Martin Opitz – Buch von der Deutschen Poeterey
„Martin Opitz war der Begründer der Schlesischen Dichterschule, deutscher Dichter und ein bedeutender Theoretiker des Barock“, weiß Wikipedia. Germanistikstudenten ist er jedoch in erster Linie als Nervensäge bekannt. Sein o. g. Buch wurde in die Universal-Bibliothek des Reclam-Verlags aufgenommen und rund 220-seitig als eines der berüchtigten gelben Büchlein veröffentlicht, wobei seine o. g. Aufzeichnungen lediglich die ersten 76 Seiten ausmachen. Der übrige Teil besteht aus diversen Anhängen und Anmerkungen, die nicht Teil dieser Besprechung sein sollen.
Poeterey, das bedeutet zunächst einmal Dichtkunst/Poetik, aber auch das Nachdenken über dieselbe – und ihre Lehre. Es handelt sich um eine Auftragsarbeit während des
30-jährigen Kriegs mit dem Ziel der Legitimation deutscher Dichtkunst neben der damals gebräuchlichen französischen, lateinischen und griechischen sowie die Etablierung des Deutschen als Hochsprache. Opitz vertritt das Dichterbild des
Poeta doctus, also eines Dichters, der sowohl über sprachliches Talent als auch über fundiertes Wissen lateinischer und griechischer Dichtung und ein daraus resultierendes Regelverständnis verfügt. Opitz schlägt eine Brücke zu mittelalterlichen deutschen Dichtern wie Walther von der Vogelweide und versucht auch damit, eine Lanze für die deutsche Poesie zu brechen. So weit, so gut.
Doch gerade im Regelverständnis liegt der Knackpunkt seines Buchs, denn bei allem Wissen, über das der belesene Opitz zweifelsohne verfügte, bei allem Kunstverständnis und hehren Zielen, stellt er ein starres Regelwerk in fragwürdiger „typisch deutscher“ Krämer-, Buchhalter- und Verwaltermanier, ja, in teutonischem Ordnungs-, Normungs- und Schubladisierungswahn auf, das heutzutage glücklicherweise längst als überholt gilt. So besteht er stur auf Reime, ja, erlaubt gar ausschließlich den Jambus und den Trochäus als Versfüße, als absolute Ausnahme vielleicht noch den Daktylus, peitscht sein Verständnis von Metrik durch und manifestiert die Ständeklausel, die den Adel als Figuren für Tragödien, deren opportune Themen er sogleich aufzählt, und den Pöbel für Komödien vorsieht und predigt von oben herab ein von Elitedenken bestimmtes Bild von der Poesie, dass es regelrecht abschreckend wirkt. Und eitler Geck, der er war, bringt er in sein gestelztes Geschwafel ohne Punkt und Komma immer wieder eigene Gedichte als typische Beispiele ein, um gleichzeitig unterwürfig vor den hohen Herren von Auftraggebern in den Staub zu fallen.
Opitz hat sein Ziel mit seinem „Buch von der Deutschen Poeterey“ erreicht – doch zu welchem Preis? Jahrhundertelang wurde sein Gesetzeswerk als das Maß aller Dinge betrachtet und behielt Allgemeingültigkeit, trug damit zum haltlosen, viel zu engen Kunstbegriff und weniger dem freien, kreativen Geist als vielmehr Opitz‘ Paragraphen folgenden Vorstellungen von gutem Stil bei, derer sich zu entledigen sich als Mammutaufgabe herausstellte und die bis heute in vielen Köpfen fest verankert scheinen. Nun wäre es allerdings zu kurz gefasst, Opitz dafür die Schuld zu geben, vermutlich würde auch viel zu viel von ihm verlangt, würde man von ihm im Jahre 1624 einen derartigen Weitblick erwarten. Opitz als Grundlage in Ehren zu halten, seine Doktrin jedoch infrage zu stellen und zu reformieren, hätte anderen oblegen. Auch kann man ihn wohl kaum dafür verantwortlich machen, dass heutige Germanistikstudenten innerhalb des Teilfachs „Neuere (sic!) deutsche Literatur“ sich mit seinen bisweilen kruden Axiomen im beinahe unlesbarem Originalwortlaut herumplagen müssen. Seine damals verwendete Sprache hat mit der heutigen nur noch marginal etwas zu sein, teilweise verfügen aus lediglich drei Buchstaben bestehende Wörter über nicht weniger als drei Rechtschreibfehler. Das macht die Lektüre nahezu unerträglich und der Sinn dieser Tortur darf bezweifelt werden, schließlich hätte es eine übersichtliche Zusammenfassung des Inhalts oder – als Kompromiss, wenn es denn sein muss – eine Übersetzung in verständliches, zeitgenössisches Deutsch auch getan.
So erfüllt Opitz’ „Buch von der Deutschen Poeterey“ in erster Linie den Zweck, Erstsemester, die mit einem solchen Grauen in einem Teilfach mit dem genannten Namen niemals gerechnet hätten, abzuschrecken, ja, sie gewissermaßen zu quälen, gerechtfertigt mit Authentizität und Quellentreue. Wie viel Sinnvolleres, Anregenderes, Geistvolleres hätte in dieser Zeit gelehrt oder gemeinsam erarbeitet werden können? So dringend, wie Opitz reformiert gehörte, gehört auch der Lehrplan des 21. Jahrhunderts auf den Prüfstand. Da wundert es mich dann auch fast gar nicht mehr, dass mein Exemplar dieser Schwarte trotz sorgsamen Transports und behutsamen Umgangs innerhalb kürzester Zeit Schaden nahm, beinahe, als habe eine höhere, gerechte Macht es aus der Welt schaffen wollen. Mein „Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, das zweite Reclam-Büchlein des NdL-Erstsemesters, sieht hingegen noch fast aus wie neu, obgleich es mit wesentlich größerer Begeisterung gelesen wurde...