtstermin. Plötzlich wird auf Ulla und Schimanski geschossen, woraufhin sich beide im Haus verschanzen müssen. Mit Eiermann Franz (Dominic Raacke, „Die Rache der Kannibalen“) stößt ein Dritter hinzu, der verletzt wird und im Haus um sein Leben bangen muss. Will man Ullas Freund Mungo ans Leder? Oder möchte jemand verhindern, dass Schimanski vor Gericht als Hauptbelastungszeuge in einem Mordfall aussagt?
„Wenn du ‘n Bulle bist, bin ich Ronald Reagan!“
Amüsanterweise wirkt es in der Kneipe auf die anderen Anwesenden so, als wolle Ulla Schimanski abschleppen. Schimmi holt erst mal ein paar Dosen Bier am Büdchen und fährt skeptisch bleibend mit Ulla mit. Als er schließlich bei ihr in Bruckhausen festsitzt, darf man Spekulationen anstellen, ob sich das Szenario womöglich in Richtung „Misery“ verschiebt oder Ulla ihn schlicht in eine Falle gelockt hat. Das einsetzende Belagerungsszenario mit einem bzw. mehreren lange Zeit nahezu unsichtbaren Gegnern lässt wiederum Erinnerungen an Carpenters „Assault – Anschlag bei Nacht“ aufkommen, den Peter Adam ganz bestimmt gesehen hatte. Das ist recht spannend inszeniert und bleibt es auch, als mit Franz, kurioserweise vom späteren Berliner „Tatort“-Ermittler Dominic Raacke gespielt, eine weitere Figur hinzustößt und sich angesichts der Situation mittels scharfer Schusswaffen zur Wehr setzen muss. Solche Schusswechsel sorgen ebenso für Action-Spitzen wie die spektakuläre Stuntszenze, in der Schimmi mit einem Motorrad verunfallt und angeschossen wird.
Bei der Polizei, bei der niemand von Schimanskis prekärer Lage weiß, übt man sich derweil in Kompetenzgerangel, an dem sich federführend Nasig (Rolf Zacher, „Der Formel Eins Film“) beteiligt, der sich nicht in die eigenen Ermittlungen im Fall Mangold pfuschen lassen will. Thanner jedoch versucht beharrlich, seinen Kollegen ausfindig zu machen und ermittelt im Umfeld der „Bumerang“-Bar. Mit dem Auftauchen des Gangsters Sonnys (András Fricsay, „Der Rekord“) auf Ullas Grundstück erhält die Bedrohung schließlich ein Gesicht und ein Motiv. Dem ungesund verrückt und gefährlich gewaltbereit anmutenden, mit Lust zur Überzeichnung von András Fricsay gemimten Blondling ist zu entnehmen, worum es wirklich geht, sodass sich die Geschichte nach und nach entspinnt. Schimanski nennt er stets einen „Kaffer“ und nimmt ihm zunächst gar nicht ab, dass es sich bei ihm um einen Bullen handelt…
Das Ambiente eines abgeschieden an einem Waldgebiet liegenden, ein Gefühl von Isolation und Ausgeliefertsein vermittelnden Hauses geht zu Ungunsten des urbanen Ruhrpott-Lokalkolorits, das so viele andere Duisburger „Tatorte“ ausmacht, stellt aber zugleich eine reizvolle Abwechslung dar, aus der Peter Adam einiges an unbehaglicher Stimmung herauskitzelt. Das Verhältnis zwischen Schimanski, Ulla und auch Franz bleibt stets ambivalent, ein gewisses Maß an Misstrauen untereinander bleibt bestehen und macht aus der Situation des ungleichen Trios eine Art Kammerspiel mit psychologischer Komponente. Schade ist, dass man über Mungo und seine Beweggründe kaum etwas erfährt – er lebt quasi nur in den Erzählungen anderer, die alle ein unterschiedliches Bild von ihm haben und weitertragen. Dieses Ungreifbare, Diffuse, das ihm dadurch anhaftet, passt aber wiederum zu diesem stilistisch aus der Reihe fallenden „Tatort“.
Trivium: Es gibt zwei Querverbindungen zu Thomas Gottschalk: András Fricsay hatte ein Jahr zuvor in „Zwei Nasen tanken Super“ mitgespielt und das Waldhaus befindet sich eigentlich im bayrischen Inning, wo es einst von Gottschalk bewohnt wurde. (Quelle: Wikipedia)
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Tatort Folge 242: Kameraden
Erscheinungsjahr: 1991
Kommissar: Carlucci
Ort: Tatort Bern
Erscheinungsjahr: 1991
Kommissar: Carlucci
Ort: Tatort Bern
Kurz und knapp (Schreiben ist Silber. Sichten ist Gold!): Rechtsextreme töten in Bern einen Südafrikaner. Die Zeugin wird emsig eingeschüchtert und Kommissar Carlucci gibt sich als ehemaliger, stramm rechter, Fremdenlegionär aus, um die Mörder sowie seine Radikalisierer dingfest zu machen.
Hat mir bei der Erstsichtung (1991) nur bedingt gefallen. Heute bezeichne ich diesen düsteren Schweizer Tatort als polyvalentes Kleinod. Klasse!
Hat mir bei der Erstsichtung (1991) nur bedingt gefallen. Heute bezeichne ich diesen düsteren Schweizer Tatort als polyvalentes Kleinod. Klasse!
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Tatort: National feminin
„Dieser Fall ist extrem heikel.“
Der dritte „Tatort“ des Göttinger Ermittlungsduos Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) führt ins neurechte Milieu. Das Drehbuch Daniela Baumgärtls und Florian Oellers verfilmte Franziska Buch, die zuvor bereits mit der Inszenierung des ersten Lindholm/Schmitz-Falls „Das verschwundene Kind“ in der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütiert hatte. Am 26. April 2020 erfolgte die Erstausstrahlung in der ARD.
„Sie sind eine verachtenswerte Frau!“
Juristin und Uni-Dozentin Sophie Behrens (Jenny Schily, „Die Stille nach dem Schuss“) hat sich in den 1980ern und ‘90ern selbst an der feministischen Bewegung beteiligt, schleudert jetzt jedoch Standardwerke feministischer Literatur verächtlich ins Auditorium. Längst ist die offen lesbisch lebende Frau mit ihren mittlerweile reaktionären bis rechtsextremistischen Ansichten zum Vorbild für die Neue Rechte geworden, die Behrens‘ Karrieresprung zur Bundesverfassungsrichterin auch als politischen Teilerfolg feiert. Mit Unbehagen verfolgt deren politischer Gegner diese Entwicklung, während Behrens‘ Auftritt an der Universität versucht ein junger Mann einen Farbbeutelanschlag auf sie. Gestoppt wird er jedoch von Behrens‘ studentischer Hilfskraft Marie Jäger (Emilia Schüle, „Simpel“), Mitglied der rechtsextremen „Jungen Bewegung“ und hippe, attraktive Videobloggerin, die pseudofeministische Standpunkte mit ausländer- und islamfeindlicher Propaganda vermischt. Am Abend wird Marie in einem Waldstück getötet, jemand schlitzt ihr die Kehle auf. Die Ermittlungen ergeben, dass Behrens eine Affäre mit Marie hatte und Marie zugleich von einem Stalker verfolgt worden war, eine entsprechende Anzeige gegen Unbekannt liegt der Polizei vor. Für die rechte Szene ist klar: Der Stalker ist der Mörder und die Polizei vertuscht dessen Migrationshintergrund. Während der nationalistische Pöbel das Internet mit Lügen und Hetze überzieht, ermitteln die Kommissarinnen Charlotte Lindholm und Anaïs Schmitz in verschiedene Richtungen und schauen sich die Mitglieder „Jungen Bewegung“ ebenso genauer an wie Maries Privatleben und ihre Beziehung zu Behrens…
Uralte Ressentiments, ein antiquiertes Menschenbild und Rückwärtsgewandtheit bis ins dunkelste Kapitel deutscher Geschichte hinein – verdorbener Wein in neuen Schläuchen ist das, was sog. neurechte Aktivistinnen und Aktivisten populistisch verbreiten und damit den Nährboden für Hass und Gewalt gegen Minderheiten sowie eine vergiftete gesellschaftliche Diskussionskultur schaffen. Dabei geben sich sie sich im krassen Widerspruch dazu demonstrativ modern, hip und jugendlich, führen spektakuläre, aufsehenerregende und medienwirksame Aktionen durch und versuchen, sich als eine Alternative zu präsentieren, die lediglich mit „politisch korrekten Denkverboten“ breche. Tatsächlich findet sich diese Klientel zunehmend auch im bildungsbürgerlichen und studentischen Milieu, wo sie ihrem Wirken einen intellektuellen Anstrich zu geben versucht. In dieses unappetitliche Wespennest sticht dieser „Tatort“. Er integriert nicht nur private Handyvideos des Mordopfers in die audiovisuelle narrative Gestaltung, sondern auch Auszüge aus seinem Videoblog, in dem Marie über Gewaltverbrechen von Immigranten gegen deutsche Frauen schwadroniert, aber geflissentlich verschweigt, wie viele Deutsche in unschöner Regelmäßigkeit Gewalt gegen Frauen ausüben.
Die neurechte Argumentation wird sehr realitätsnah aufgegriffen und verarbeitet, ihre Folgen wie Hass- und Hetzkommentare in sozialen Internet-Netzwerken werden über die Kamerabilder gelegt. Moderne Medien und ebensolche Technik spielen generell entscheidende Rollen in diesem Fall: So flucht die Polizei über den von Marie verwendeten Krypto-Messenger und – und das ist einer der größten Schwachpunkte dieses „Tatorts“ – kann den Fall letztlich nur lösen, indem sie diesen geknackt bekommt. Nein, verehrte Drehbuchautor(inn)en, Polizeiarbeit muss auch ohne solche Maßnahmen funktionieren und es ist gut und sinnvoll, dass es verschlüsselte Kommunikationsmittel gibt – auch wenn sie mitunter von Verbrecher(inne)n missbraucht werden.
Vieles verlagert dieser „Tatort“ auf die persönliche Ebene. So stellt sich heraus, dass nicht nur Maries Beziehung zu Behrens eine Rolle spielt, sondern dass auch zu zwei männlichen Personen bedeutsame persönliche Beziehungen existierten, die im weiteren Verlauf aneinandergeraten werden. Auch Lindholm und Behrens kennen sich schon länger, sehr lange, von früher. Behrens stellt Lindholms Lebensentwurf infrage und analysiert deren momentane Lage recht genau, um sie anschließend mit den ihr immanenten Widersprüchen zu konfrontieren. Nein, als voll berufstätige Frau ist die Situation als alleinerziehende Mutter eines Kinds alles andere als einfach und weit entfernt vom Idealbild einer sowohl beruflich Karriere machenden als auch ihrer Familie vollauf gerecht werdenden Frau. Die Lösung solcher und ähnlicher Dilemmata ist indes natürlich nicht in antiemanzipatorischen Rückwärtsrollen, sondern im sozialen Bereich zu suchen, um den Status alleinerziehender Frauen zu verbessern – unabhängig ihrer Herkunft. Angesichts bisweilen etwas wie aufgesagte Kurzvorträge wirkender Argumentationen Lindholms gegen das krude Geschlechter-, Gesellschafts- und Weltbild der Jungfaschos erscheint das Schweigen des Dialogbuchs an dieser Stelle etwas befremdlich. Lindholm soll sich ertappt und ein Stück weit verstanden fühlen, aber weshalb ist sie plötzlich so auf den Mund gefallen? Vielleicht ist sie in dieser von der Melancholie und auch Wut Behrens‘ geprägten Szene auch einfach nur müde.
Auf rein persönlicher Ebene spielt sich auch die sich offenbar anbahnende Dreiecksbeziehung zwischen Rechtsmediziner Nick (Daniel Donskoy) und Anaïs Schmitz und Lindholm ab: Dass Nick und Anaïs Schmitz ihren Hochzeitstag feiern, hält Nick und Lindholm nicht davon ab, miteinander zu schäkern und zu flirten. Es lässt sich unschwer erahnen, worauf man die Zuschauerschaft damit vorbereiten möchte. Bitte nicht!
So gar keine persönliche Ebene will sich hingegen zwischen den Mitgliedern der „Jungen Bewegung“ und Kommissarin Schmitz einstellen. Das kann man ihr nicht verübeln, denn so abgeklärt sich das ihr gegenübersitzende Trio zunächst auch geben mag – bei Sven Ulbrich (Leonard Proxauf, „Der Kommissar und das Meer“) fällt alsbald die Maske und er beleidigt Schmitz offen rassistisch, die wiederum nicht zulässt, dass sie dessen Ausfälle berühren, zumindest zeigt sie dies nicht offen. Schmitz‘ und Lindholms Vorgesetzten jedoch gefällt die Entwicklung der Falls gar nicht, weshalb er den Beamtinnen entzogen und dem LKA überantwortet wird – was Lindholm und Schmitz indes nicht davon abhält, auf eigene Faust weiter zu ermitteln. Die sich daraus ergebenden Erkenntnisse bringen nicht nur einen weiteren Videoblog ins Spiel, sondern nivellieren scheinbare Unvereinbarkeiten und lassen sich als Plädoyer für den Abbau ideologischer Scheuklappen verstehen. Der damit einhergehende Aufruf an politische Gegenpole, miteinander die Diskussion zu suchen, mutet jedoch reichlich naiv an. Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass sich dies hier lediglich in einem amourösen Mikrokosmos abspielt und kein Anspruch auf Allgemeingültig erhoben wird.
Jedoch wird eben jener personifizierte politische Gegenpol zu Marie lediglich derart grob skizziert, dass letztlich einige Fragen offenbleiben und sein Handeln nicht immer vollumfänglich nachvollziehbar ist. „Neurechter“ Argumentation hingegen wird recht viel Platz eingeräumt und, wie bereits angerissen, nicht immer direkt widersprochen. Derartige politische Themen bis hin zur Täterfrage im Mordfall auf persönliche Beziehungsebenen herunterzubrechen, ist beinahe charakteristisch für viele Beiträge zur „Tatort“-Reihe und sicherlich streitbar. In diesem Falle bietet es jedoch die durchaus überzeugend genutzte Möglichkeit, das gesellschaftlich beschämenderweise noch immer hochgradig relevante Thema des Femizids aufzugreifen, womit sich der Kreis zu Maries Videoblog-Beitrag schließt. Ferner lässt sich zumindest zeitweise eine Verbindung reaktionärer bis rechtsextremistischer Einstellungen mit persönlichem Frust und Realitätsverlust/-verweigerung erahnen – und die Chance ihrer Überwindung durch stärkere, verbindende Kräfte. Die Kitsch-, Klischee- und Krawallarmut, mit der dieser im Vorfeld gut recherchierte „Tatort“ dabei vorgeht, fällt ebenso positiv auf wie die starken (und stark gespielten!) weiblichen Rollen, die mit ihren Paradoxien zum Nachdenken anzuregen, ohne sie vorzuführen. Dennoch handelt es sich bei „National feminin“ um eine gewagte Gratwanderung, die vielleicht nicht immer die richtige Balance findet. Denn wer hier eigentlich eine Verfassungsrichterin wird und was das für die Bundesrepublik Deutschland bedeuten könnte, gerät am Ende ziemlich in Vergessenheit.
„Dieser Fall ist extrem heikel.“
Der dritte „Tatort“ des Göttinger Ermittlungsduos Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) führt ins neurechte Milieu. Das Drehbuch Daniela Baumgärtls und Florian Oellers verfilmte Franziska Buch, die zuvor bereits mit der Inszenierung des ersten Lindholm/Schmitz-Falls „Das verschwundene Kind“ in der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütiert hatte. Am 26. April 2020 erfolgte die Erstausstrahlung in der ARD.
„Sie sind eine verachtenswerte Frau!“
Juristin und Uni-Dozentin Sophie Behrens (Jenny Schily, „Die Stille nach dem Schuss“) hat sich in den 1980ern und ‘90ern selbst an der feministischen Bewegung beteiligt, schleudert jetzt jedoch Standardwerke feministischer Literatur verächtlich ins Auditorium. Längst ist die offen lesbisch lebende Frau mit ihren mittlerweile reaktionären bis rechtsextremistischen Ansichten zum Vorbild für die Neue Rechte geworden, die Behrens‘ Karrieresprung zur Bundesverfassungsrichterin auch als politischen Teilerfolg feiert. Mit Unbehagen verfolgt deren politischer Gegner diese Entwicklung, während Behrens‘ Auftritt an der Universität versucht ein junger Mann einen Farbbeutelanschlag auf sie. Gestoppt wird er jedoch von Behrens‘ studentischer Hilfskraft Marie Jäger (Emilia Schüle, „Simpel“), Mitglied der rechtsextremen „Jungen Bewegung“ und hippe, attraktive Videobloggerin, die pseudofeministische Standpunkte mit ausländer- und islamfeindlicher Propaganda vermischt. Am Abend wird Marie in einem Waldstück getötet, jemand schlitzt ihr die Kehle auf. Die Ermittlungen ergeben, dass Behrens eine Affäre mit Marie hatte und Marie zugleich von einem Stalker verfolgt worden war, eine entsprechende Anzeige gegen Unbekannt liegt der Polizei vor. Für die rechte Szene ist klar: Der Stalker ist der Mörder und die Polizei vertuscht dessen Migrationshintergrund. Während der nationalistische Pöbel das Internet mit Lügen und Hetze überzieht, ermitteln die Kommissarinnen Charlotte Lindholm und Anaïs Schmitz in verschiedene Richtungen und schauen sich die Mitglieder „Jungen Bewegung“ ebenso genauer an wie Maries Privatleben und ihre Beziehung zu Behrens…
Uralte Ressentiments, ein antiquiertes Menschenbild und Rückwärtsgewandtheit bis ins dunkelste Kapitel deutscher Geschichte hinein – verdorbener Wein in neuen Schläuchen ist das, was sog. neurechte Aktivistinnen und Aktivisten populistisch verbreiten und damit den Nährboden für Hass und Gewalt gegen Minderheiten sowie eine vergiftete gesellschaftliche Diskussionskultur schaffen. Dabei geben sich sie sich im krassen Widerspruch dazu demonstrativ modern, hip und jugendlich, führen spektakuläre, aufsehenerregende und medienwirksame Aktionen durch und versuchen, sich als eine Alternative zu präsentieren, die lediglich mit „politisch korrekten Denkverboten“ breche. Tatsächlich findet sich diese Klientel zunehmend auch im bildungsbürgerlichen und studentischen Milieu, wo sie ihrem Wirken einen intellektuellen Anstrich zu geben versucht. In dieses unappetitliche Wespennest sticht dieser „Tatort“. Er integriert nicht nur private Handyvideos des Mordopfers in die audiovisuelle narrative Gestaltung, sondern auch Auszüge aus seinem Videoblog, in dem Marie über Gewaltverbrechen von Immigranten gegen deutsche Frauen schwadroniert, aber geflissentlich verschweigt, wie viele Deutsche in unschöner Regelmäßigkeit Gewalt gegen Frauen ausüben.
Die neurechte Argumentation wird sehr realitätsnah aufgegriffen und verarbeitet, ihre Folgen wie Hass- und Hetzkommentare in sozialen Internet-Netzwerken werden über die Kamerabilder gelegt. Moderne Medien und ebensolche Technik spielen generell entscheidende Rollen in diesem Fall: So flucht die Polizei über den von Marie verwendeten Krypto-Messenger und – und das ist einer der größten Schwachpunkte dieses „Tatorts“ – kann den Fall letztlich nur lösen, indem sie diesen geknackt bekommt. Nein, verehrte Drehbuchautor(inn)en, Polizeiarbeit muss auch ohne solche Maßnahmen funktionieren und es ist gut und sinnvoll, dass es verschlüsselte Kommunikationsmittel gibt – auch wenn sie mitunter von Verbrecher(inne)n missbraucht werden.
Vieles verlagert dieser „Tatort“ auf die persönliche Ebene. So stellt sich heraus, dass nicht nur Maries Beziehung zu Behrens eine Rolle spielt, sondern dass auch zu zwei männlichen Personen bedeutsame persönliche Beziehungen existierten, die im weiteren Verlauf aneinandergeraten werden. Auch Lindholm und Behrens kennen sich schon länger, sehr lange, von früher. Behrens stellt Lindholms Lebensentwurf infrage und analysiert deren momentane Lage recht genau, um sie anschließend mit den ihr immanenten Widersprüchen zu konfrontieren. Nein, als voll berufstätige Frau ist die Situation als alleinerziehende Mutter eines Kinds alles andere als einfach und weit entfernt vom Idealbild einer sowohl beruflich Karriere machenden als auch ihrer Familie vollauf gerecht werdenden Frau. Die Lösung solcher und ähnlicher Dilemmata ist indes natürlich nicht in antiemanzipatorischen Rückwärtsrollen, sondern im sozialen Bereich zu suchen, um den Status alleinerziehender Frauen zu verbessern – unabhängig ihrer Herkunft. Angesichts bisweilen etwas wie aufgesagte Kurzvorträge wirkender Argumentationen Lindholms gegen das krude Geschlechter-, Gesellschafts- und Weltbild der Jungfaschos erscheint das Schweigen des Dialogbuchs an dieser Stelle etwas befremdlich. Lindholm soll sich ertappt und ein Stück weit verstanden fühlen, aber weshalb ist sie plötzlich so auf den Mund gefallen? Vielleicht ist sie in dieser von der Melancholie und auch Wut Behrens‘ geprägten Szene auch einfach nur müde.
Auf rein persönlicher Ebene spielt sich auch die sich offenbar anbahnende Dreiecksbeziehung zwischen Rechtsmediziner Nick (Daniel Donskoy) und Anaïs Schmitz und Lindholm ab: Dass Nick und Anaïs Schmitz ihren Hochzeitstag feiern, hält Nick und Lindholm nicht davon ab, miteinander zu schäkern und zu flirten. Es lässt sich unschwer erahnen, worauf man die Zuschauerschaft damit vorbereiten möchte. Bitte nicht!
So gar keine persönliche Ebene will sich hingegen zwischen den Mitgliedern der „Jungen Bewegung“ und Kommissarin Schmitz einstellen. Das kann man ihr nicht verübeln, denn so abgeklärt sich das ihr gegenübersitzende Trio zunächst auch geben mag – bei Sven Ulbrich (Leonard Proxauf, „Der Kommissar und das Meer“) fällt alsbald die Maske und er beleidigt Schmitz offen rassistisch, die wiederum nicht zulässt, dass sie dessen Ausfälle berühren, zumindest zeigt sie dies nicht offen. Schmitz‘ und Lindholms Vorgesetzten jedoch gefällt die Entwicklung der Falls gar nicht, weshalb er den Beamtinnen entzogen und dem LKA überantwortet wird – was Lindholm und Schmitz indes nicht davon abhält, auf eigene Faust weiter zu ermitteln. Die sich daraus ergebenden Erkenntnisse bringen nicht nur einen weiteren Videoblog ins Spiel, sondern nivellieren scheinbare Unvereinbarkeiten und lassen sich als Plädoyer für den Abbau ideologischer Scheuklappen verstehen. Der damit einhergehende Aufruf an politische Gegenpole, miteinander die Diskussion zu suchen, mutet jedoch reichlich naiv an. Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass sich dies hier lediglich in einem amourösen Mikrokosmos abspielt und kein Anspruch auf Allgemeingültig erhoben wird.
Jedoch wird eben jener personifizierte politische Gegenpol zu Marie lediglich derart grob skizziert, dass letztlich einige Fragen offenbleiben und sein Handeln nicht immer vollumfänglich nachvollziehbar ist. „Neurechter“ Argumentation hingegen wird recht viel Platz eingeräumt und, wie bereits angerissen, nicht immer direkt widersprochen. Derartige politische Themen bis hin zur Täterfrage im Mordfall auf persönliche Beziehungsebenen herunterzubrechen, ist beinahe charakteristisch für viele Beiträge zur „Tatort“-Reihe und sicherlich streitbar. In diesem Falle bietet es jedoch die durchaus überzeugend genutzte Möglichkeit, das gesellschaftlich beschämenderweise noch immer hochgradig relevante Thema des Femizids aufzugreifen, womit sich der Kreis zu Maries Videoblog-Beitrag schließt. Ferner lässt sich zumindest zeitweise eine Verbindung reaktionärer bis rechtsextremistischer Einstellungen mit persönlichem Frust und Realitätsverlust/-verweigerung erahnen – und die Chance ihrer Überwindung durch stärkere, verbindende Kräfte. Die Kitsch-, Klischee- und Krawallarmut, mit der dieser im Vorfeld gut recherchierte „Tatort“ dabei vorgeht, fällt ebenso positiv auf wie die starken (und stark gespielten!) weiblichen Rollen, die mit ihren Paradoxien zum Nachdenken anzuregen, ohne sie vorzuführen. Dennoch handelt es sich bei „National feminin“ um eine gewagte Gratwanderung, die vielleicht nicht immer die richtige Balance findet. Denn wer hier eigentlich eine Verfassungsrichterin wird und was das für die Bundesrepublik Deutschland bedeuten könnte, gerät am Ende ziemlich in Vergessenheit.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Der Kino-"Tatort" "Zahn um Zahn" hat einen eigenen Thread bekommen:
deutschland-f30/tatort-zahn-zahn-hajo-gies-1985-t12465.html
deutschland-f30/tatort-zahn-zahn-hajo-gies-1985-t12465.html
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
50 Jahre Tatort
Anlässlich dieses Jubiläums startet die ARD in der Sommerpause das Zuschauervoting "Wunsch-Tatort am Sonntag".
Im Zeitraum vom 21.06. bis 30.08. werden die zuvor per Internetwahl bestimmten Fälle ausgestrahlt.
Leider stehen "nur" 50 besonders beliebte Tatorte der letzten 25 Jahre zur Auswahl.
https://www.daserste.de/unterhaltung/kr ... rt104.html
Ab dem 26.06. werden freitags um 22:15 Uhr Tatort-Klassiker (ohne vorheriges Voting) gesendet.
Anlässlich dieses Jubiläums startet die ARD in der Sommerpause das Zuschauervoting "Wunsch-Tatort am Sonntag".
Im Zeitraum vom 21.06. bis 30.08. werden die zuvor per Internetwahl bestimmten Fälle ausgestrahlt.
Leider stehen "nur" 50 besonders beliebte Tatorte der letzten 25 Jahre zur Auswahl.
https://www.daserste.de/unterhaltung/kr ... rt104.html
Ab dem 26.06. werden freitags um 22:15 Uhr Tatort-Klassiker (ohne vorheriges Voting) gesendet.