Frank Schäfer – Kleinstadtblues
Nach „Die Welt ist eine Scheibe“ und „Verdreht“ ist „Kleinstadtblues“ Dr. phil. Frank Schäfers dritte mutmaßlich stark autobiographisch geprägte Belletristik, 2007 überraschenderweise nicht mehr im Oktober-, sondern im Maro-Verlag erschienen. Die ehemaligen Bandkollegen des literarischen Alter Egos Schäfers, Fritz alias Pfaffe alias Friedrich Pfäfflin, sind erwachsen geworden, haben Familien gegründet oder sind im Begriff, dies zu tun und hadern mit Mitte bis Ende 30 bisweilen mit ihrem (mehr oder minder) selbstgewählten Schicksal – fühlen sich jedoch noch immer miteinander verbunden. Die alte Dorf-Clique eben.
Stilistisch wählte Schäfer erneut ein abweichendes Konzept: War das jugendliche „Die Welt…“ noch eine stringent erzählte, zusammenhängende Geschichte, war das überwiegend adoleszente „Verdreht“ bereits eine losere Sammlung von Geschichten, die durch eine immer wieder eingestreute Rahmenhandlung zusammengehalten wurde. „Kleinstadtblues“ wiederum setzt sich auf rund 120 Seiten aus in sich abgeschlossenen, sich jedoch mitunter aufeinander beziehenden Kurzgeschichten zusammen. Eine juvenile sexuelle Initiationsgeschichte eröffnet den Reigen und wird abgelöst durch eine fast rührende Erinnerung an die Geburt eines Frühchens und der damit einhergehenden Probleme unter starker Berücksichtigung der psychologischen Komponente, die ein gewisses Maß an Empathie seitens des Lesers einfordert. Diese sensible Story findet ihre Fortsetzung durch das Herzstück und die längste Erzählung des Buchs, eine schonungslos offene, nicht lange um den heißen Brei herumschwurbelnde, sich Luft machende Beschreibung einer mittelschweren Beziehungskrise nach der Schwangerschaft und der Entlassung des Kinds aus dem Krankenhaus. Die Geschichte über Sexentzug und Schwierigkeiten bei der Bewältigung des nun gänzlich neuen Alltags entwickelt sich zu einer über alte Freundschaften. Ein im Suff endender Junggesellenabschied wird in allen Details beschrieben und am Ende möchte man schon gern wissen, ob es nun wirklich zusammen mit Kumpel Knüppel nach Wacken ging oder nicht. Als Klappentext wird diese Geschichte kurz angerissen, was für den Band jedoch leider wenig aussagekräftig ist.
Mein persönlicher „Kleinstadtblues“-Höhepunkt ist unterdessen die Kindheitserinnerung „Feuersalamander“, die sich aufgrund ihres klassischen Erzählstils gepaart mit direkter wörtlicher Rede zu einem unbekannten Gegenüber stilistisch interessant beinahe wie eine protokollierte und kommentierte Gesprächstherapiesitzung anfühlt. Ihr Gegenstand ist, was es mit kleinen Kindern macht, wenn ihre Eltern sie „verschicken“, beispielsweise in ein Ferienlager oder, wie in diesem Falle, in eine Kur. Die kindliche Gefühlswelt des Verlassenwerdens, die Ungewissheit, ob es jemals so wird wie zuvor (auch aufgrund noch nicht ausgeprägten Zeitgefühls), die Konfrontation mit fremden Autoritäten und das damit einhergehende Traumatisierungspotential werden in nahegehender, nachvollziehbarer Weise exakt beschrieben und dürften beim einen oder anderen Leser unschöne Erinnerungen an ähnliche Kindheitseinschnitte hervorrufen.
Erinnerungen an jugendliche Dorferfahrungen mit Stadtmädchen aus dem als Metropole empfundenen Hannover folgen weitere an die Schulzeit, diese bereits eingebettet ins alljährliche Wiedertreffen zu Weihnachten, an deren Ende das drohende Auseinanderbrechen der Clique steht, deren Mitglieder sich in immer weitere Abhängigkeiten begeben und/oder Verantwortung nicht mehr nur für sich selbst (zu) übernehmen (haben).
Ärgerlich ist, dass gleich zwei Kurzgeschichten bereits aus vorausgegangenen Buchveröffentlichungen des Autors bekannt sind: Die Bäcker-Anekdote „Heidesand“ sowie die Ehrerbietung an die dänische Band D-A-D. Diese Wiederholungen ziehen sich leider durch Schäfers schriftstellerisches Œuvre. Ziehen Autor oder Verlag womöglich nicht in Betracht, dass man mehrere seiner Werke liest? Schäfers Rock- und Metal-Affinität (mittlerweile hat er mehrere Bücher zum Thema Heavy Metal veröffentlicht und verdingt er sich als Tonträgerrezensent u.a. für die Fachpostille „Rock Hard“, seine ehemalige Band „Salem’s Law“ war im Bereich des Power Metals anzusiedeln) scheint selbstverständlich auch über D-A-D hinaus immer wieder durch, beispielsweise durch ein Dokken-Zitat, vor allem aber in einer individuellen Auslegung des Thin-Lizzy-Klassikers „Renegade“, die den Interpretationsspielraum derartiger Straßenlyrik vermittelt und aufzeigt, wie sie sich persönlichen Erfahrungen „anpasst“ – wenn es hier auch kein Happy End gibt.
Die im imaginären Giffendorf angesiedelten Erzählungen lassen vermuten, dass es Pfäfflin respektive Schäfer mit seinen Freunden ganz gut erwischt hatte. Dennoch oder gerade deshalb schwingt – wie der Titel bereits suggeriert und das Ende von „Verdreht“ vorausschickte – immer ein gewisses Maß an Melancholie mit, selbst in freudigen Momenten. „Kleinstadtblues“ hat keine Lösungen für langsam alternde, verunsicherte, eventuell auf die Midlife Crisis zusteuernde Männer und ihren Freundeskreis anzubieten, außer der Erkenntnis, dass regelmäßiges Kontakthalten geteiltes Leid vielleicht zu halbem macht und es alte Freundschaften auch deshalb zu pflegen gilt, weil sie gegenseitigen Halt vermitteln, Kontanten in sich immer wieder entscheidend ändernden Leben in einer sich immer weiter verdrehenden Welt sind – hier versinnbildlicht als lange nicht mehr existente, jedoch Fixpunkt und gemeinsame Erinnerung gebliebene Metal-Band. Gerade weil es Schäfer auch gelingt, das dörfliche bis suburbane Lebensgefühl Heranwachsender und schließlich ebendort sesshaft Werdender einzufangen und wortgewandt fühlbar zu machen, erinnert er in seinen besten Momenten fast ein wenig an Stephen King in „Es“ oder „Stand By Me“. Schäfers Lust auf Fremdwörter wurde ein weiteres Stück zurückgenommen, stattdessen fanden einige schöne Metaphern ins Buch mit seinen vielen genauen und klugen Beobachtungen. Der eine oder andere witzige Spruch und ein Semi-Insider-Gag hier und da lockern die mitnichten todtraurige, sondern wie ein guter Blues realitätsverankerte Sammlung angenehm auf; zwischen die alte deutsche Rechtschreibung schmuggelten sich wenige Flüchtigkeitsfehler.
Unterm Strich hat mich „Kleinstadtblues“ – erwartungsgemäß –auf dem richtigen Fuß erwischt und der Grund, weshalb ich es möglicherweise als weniger traurig als andere empfinde, dürfte neben dem dankenswerterweise ausbleibenden Gejammer des Autors und seiner Protagonisten sein, dass ich mir in meiner ähnlich suburbanen Sozialisation manch hier beschriebene Erinnerung und Entwicklung gewünscht hätte. Tauschen möchte ich mit Schäfers Charakteren deshalb jedoch noch lange nicht und die Lesart, dass einem durch Verzicht auf Festanstellung, Heirat und Familiengründung vieles verwehrt, aber auch erspart bleibt, ist bestimmt nicht intendiert, indes möglich.