Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz
Verfasst: Di 26. Jul 2016, 21:05
Originaltitel: Livide
Produktionsland: Frankreich 2011
Regie: Alexandre Bustillo / Julien Maury
Darsteller: Chloe Coulloud, Felix Moati, Jeremy Kapone, Chaterine Jacob, Beatrice Dalle
Schon ein kurzer Blick auf die Projekte, die die beiden stets im Duo arbeitenden Filmemacher Julien Maury und Alexandre Bustillo in den letzten Jahren haben fallenlassen – und vor allem ihre Begründung dafür -, macht mir die beiden Franzosen ziemlich sympathisch. So hat Julien Maury auf die Frage, weshalb man denn von solchen eigentlich doch recht lukrativ klingenden Regie-Angeboten wie dem Sequel zu Rob Zombies HALLOWEEN-Remake oder dem Remake zu Clive Barkers HELLRAISER schlussendlich abgesprungen sei, sinngemäß geantwortet, man wolle lieber eigenständige Projekte auf die Beine stellen und seine Zeit nicht mit Remakes von Filmen, die es sowieso schon gibt, vertun. Mangelnde Eigenständigkeit jedenfalls kann man dem Werk, das man stattdessen, wie schon das Regie-Debut À INTÉRIEUR (2007), im Heimatland realisiert hat, nun wirklich nicht vorwerfen.
Abb.1 + 2: Der böse Wolf aus dem Märchen, einmal als ausgestopfter Vertreter seiner Gattung, einmal als bewegliche Puppe, der man einen Wolfskopf aufgepfropft hat. Maury und Bustillo bedienen sich freimütig im Arsenal der nicht nur filmischen europäischen Horrortradition (Grimm, Perrault) und holen Archetypen hervor, die man schon fast vergessen hat.
Ich möchte mit den positiven Aspekten von LIVIDE anfangen, weil die für mich überwiegen. Dieser Film ist altmodisch im besten Wortsinn. Nahezu seine komplette erste Stunde ist einem Inszenierungsstil verschrieben, den man in den Zeiten moderner Hektik gerade im Horrorkino selten findet. Julie, unsere Heldin, erlebt ihren ersten Tag als häusliche Krankenpflegerin und begleitet ihre neue Chefin Frau Wilson von einem mehr oder minder traurigen Schicksal zum nächsten. Schließlich endet ihr Einarbeitungstag vor den Toren der Villa einer gewissen Frau Jessel. Zwar erteilt ihre Chefin Julie die Anweisung, im Auto sitzenzubleiben und auf sie zu warten, denn lange würde ihr Besuch bei der greisen Komapatientin, die allein in dem herrschaftlichen Anwesen ihre Lebenszeit verschläft, nicht dauern. Doch Julie hat offenbar – wie die Regisseure – manchen Argento-Film mehrmals gesehen, steigt aus und ergründet die nächsten Minuten auf eigene Faust das verwunschene, verzauberte Gelände. Was dabei an Argento-Hausinspektionen wie in PROFONDO ROSSO (1975) oder INFERNO (1980) erinnert, ist jedoch nicht nur die Tatsache, dass über eine vergleichsweise weite Strecke hinweg eine Person nichts weiter tut als einfach nur eine unheimliche Umgebung zu erkunden, sondern außerdem die ruhige, unprätentiöse und auf jeden Fall packende Weise, mit der das Villengrundstück um den Zuschauer herum zu einem mysteriösen Raum aufgebaut wird, der außerhalb unserer bekannten Welt angesiedelt scheint, ein Märchenreich, in dem nicht nur Liebliches auf einen wartet, sondern, das ahnt man gleich, mit Sicherheit so mancher Schrecken.
Abb.3: Traditionsträchtige Zeichen I: Der Studienort Madame Jessels, zu lesen auf einer Urkunde, die an ihrer Kellerwand hängt.
Ein kleiner Schock ist es schon, die uralte Frau Jessel, deren Fingernägel schon seit etlicher Zeit nicht mehr geschnitten worden sein dürften, und die mehr einem künstlich beatmeten Leichnam ähnelt als einem Menschen, der irgendwann wieder aus seinem Koma aufwachen wird, in ihrem Bett liegen zu sehen. Komplett märchenhaft wird es, wenn Wilson, die Julies Ungehorsam erwartet zu haben scheint - immerhin tadelt sie sie kein bisschen dafür, sich nicht an ihre Anweisungen gehalten zu haben - wie beiläufig von einem Schatz zu erzählen beginnt, der irgendwo in der Villa, die früher mal eine renommierte Ballettschule gewesen ist, versteckt sein soll. Dazu zeigt uns die Kamera in Großaufnahme einen Schlüssel, der der schnaubenden Greisin um den Hals hängt. SUSPIRIA schreit es mir schon spätestens hier von allen Ecken und Enden des Films zu. Nicht nur, dass der unheimliche Ort, in dem und um den herum Maury und Bustillo ihre Schauergeschichte ansiedeln, eine ehemalige Ballettschule ist, in der die ehemalige Leiterin komatös schnaubt und ächzt. Vielmehr noch erinnert an Argentos Meisterstück der subtil märchenhafte Touch dieser Exposition und natürlich die manierierte, ausgesprochen schöne und klassische Kameraarbeit, die wichtiger ist als jede Psychologie der Charaktere oder jede Plausibilität der Story. Allerdings gab es schon in diesem großartigen Auftakt einen kleinen, störenden Fleck für mich. Frau Wilson regt Julie quasi aus dem Nichts heraus dazu an, aus der reichhaltigen Bibliothek der Jessel rein intuitiv irgendeinen Band auszuwählen. Sie tut das zwar, – doch Wilson geht gar nicht näher darauf ein, wechselt plötzlich das Thema und das Buch wandert ins Regal zurück. Schade, ich hätte gerne gewusst, was unsere Heldin da in der Hand gehalten hat – zumal es den Filmemachern die Steilvorlage für eine sinnreiche literarische Anspielung geliefert hätte (an filmhistorischen Anspielungen fehlt es ja, wie meine screenshots zeigen, nicht im Geringsten.)
Abb.4: Traditionsträchtige Zeichen II: Der Gasthof zum geschlachteten Lamm, in dem Julie und ihre Freunde ihren Einbruch planen.
Im zweiten Teil lernen wir Julie ein bisschen näher kennen, das alles weitgehend ohne Dialoge und ausschließlich über Außensicht, d.h. ihre Gefühle und Gedanken werden selten ausartikuliert, zeigen sich vielmehr an ihrem Verhalten und in ihrem körperlichen Ausdruck. Sie trifft zwei Freunde, William und Ben, einer davon offenbar ihr fester, und gemeinsam beschließt man, da man, wie alle jungen Leute um die Zwanzig, knapp bei Kasse ist, nachts in die Jessel-Villa einzusteigen und den angeblichen Schatz zu heben. Kurzzeitig in Julie aufkommende Zweifel verzögern den Moment letztlich nur, in dem unsere Helden in das Gebäude eindringen. So wenig logisch die Handlung von nun an wird – wieso sollte ich in eine Villa einbrechen, wenn ich nicht mal weiß, was ich in ihr suchen soll, und ob das, was ich in ihr suche, überhaupt dort ist? -, so sehr gefallen mir die beibehaltenen langen Einstellungen, die unaufgeregte Erzählweise, die vielen scheinbar nutzlosen Szenen wie Julies Warten auf ihren Freund, einen Fischer, am Hafen ihres kleinen Heimatstädtchens oder ihr kurzes Gespräch mit ihren Eltern, die zudem das Gefühl vermitteln, der Film würde nahezu in Echtzeit ablaufen, und eben alles aufzeichnen, was Julie in den folgenden Stunden widerfährt, das Belanglose wie das Handlungsrelevante. Dabei erweisen Maury und Bustillo sich meisterhaft darin, die Spannungskurve stetig nach oben zu schieben. Selbst als man endlich in der Villa angelangt ist, bricht noch kein Inferno los: erstmal wird erneut das Interieur durchwandert, nur diesmal nicht im hellen Sonnenschein, sondern in tiefster Nacht, einzig mit dem stetig unsteten Schimmer einer Taschenlampe, die der Kamera über einen langen Zeitraum hinweg ihren Fokus diktiert.
Abb.5: Traditionsträchtige Zeichen III: Drei HALLOWEEN-Rabauken, die aus dem Nichts - vielleicht aus einem anderen Film?! - auftauchen und gleich wieder ins Nichts verschwinden.
Bis hierhin hat LIVIDE ein homogenes Gepräge, ab dem dritten Teil, wenn unsere Helden feststellen, dass sie offenbar in der Villa gefangen sind, denn plötzlich führt kein Weg mehr nach draußen und eindeutig übernatürliche Phänomene treten auf den Plan, wird der Film – und damit kommen wir zu den negativen Aspekten – stilistisch leider ziemlich zerfasert. Zum einen bringt er einige der beeindruckendsten, poetischsten Bilder, die ich seit langem sehen durfte, zum andern fällt er herab auf eine Ebene plumpen Splatters, der unnötig blutig und mit unnötig lauter Spannungsmusik garniert ist. Obwohl die Idee, ein paar junge Leute in ein Spukhaus zu führen und dort dann nicht mehr wegzulassen, wahrlich nicht neu ist – gerade im italienischen Horrorfilm der Spätzeit findet man das in jedem dritten Vertreter, zu nennen wären beispielweise Fabrizio Laurentis WITCHCRAFT (1988), Claudio Lattanzis KILLING BIRDS (1987) oder Umberto Lenzis GHOSTHOUSE (1988) -, verzeihe ich LIVIDE seine mangelnde Kreativität an dieser Stelle gut und gerne, da er sie an anderer Stelle zu Höchstleistungen treibt. Nicht so sehr an Argento, sondern eher an Jean Rollin erinnern mich die schlicht unbeschreiblichen Einfälle und Bilder, die Maury und Bustillo um die Vergangenheit der Ballettschule ranken. So ist Frau Jessels Töchterchen als Hybrid zwischen Mensch aus Fleisch und Blut und mechanischer Puppe in einem Zimmer eingeschlossen und beginnt, wenn man ihre Räder zum Kreisen bringt, mit schwerfälligen, aber doch irgendwie anmutigen Tanzgesten zu bezaubern. Maury und Bustillo waten hier knietief in Gefilden der deutschen Romantik, wo Automaten und künstliche Menschen zum Standardrepertoire gehören – vor allem an E.T.A. Hoffmanns Erzählung DER SANDMANN (1815) scheinen mir die fraglichen Szenen in LIVIDE ziemlich nahe dran zu sein, andererseits könnte solch eine irgendwo zwischen absurder Komik, idealisierender Poesie und echter Tragik pendelnde Idee auch von Achim von Arnim stammen. Eine Szene dann wie die, in der Jessels Töchterchen, das sich als ausgemachtes Vampirmädchen entpuppt, eine Ballettschülerin ihrer Mutter um Blut und Leben erleichtert, und dann, von oben bis unten rotbesprizt, im Ballettkleidchen durch den weitläufigen Garten huscht, wirkt ebenfalls wie das Motiv aus einer Zeit, in der Horror noch nicht gleichbedeutend damit war, einfach nur stumpf das Ausweiden und Zerfetzen von menschlichen Körpern zu zeigen. Dieses Mädchen, unschuldig und schuldig zugleich, niedlich und bedrohlich, abstoßend und anziehend, könnte, meine ich, ungehindert nicht nur durch einen Film Rollins spazieren, sondern sich in einem Gedicht Baudelaires, einem Gemälde Burne-Jones oder einer Erzählung Poes bestimmt ebenfalls recht heimisch fühlen. Eine der schönsten Szenen in LIVIDE ist diejenige, in der, meiner bescheidenen Interpretation nach, so etwas wie eine von außen forcierte Seelenwanderung dargestellt wird. Lucie, in die Fänge der Frauen Jessel und Wilson geraten, werden, wie dem Jessel-Töchterchen, die Augen zugenäht, sodann vollführt man einen im Prinzip unbeschreiblichen Ritus, bei dem die Seelen der Mädchen die Körper tauschen. Versinnbildlicht werden diese in Gestalt – wenn mich meine entomologischen Kenntnisse nicht im Stich lassen – zweier Motten, die ihnen aus den Mündchen schlüpfen, kurz im Raum herumflattern und dann zwischen den Lippen der jeweils anderen wieder verschwinden: eine Szene, die mich nicht wenig an einen anderen äußerst poetischen und äußerst verstörenden modernen französischsprachigen Horrorfilm hat denken lassen, NUIT NOIRE (2005) des Belgiers Olivier Smoulders, bei dem es vor Insekten ebenfalls in allen Ecken und Enden summt und schwirrt.
Abb.6: Entsetzen und Entzücken gleichermaßen zusammengefasst in einem nahezu ikonischen Bild: das Jessel-Töchterchen hat seinen Durst gestillt und beginnt, die Welt außerhalb der Schulmauern zu erkunden.
Leider wirkt es jedoch gerade im Schlussakt ihres Films so, als könnten Maury und Bustillo sich nicht dazu entscheiden, diese antiquierte, theoretisch bis in den Symbolismus, die Dekadenzliteratur und die Schauerromantik zurückführbare Ästhetik konsequent beizubehalten. Ständig werden die oben erwähnten sprachlos machenden Bilder von welchen durchkreuzt, die eher einem zeitgenössischen Geschmack geschuldet sind. Julies Freunde, vorhin noch halbwegs eigenständige Figuren, nun zu bloßem Kanonenfutter degradiert, werden in wild geschnittenen Kampf- und Fressszenen von der frisch aus dem Koma erwachten Balletthexe Jessel auf unappetitlich-graphische Weise aus dem Drehbuch gestrichen, das zu diesem Zeitpunkt jede inhaltliche Kohärenz komplett über Bord geworfen hat. Ebenso brutal und hektisch müssen dann noch Wilson und Jessel dran glauben bevor Jessels Töchterchen endlich befreit ist und von Julie in ein Finale entlassen werden kann, bei dem ich noch immer darüber rätsle, ob ich das nun besonders mutig oder einfach nur besonders kitschig finden soll. Die Versprechen, die mir LIVIDE jedenfalls in seinen ersten sechzig Minuten unablässig gemacht hat, konnte der Film in seinen letzten dreißig nicht wirklich einlösen. Statt des erwarteten Feuerwerks an Poesie, Magie und Schauder zischen nur einige wenige Flämmchen in die Höhe. Diese erhellen zwar, wenn sie denn mal hochschießen, den kompletten Horizont, aber auch wie unzureichend und wie austauschbar und wie deplatziert viele andere Filmszenen um sie herum letztendlich ausgefallen sind.
Abb.7: Béatrice Dalle in einem Cameo-Auftritt als Julies verstorbene Mutter. Schon in LIVIDE verwenden, was sich in AUX YEUY DES VIVANTS zum Prinzip steigern wird, Bustillo und Maury Schauspieler früherer Filme als Zeichen, die auf ihre eigene Filmographie zurückverweisen sollen.
Abb.8: Die zwei unterschiedlichen Augenfarben Julies repräsentieren in einem sinnträchtigen Bild die Hetereogenität, die LIVIDE dadurch erwächst, dass er sich nicht für EINEN Stil zu entscheiden vermag.
Postskriptum: Als ich obigen Text geschrieben habe, kannte ich das neuste Werk von Bustillo und Maury, AUX YEUX DES VIVANTS (2014), noch nicht. Nun, wo ich ihn mir schnell noch angesehen habe, glaube ich, LIVIDE vielleicht doch noch ein bisschen besser zu verstehen. So wie LIVIDE steht nämlich auch AUX YEUX DES VIVANTS zwischen zwei Stühlen. Der eine ist zusammengesetzt aus einer dezidiert europäischen Horrorfilmtradition, der andere bietet sein Polster vor allem Leuten an, die von Filmen wie À L’INTÉRIEUR dazu angestachelt worden sind, im modernen französischen Horrorfilm erbarmungslose Härte und kehlenzuschnürende Spannung zu erwarten. Was im letzten Drittel von LIVIDE schon eine ziemlich unglückliche Zwangsehe gewesen ist, wird bei AUX YEUX DES VIVANTS, zumindest für meine Begriffe, zur mittelschweren Katastrophe. AUX YEUX DES VIVANTS ist der mit Abstand schlechteste der drei Spielfilme, die Maury und Bustillo bislang vorgelegt haben: ein Film, in dem sich maskierte Killer umständlich unter Plüschtierhaufen in Kinderzimmern verstecken, um ihre Opfer per Handyklingeln zu sich zu locken, ein Film, in dem selbst die (weiblichen) Opfer nach zahllosen Faustschlägen, Messerstichen und Rippentritten nicht nur noch aufrecht stehen, sondern sich zudem auch noch gegen ihre Feinde zur Wehr setzen können, ein Film, dessen Finale derart unübersichtlich zusammenmontiert ist, dass ich trotz aller Aufmerksamkeit schlicht nicht begriffen habe, was dort eigentlich geschehen sein soll, ein Film, dem man quasi in jeder Szene ansieht, dass er nicht wirklich weiß, wo er hinwill: zurück zum schwärmerischen Gefühl der Kindheit und der Märchen, hin zu Slashern US-amerikanischer Prägung mit Serienmördern, die überall gleichzeitig sein und selbst in geschlossene Räume eindringen können, oder vorwärts zu einer modifizierten Fassung der home-invader-Geschichte, mit der Bustillo und Maury ihren ersten Achtungserfolg erzielten? AUX YEUX DES VIVANTS erreicht niemals die Intensität von À L’INTÉRIEUR, niemals die Poesie von LIVIDE, ist ziellos brutal und lässt so viele Ideen und Nebenplots unberührt liegen, nachdem er sie einmal flüchtig angefasst hat - (gerade der Schauplatz eines verlassenen, ehemaligen Filmsets hätte doch Grundlage für wirklich krasse metafilmische Exzesse sein können!) -, dass der gesamte Film wie ein einziger Kompromiss wirkt. Meinem persönlichen Gefühl nach ist AUX YEUX DES VIVANTS einer der schlechtesten Filme, die ich dieses Jahr gesehen habe. Sollten die beiden Franzosen nicht doch noch die Kurve kriegen, dürfte LIVIDE für mich möglicherweise nicht der noch etwas holprige Anfang eines großen Lebenswerks werden, sondern der zauberhafte Schlussakkord nach einem bereits vielversprechenden Anfang.
Abb.1 + 2: Der böse Wolf aus dem Märchen, einmal als ausgestopfter Vertreter seiner Gattung, einmal als bewegliche Puppe, der man einen Wolfskopf aufgepfropft hat. Maury und Bustillo bedienen sich freimütig im Arsenal der nicht nur filmischen europäischen Horrortradition (Grimm, Perrault) und holen Archetypen hervor, die man schon fast vergessen hat.
Ich möchte mit den positiven Aspekten von LIVIDE anfangen, weil die für mich überwiegen. Dieser Film ist altmodisch im besten Wortsinn. Nahezu seine komplette erste Stunde ist einem Inszenierungsstil verschrieben, den man in den Zeiten moderner Hektik gerade im Horrorkino selten findet. Julie, unsere Heldin, erlebt ihren ersten Tag als häusliche Krankenpflegerin und begleitet ihre neue Chefin Frau Wilson von einem mehr oder minder traurigen Schicksal zum nächsten. Schließlich endet ihr Einarbeitungstag vor den Toren der Villa einer gewissen Frau Jessel. Zwar erteilt ihre Chefin Julie die Anweisung, im Auto sitzenzubleiben und auf sie zu warten, denn lange würde ihr Besuch bei der greisen Komapatientin, die allein in dem herrschaftlichen Anwesen ihre Lebenszeit verschläft, nicht dauern. Doch Julie hat offenbar – wie die Regisseure – manchen Argento-Film mehrmals gesehen, steigt aus und ergründet die nächsten Minuten auf eigene Faust das verwunschene, verzauberte Gelände. Was dabei an Argento-Hausinspektionen wie in PROFONDO ROSSO (1975) oder INFERNO (1980) erinnert, ist jedoch nicht nur die Tatsache, dass über eine vergleichsweise weite Strecke hinweg eine Person nichts weiter tut als einfach nur eine unheimliche Umgebung zu erkunden, sondern außerdem die ruhige, unprätentiöse und auf jeden Fall packende Weise, mit der das Villengrundstück um den Zuschauer herum zu einem mysteriösen Raum aufgebaut wird, der außerhalb unserer bekannten Welt angesiedelt scheint, ein Märchenreich, in dem nicht nur Liebliches auf einen wartet, sondern, das ahnt man gleich, mit Sicherheit so mancher Schrecken.
Abb.3: Traditionsträchtige Zeichen I: Der Studienort Madame Jessels, zu lesen auf einer Urkunde, die an ihrer Kellerwand hängt.
Ein kleiner Schock ist es schon, die uralte Frau Jessel, deren Fingernägel schon seit etlicher Zeit nicht mehr geschnitten worden sein dürften, und die mehr einem künstlich beatmeten Leichnam ähnelt als einem Menschen, der irgendwann wieder aus seinem Koma aufwachen wird, in ihrem Bett liegen zu sehen. Komplett märchenhaft wird es, wenn Wilson, die Julies Ungehorsam erwartet zu haben scheint - immerhin tadelt sie sie kein bisschen dafür, sich nicht an ihre Anweisungen gehalten zu haben - wie beiläufig von einem Schatz zu erzählen beginnt, der irgendwo in der Villa, die früher mal eine renommierte Ballettschule gewesen ist, versteckt sein soll. Dazu zeigt uns die Kamera in Großaufnahme einen Schlüssel, der der schnaubenden Greisin um den Hals hängt. SUSPIRIA schreit es mir schon spätestens hier von allen Ecken und Enden des Films zu. Nicht nur, dass der unheimliche Ort, in dem und um den herum Maury und Bustillo ihre Schauergeschichte ansiedeln, eine ehemalige Ballettschule ist, in der die ehemalige Leiterin komatös schnaubt und ächzt. Vielmehr noch erinnert an Argentos Meisterstück der subtil märchenhafte Touch dieser Exposition und natürlich die manierierte, ausgesprochen schöne und klassische Kameraarbeit, die wichtiger ist als jede Psychologie der Charaktere oder jede Plausibilität der Story. Allerdings gab es schon in diesem großartigen Auftakt einen kleinen, störenden Fleck für mich. Frau Wilson regt Julie quasi aus dem Nichts heraus dazu an, aus der reichhaltigen Bibliothek der Jessel rein intuitiv irgendeinen Band auszuwählen. Sie tut das zwar, – doch Wilson geht gar nicht näher darauf ein, wechselt plötzlich das Thema und das Buch wandert ins Regal zurück. Schade, ich hätte gerne gewusst, was unsere Heldin da in der Hand gehalten hat – zumal es den Filmemachern die Steilvorlage für eine sinnreiche literarische Anspielung geliefert hätte (an filmhistorischen Anspielungen fehlt es ja, wie meine screenshots zeigen, nicht im Geringsten.)
Abb.4: Traditionsträchtige Zeichen II: Der Gasthof zum geschlachteten Lamm, in dem Julie und ihre Freunde ihren Einbruch planen.
Im zweiten Teil lernen wir Julie ein bisschen näher kennen, das alles weitgehend ohne Dialoge und ausschließlich über Außensicht, d.h. ihre Gefühle und Gedanken werden selten ausartikuliert, zeigen sich vielmehr an ihrem Verhalten und in ihrem körperlichen Ausdruck. Sie trifft zwei Freunde, William und Ben, einer davon offenbar ihr fester, und gemeinsam beschließt man, da man, wie alle jungen Leute um die Zwanzig, knapp bei Kasse ist, nachts in die Jessel-Villa einzusteigen und den angeblichen Schatz zu heben. Kurzzeitig in Julie aufkommende Zweifel verzögern den Moment letztlich nur, in dem unsere Helden in das Gebäude eindringen. So wenig logisch die Handlung von nun an wird – wieso sollte ich in eine Villa einbrechen, wenn ich nicht mal weiß, was ich in ihr suchen soll, und ob das, was ich in ihr suche, überhaupt dort ist? -, so sehr gefallen mir die beibehaltenen langen Einstellungen, die unaufgeregte Erzählweise, die vielen scheinbar nutzlosen Szenen wie Julies Warten auf ihren Freund, einen Fischer, am Hafen ihres kleinen Heimatstädtchens oder ihr kurzes Gespräch mit ihren Eltern, die zudem das Gefühl vermitteln, der Film würde nahezu in Echtzeit ablaufen, und eben alles aufzeichnen, was Julie in den folgenden Stunden widerfährt, das Belanglose wie das Handlungsrelevante. Dabei erweisen Maury und Bustillo sich meisterhaft darin, die Spannungskurve stetig nach oben zu schieben. Selbst als man endlich in der Villa angelangt ist, bricht noch kein Inferno los: erstmal wird erneut das Interieur durchwandert, nur diesmal nicht im hellen Sonnenschein, sondern in tiefster Nacht, einzig mit dem stetig unsteten Schimmer einer Taschenlampe, die der Kamera über einen langen Zeitraum hinweg ihren Fokus diktiert.
Abb.5: Traditionsträchtige Zeichen III: Drei HALLOWEEN-Rabauken, die aus dem Nichts - vielleicht aus einem anderen Film?! - auftauchen und gleich wieder ins Nichts verschwinden.
Bis hierhin hat LIVIDE ein homogenes Gepräge, ab dem dritten Teil, wenn unsere Helden feststellen, dass sie offenbar in der Villa gefangen sind, denn plötzlich führt kein Weg mehr nach draußen und eindeutig übernatürliche Phänomene treten auf den Plan, wird der Film – und damit kommen wir zu den negativen Aspekten – stilistisch leider ziemlich zerfasert. Zum einen bringt er einige der beeindruckendsten, poetischsten Bilder, die ich seit langem sehen durfte, zum andern fällt er herab auf eine Ebene plumpen Splatters, der unnötig blutig und mit unnötig lauter Spannungsmusik garniert ist. Obwohl die Idee, ein paar junge Leute in ein Spukhaus zu führen und dort dann nicht mehr wegzulassen, wahrlich nicht neu ist – gerade im italienischen Horrorfilm der Spätzeit findet man das in jedem dritten Vertreter, zu nennen wären beispielweise Fabrizio Laurentis WITCHCRAFT (1988), Claudio Lattanzis KILLING BIRDS (1987) oder Umberto Lenzis GHOSTHOUSE (1988) -, verzeihe ich LIVIDE seine mangelnde Kreativität an dieser Stelle gut und gerne, da er sie an anderer Stelle zu Höchstleistungen treibt. Nicht so sehr an Argento, sondern eher an Jean Rollin erinnern mich die schlicht unbeschreiblichen Einfälle und Bilder, die Maury und Bustillo um die Vergangenheit der Ballettschule ranken. So ist Frau Jessels Töchterchen als Hybrid zwischen Mensch aus Fleisch und Blut und mechanischer Puppe in einem Zimmer eingeschlossen und beginnt, wenn man ihre Räder zum Kreisen bringt, mit schwerfälligen, aber doch irgendwie anmutigen Tanzgesten zu bezaubern. Maury und Bustillo waten hier knietief in Gefilden der deutschen Romantik, wo Automaten und künstliche Menschen zum Standardrepertoire gehören – vor allem an E.T.A. Hoffmanns Erzählung DER SANDMANN (1815) scheinen mir die fraglichen Szenen in LIVIDE ziemlich nahe dran zu sein, andererseits könnte solch eine irgendwo zwischen absurder Komik, idealisierender Poesie und echter Tragik pendelnde Idee auch von Achim von Arnim stammen. Eine Szene dann wie die, in der Jessels Töchterchen, das sich als ausgemachtes Vampirmädchen entpuppt, eine Ballettschülerin ihrer Mutter um Blut und Leben erleichtert, und dann, von oben bis unten rotbesprizt, im Ballettkleidchen durch den weitläufigen Garten huscht, wirkt ebenfalls wie das Motiv aus einer Zeit, in der Horror noch nicht gleichbedeutend damit war, einfach nur stumpf das Ausweiden und Zerfetzen von menschlichen Körpern zu zeigen. Dieses Mädchen, unschuldig und schuldig zugleich, niedlich und bedrohlich, abstoßend und anziehend, könnte, meine ich, ungehindert nicht nur durch einen Film Rollins spazieren, sondern sich in einem Gedicht Baudelaires, einem Gemälde Burne-Jones oder einer Erzählung Poes bestimmt ebenfalls recht heimisch fühlen. Eine der schönsten Szenen in LIVIDE ist diejenige, in der, meiner bescheidenen Interpretation nach, so etwas wie eine von außen forcierte Seelenwanderung dargestellt wird. Lucie, in die Fänge der Frauen Jessel und Wilson geraten, werden, wie dem Jessel-Töchterchen, die Augen zugenäht, sodann vollführt man einen im Prinzip unbeschreiblichen Ritus, bei dem die Seelen der Mädchen die Körper tauschen. Versinnbildlicht werden diese in Gestalt – wenn mich meine entomologischen Kenntnisse nicht im Stich lassen – zweier Motten, die ihnen aus den Mündchen schlüpfen, kurz im Raum herumflattern und dann zwischen den Lippen der jeweils anderen wieder verschwinden: eine Szene, die mich nicht wenig an einen anderen äußerst poetischen und äußerst verstörenden modernen französischsprachigen Horrorfilm hat denken lassen, NUIT NOIRE (2005) des Belgiers Olivier Smoulders, bei dem es vor Insekten ebenfalls in allen Ecken und Enden summt und schwirrt.
Abb.6: Entsetzen und Entzücken gleichermaßen zusammengefasst in einem nahezu ikonischen Bild: das Jessel-Töchterchen hat seinen Durst gestillt und beginnt, die Welt außerhalb der Schulmauern zu erkunden.
Leider wirkt es jedoch gerade im Schlussakt ihres Films so, als könnten Maury und Bustillo sich nicht dazu entscheiden, diese antiquierte, theoretisch bis in den Symbolismus, die Dekadenzliteratur und die Schauerromantik zurückführbare Ästhetik konsequent beizubehalten. Ständig werden die oben erwähnten sprachlos machenden Bilder von welchen durchkreuzt, die eher einem zeitgenössischen Geschmack geschuldet sind. Julies Freunde, vorhin noch halbwegs eigenständige Figuren, nun zu bloßem Kanonenfutter degradiert, werden in wild geschnittenen Kampf- und Fressszenen von der frisch aus dem Koma erwachten Balletthexe Jessel auf unappetitlich-graphische Weise aus dem Drehbuch gestrichen, das zu diesem Zeitpunkt jede inhaltliche Kohärenz komplett über Bord geworfen hat. Ebenso brutal und hektisch müssen dann noch Wilson und Jessel dran glauben bevor Jessels Töchterchen endlich befreit ist und von Julie in ein Finale entlassen werden kann, bei dem ich noch immer darüber rätsle, ob ich das nun besonders mutig oder einfach nur besonders kitschig finden soll. Die Versprechen, die mir LIVIDE jedenfalls in seinen ersten sechzig Minuten unablässig gemacht hat, konnte der Film in seinen letzten dreißig nicht wirklich einlösen. Statt des erwarteten Feuerwerks an Poesie, Magie und Schauder zischen nur einige wenige Flämmchen in die Höhe. Diese erhellen zwar, wenn sie denn mal hochschießen, den kompletten Horizont, aber auch wie unzureichend und wie austauschbar und wie deplatziert viele andere Filmszenen um sie herum letztendlich ausgefallen sind.
Abb.7: Béatrice Dalle in einem Cameo-Auftritt als Julies verstorbene Mutter. Schon in LIVIDE verwenden, was sich in AUX YEUY DES VIVANTS zum Prinzip steigern wird, Bustillo und Maury Schauspieler früherer Filme als Zeichen, die auf ihre eigene Filmographie zurückverweisen sollen.
Abb.8: Die zwei unterschiedlichen Augenfarben Julies repräsentieren in einem sinnträchtigen Bild die Hetereogenität, die LIVIDE dadurch erwächst, dass er sich nicht für EINEN Stil zu entscheiden vermag.
Postskriptum: Als ich obigen Text geschrieben habe, kannte ich das neuste Werk von Bustillo und Maury, AUX YEUX DES VIVANTS (2014), noch nicht. Nun, wo ich ihn mir schnell noch angesehen habe, glaube ich, LIVIDE vielleicht doch noch ein bisschen besser zu verstehen. So wie LIVIDE steht nämlich auch AUX YEUX DES VIVANTS zwischen zwei Stühlen. Der eine ist zusammengesetzt aus einer dezidiert europäischen Horrorfilmtradition, der andere bietet sein Polster vor allem Leuten an, die von Filmen wie À L’INTÉRIEUR dazu angestachelt worden sind, im modernen französischen Horrorfilm erbarmungslose Härte und kehlenzuschnürende Spannung zu erwarten. Was im letzten Drittel von LIVIDE schon eine ziemlich unglückliche Zwangsehe gewesen ist, wird bei AUX YEUX DES VIVANTS, zumindest für meine Begriffe, zur mittelschweren Katastrophe. AUX YEUX DES VIVANTS ist der mit Abstand schlechteste der drei Spielfilme, die Maury und Bustillo bislang vorgelegt haben: ein Film, in dem sich maskierte Killer umständlich unter Plüschtierhaufen in Kinderzimmern verstecken, um ihre Opfer per Handyklingeln zu sich zu locken, ein Film, in dem selbst die (weiblichen) Opfer nach zahllosen Faustschlägen, Messerstichen und Rippentritten nicht nur noch aufrecht stehen, sondern sich zudem auch noch gegen ihre Feinde zur Wehr setzen können, ein Film, dessen Finale derart unübersichtlich zusammenmontiert ist, dass ich trotz aller Aufmerksamkeit schlicht nicht begriffen habe, was dort eigentlich geschehen sein soll, ein Film, dem man quasi in jeder Szene ansieht, dass er nicht wirklich weiß, wo er hinwill: zurück zum schwärmerischen Gefühl der Kindheit und der Märchen, hin zu Slashern US-amerikanischer Prägung mit Serienmördern, die überall gleichzeitig sein und selbst in geschlossene Räume eindringen können, oder vorwärts zu einer modifizierten Fassung der home-invader-Geschichte, mit der Bustillo und Maury ihren ersten Achtungserfolg erzielten? AUX YEUX DES VIVANTS erreicht niemals die Intensität von À L’INTÉRIEUR, niemals die Poesie von LIVIDE, ist ziellos brutal und lässt so viele Ideen und Nebenplots unberührt liegen, nachdem er sie einmal flüchtig angefasst hat - (gerade der Schauplatz eines verlassenen, ehemaligen Filmsets hätte doch Grundlage für wirklich krasse metafilmische Exzesse sein können!) -, dass der gesamte Film wie ein einziger Kompromiss wirkt. Meinem persönlichen Gefühl nach ist AUX YEUX DES VIVANTS einer der schlechtesten Filme, die ich dieses Jahr gesehen habe. Sollten die beiden Franzosen nicht doch noch die Kurve kriegen, dürfte LIVIDE für mich möglicherweise nicht der noch etwas holprige Anfang eines großen Lebenswerks werden, sondern der zauberhafte Schlussakkord nach einem bereits vielversprechenden Anfang.