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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: Di 13. Sep 2016, 12:31
von karlAbundzu
Vielen Dank für den Text zu KILLING BIRDS. Oder: Wo war der Text, verdammt noch mal, als ich ihn gebraucht hab? So Ende der 90er? Oder, um deine letzte Frage zu beantworten, Ja, die Zeit ist lange reif, und du hast die richtigen Worte dafür gefunden. Vielleicht war es damals zu früh.....

Fragen schliessen sich für mich noch an, was macht Lara Wendel eigentlich? Und ihr Werk und Wirken müßte auch mal anständig erfasst werden.

PS: Auch die anderen Text sind prima: Dein FTB ist ja wie ein gutes Filmbuch, man liest und mag auch die Texte über Filme, die man nicht kennt, bzw. eigentlich auch gar nicht interessieren würde.

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: Di 13. Sep 2016, 20:22
von Salvatore Baccaro
karlAbundzu hat geschrieben:Dein FTB ist ja wie ein gutes Filmbuch, man liest und mag auch die Texte über Filme, die man nicht kennt, bzw. eigentlich auch gar nicht interessieren würde.
Merci beaucoup! :verbeug:

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: So 25. Sep 2016, 18:51
von Salvatore Baccaro
Night of the Devils

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Originaltitel: La notte dei diavoli

Produktionsland: Italien / Spanien 1972

Regie: Giorgio Ferroni

Darsteller: Gianni Garko, Agostina Belli, Maria Monti, Bill Vanders
1. Obwohl der russische Schriftsteller Alexei Konstantinowitsch Tolstoi (1817-1875) vor allem bekannt ist für seine historischen Romane, epischen Dichtungen und seine Liebeslyrik, stehen am Anfang seiner literarischen Karriere zwei kurze Erzählungen, die eindeutig dem Horror-Genre zuzurechnen sind. OUPYR, verfasst unter dem Pseu-donym Krasnorogsky, veröffentlicht 1841 und von den zeitgenössischen Kritikern ziemlich schlecht aufgenom-men, verbindet auf eine Weise Versatzstücke, Themen und Topoi der europäischen Schauerromantik miteinander, dass der Text in seinen besten Moment wirkt, als sollten in ihm die symbolistischen Fieberträume eines Gerard de Nerval vorweggenommen werden. Runewski, der Held der Geschichte, bekommt es nicht nur mit zun-genschnalzenden Vampiren und tabakschnupfenden Vampirinnen zu tun, die sich in den besten Kreisen der russischen Gesellschaft bewegen, sondern verliebt sich auch in die Enkelin eines solchen, wird nachts von zum Leben erwachenden Frauenportraits erschreckt und trifft schließlich auf einen unbekannten Fremden, der ihm von Spukhäusern am Comer See berichtet, in denen sich gesuchte Räuber und Teufelsbündner verstecken und in denen man, sollte man die Nacht dort verbringen, außerhalb von Raum und Zeit fällt, von Doppelgängern verfolgt wird und Visionen hat, in denen sprechende Greife einen zum Paris-Urteil lotsen, wo man dann die Qual der Wahl hat: soll Aphrodite, Athene oder Hera das gute Stück erhalten, oder keine von ihnen? Wenn OUPYR in seiner teilweise völlig verworrenen Struktur, seinen vor Phantasie überbordenden Traumszenen und seinem unbekümmerten Umgang mit klassischen Stofffetzen der Schauerliteratur, bei dem der Text jäh von ehrlich grusligen Momenten zur reinen Satire oder albernem Klamauk umschlägt, so etwas darstellt wie eine Antizipation von den Delirien des italienischen Horrorfilms wie sie sich, meiner Meinung nach, vor allem in Spätwerken wie Lattanzis KILLING BIRDS (1987) oder Lucchettis BLOODY PSYCHO (1989) oder Lenzis GHOSTHOUSE (1988) manifestieren, dann ist Tolstoi mit LA FAMILLE DU VOURDALAK. FRAGMENT INÉDIT DES MÉMOIRES D’UN INCONNU noch wesentlich näher an den Konventionen des Genres. Wie der Titel schon nahelegt, wurde diese äußerst kompakte Erzählung auf Französisch verfasst, und zwar zunächst bloß für die Schublade. Seine Erstveröffentlichung erlebte der Text erst 1884 nach dem Tod des Autors, allerdings in russischer Übersetzung, während die französische Originalfassung bis 1950 auf die Augen ihrer Leser warten musste. Das ist umso erstaunlicher, weil Tolstois Erzählung durchaus als integraler Bestandteil der Vampirliteratur des 19.Jahrhunderts bezeichnet werden kann: das, wenn man so will, Bindeglied zwischen den allerfrühesten Auftritten von Blutsaugern im Literaturkanon in Bürgers LENORE (1773), Goethes BRAUT VON KORINTH (1798) und Polidoris THE VAMPYRE (1816) und den späteren, gerade für das Kino wichtigen, Ausformungen vor allem in Bram Stokers DRACULA (1897). Worum geht es nun aber in Tolstois Erzählung?

Sie beginnt damit, dass sich 1815, nach dem Wiener Kongress, einige Diplomaten, Aristokraten, Politiker nicht dazu entscheiden können, die Donaustadt zu verlassen, und deshalb noch eine Weile ihre Zeit in Salons tot-schlagen, wo sie allerdings nicht mehr über Politik sprechen wollen, sondern sich stattdessen Geschichten erzäh-len. Eine der Erzähler ist ein alter Emigrant namens Marquis d’Urfé, der sich anbietet, ein Erlebnis aus seiner Ju-gend – genauer: aus dem Jahr 1759 - zum Besten zu geben. Damals sei der Schürzenjäger unsterblich in eine Herzogin verliebt gewesen, die seinen Avancen jedoch tapfer standhielt, weshalb er sich auf eine diplomatische Mission nach Moldawien schicken lässt, um in der Fremde seinen Liebeskummer zu vergessen. Auf seiner Reise gerät er in ein isoliertes Dorf, in den der einbrechende Winter ihn für einige Tage zum Bleiben zwingt. Er kommt bei einer Familie unter, deren Haussegen mehr als schief zu hängen scheint. Der Vater, Gorcha, ist schon seit Ta-gen in den Wäldern verschwunden, um dem türkischen Räuber Ali Bek das Handwerk zu legen. Zurückblieben Georg, sein ältester Sohn, dessen jüngerer Bruder Peter, die Schwester Sdenka sowie die Mutter und die beiden kleinen Kinder Georgs. Vor seinem Aufbruch hat Gorcha seiner Familie folgenden Befehl erteilt: Sollte er nicht in exakt zehn Tagen zurück sein, sollten sie sämtliche Türen und Fenstern vor ihm verschließen und ihn nie wieder zu sich hereinlassen, denn dann sei er zu einem Wurdalak geworden, und könne nur noch Unheil über seine Liebsten bringen. Der Tag, an dem der Marquis bei der Familie Unterschlupf findet, ist nun ausgerechnet der zehnte, und voller Sorge und Kummer wartet der gesamte Haushalt darauf, ob Gorcha vor dem achten Glocken-schlag bei ihnen sein wird oder nicht. Er erscheint schließlich, jedoch genau während die Glocke des nahen Klos-ters schlägt, und es ist unmöglich für die Familie zu entscheiden, ob er sich nun verspätet hat oder nicht. Auf jeden Fall scheint der alte Mann viel mitgemacht zu haben. Er wirkt zerzaust, unfreundlich, verweigert das Abendessen. Dafür hat er aber den abgetrennten Kopf Ali Beks im Gepäck. Sie sollen ihn an die Haustür nageln, befiehlt er seinen Kindern, und außerdem, den treuen Familienhund zu erschießen, der seit seiner Rückkehr nicht zu bellen aufgehört hat. Georg ahnt, was niemand auszusprechen wagt: Gorcha ist tatsächlich von Ali Bek, bevor er ihn zur Strecke hat bringen können, zu einem Wurdalak gemacht worden, und die einzige Möglichkeit, ihn zu erlösen, wäre, ihm einen Pfahl ins Herz zu treiben, eine Tat, zu der jedoch keins seiner Kinder bereit ist. Bald schon sieht unser Ich-Erzähler sich nicht nur in amouröser Weise mit Sdenka verbandelt, in der er seine unglückliche Liebe aus Paris wiederzuerkennen meint, sondern beginnt auch eine Reihe unheimliche Ereignisse den Familienfrieden noch weiter zu stören. Auch der Wurdalak verfügt, wie später Dracula, über die hypnotische Fähigkeit, seine Opfer allein dadurch an Ort und Stelle zu fesseln, indem er sie nur intensiv genug anstarrt. Auch der Wurdalak tötet zwar mit Vorliebe nachts seine Opfer, kann aber auch, wie der Graf zumindest noch in Stokers Roman, tagsüber aktiv sein. Der entscheidende Unterschied diese rustikalen Variante des Blutsaugers im Gegensatz zu seiner aristokratischer Verwandtschaft ist: Der Wurdalak konzentriert sich zunächst einmal auf die Menschen, die ihm im Leben am nächsten gestanden haben, sprich: Familienmitglieder, Freunde, Geliebte, also all diejenigen, denen es wesentlich schwieriger fällt, ihre untoten Angehörigen vom Leben in den Tod zu befördern, als irgendwelchen Unbeteiligten - weshalb es dem Wurdalak, im Gegenzug, wesentlicher leichter fällt, ein ganzes Dorf epidemisch zu verseuchen als einem Grafen Dracula, dessen Opferwahl vergleichsweise unkritischer ausfällt. Schon jetzt dürfte klar sein, dass unser Marquis sich alsbald nicht nur mit den nach und nach vampirisierten Nachkommen Gorchas herumschlagen muss, sondern auch mit Sdenka, die ihre Liebesbisse exklusiv für ihn bereithält.

2. Mit I TRE VOLTI DELLA PAURA hat Mario Bava 1963 die erste Horrorfilmanthologie des italienischen Kinos gedreht. Neben den Episoden Nr.1 und 3, IL TELEFONE und LA GOCCIA D’ACQUA, die beide in der Gegenwart spielen, relativ handlungsarm sind und wohl eine der schrecklichsten Leichenfratzen der gesamten Horror-filmgeschichte aufbieten (LA GOCCIA D’ACQUA) respektive zum ersten Mal zeigen wie fetischisierte schwarze bzw. gelbe Lederhandschuhe einen Frauenhals streicheln (IL TELEFONE), bildet I WURDALAK das Herzstück der Sammlung. Bava adaptiert Tolstois Erzählung hier teilweise wortgetreu. Die einzigen Änderungen, die er anbringt, dienen dazu, die Geschichte noch grausiger zu machen als sie sowieso schon ist. So fällt beispielweise die kurz nach dem Wiener Kongress angesiedelte Rahmenhandlung komplett der Schere zum Opfer. In Tolstois Originalgeschichte hatte der Umstand, dass den versammelten Damen und Herren sowie dem Leser und den Leserinnen die schaurigen Vorfälle im moldawischen Hinterland quasi als Erinnerungen eines noch immer nicht gänzlich erkalteten Lustgreis vermittelt werden, für den einen oder anderen auflockernden Moment gesorgt, wenn der Marquis seine Erzählung immer wieder mit prahlerischen Bemerkungen darüber unterbricht, wie viele Frauenröcke er in seinem langen Leben bereits gelüftet hat. Eine weitere wichtige Differenz: In Tolstois Geschichte gibt es eine Zäsur von mehreren Monaten, in denen der Marquis die Familie des Wurdalak verlassen hat, um seine Diplomatenmission zum Erfolg zu bringen. Georg hat ihn quasi dazu gedrängt, nachdem das Eis auf der Donau geschmolzen ist, um den Fremden aus dem Haus und aus seinen Familienangelegenheiten heraus zu haben. Während der weiteren Reise verblasst in unserem Marquis schnell die Erinnerung an Sdenka, die er vorher noch die Liebe seines Lebens genannt hat, und eher zufällig gerät er später nochmal in die Gegend, wo ihr Geburtsdorf liegt. Das ist inzwischen jedoch völlig verwaist, und trotz der Warnung des Einsiedlers des naheliegenden Klosters reitet der Marquis in es hinein, um, was für eine verrückte Idee!, ausgerechnet im Haus Sdenkas die Nacht zu verbringen. Diese erwartet ihn dort indes schon mitsamt ihrer Familie, um seines Bluts habhaft zu werden. Dass sie das nicht schafft, zeigt allein schon, dass der Marquis knapp fünfzig Jahre später davon erzählen kann. Trotzdem gehört seine panische Flucht, bei der seine Verfolger, was für ein verrückter Einfall!, mitunter die vampirisierten Kinder als Wurfgeschosse gegen ihn verwenden, zu den wohl fiebrigsten Finalen der Horrorliteratur des 19.Jahrhunderts. Da bei Bava die gesamte heitere Rahmung fehlt, muss er ebenfalls nicht allzu gnädig mit seinem jungen Helden Mark Damon alias Vladimir umspringen. Nachdem er mit Sdenka in das nahe Kloster – bei Bava eine bloße Ruine – geflüchtet und sie dort trotzdem von Gorcha – Boris Karloff in einer seiner besten Rollen! – überwältigt worden ist, wird auch Vladimir ihr nächstes Opfer, und die Seuche kann sich ungehindert weiterverbreiten.

Für mich ist I WURDALAK mit seinen tristen, tieftraurigen und nebelumschlungenen Landschaften, seinen ver-fallenen Klöstern und schattenreichen Bauernhäusern, dem formvollendeten Chiaroscuro, den, gerade in den echten oder unechten Außenaufnahmen, irrealen Primärfarbenspielerein eine von Bavas visuell schönsten Arbei-ten. Zwar lehnt sich der Film sichtbar an die sogenannten Poe-Verfilmungen an, die Roger Corman, unter anderem mit Mark Damon als Darsteller, in den 60ern für die American International Pictures realisierte – und die waren visuell schon ein wahres Fest -, doch Bava setzt, einmal mehr, alles daran, die seinerzeit wohl buntesten Horrorfilme noch einmal ins beinahe schon Experimentelle zu transzendieren. Anfang der 60er befindet sich Ma-rio Bava, meiner Meinung nach, auf seinem künstlerischen Zenit, und schafft es, sowohl von den Drehbüchern her ordinäre Western wie LA STRADA PER FORTE ALAMO (1964) oder Sandalenfilme wie ERCOLE ALL CENTRO DELLA TERRA (1961) zu Farbräuschen auszugestalten, die weit über den engen Rahmen der Leinwand hinüberschwappen, und das Publikum nicht mit psychologisch glaubwürdigen Charakteren oder logisch nachvollziehbaren Plots in Sicherheit wiegen, sondern vielmehr ein sich innerhalb von Studiokulissen seine eigene Kunstwelt erschaffendes Kino der Impulse bieten, bei dem auf die Atmosphäre alles ankommt, und auf die Vernunft gar nichts. Bavas Inszenierungsstil und Tolstois Erzählung passen dabei so perfekt aufeinander wie zwei Eckzähne in einen schutzlosen Frauenhals, und gerade weil I WURDALAK nicht auf Spielfilmlänge gedehnt werden musste, sondern mit etwa einer Dreiviertelstunde auskommt, kann Bava die Schreckensschraube sich konsequent, ohne auf Füllszenen ausweichen zu müssen, zuziehen lassen.

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Abb.1: Vielleicht eine der schönsten Bildkompositonen, die Bava jemals auf die Leinwand gezaubert hat, und angesichts deren Schönheit ich mir weitere Worte ersparen muss.

3. Zu der Zeit, als Mario Bava LA FAMILLE DU VOURDALAK in bewegte Bilder übersetzt, hat Giorgio Ferroni bereits mit IL MULINO DELLE DONNE DI PIETRA (1960) den ersten italienischen Gothic-Horrorfilm in Farbe gedreht. Pierre Brice wird dort konfrontiert mit Motiven aus dem Wachsfigurenkabinett-Subgenre wie man es aus solchen Klassikern wie DAS WACHSFIGURENKABINETT (1924), MYSTERY OF THE WAX MUSEUM (1933) oder HOUSE OF WAX (1953) kennt und diese mit einer gehörigen Portion mad-scientist-Terror gemixt, wobei die Geschichte um einen greisen Professor, der einen Arzt dazu zwingt, dass er mittels entführter junger Frauen seiner längst verstorbenen Tochter das untote Leben künstlich verlängert zudem ziemlich nach Georges Franjus Meisterwerk LES YEUX SANS VISAGE (1960) schmeckt. Trotz oder gerade wegen der vielen Anleihen ist Ferroni mit seinem Mühlenfilm ein vorzüglicher Vertreter der italienischen Gotik gelungen, der vor allem von einer Optik profitiert, die man durchaus als Bava light bezeichnen könnte. Dabei steht IL MULINO DELLE DONNE DI PIETRA jedoch ziemlich singulär in Ferronis Oeuvre. Begonnen hat der Gute bereits Mitte der 30er als Regieassistenz von Carmine Gallone und Gennaro Righelli, bevor er mit einer Dokumentation über Pompeji 1936 seine erste eigenständige Regiearbeit realisieren konnte. Es folgten weitere Kurzdokumentation wie VERTIGINE BIANCA (1953) über den Skirennläufer Toni Sailer, mit Il FANCIULLO DEL WEST 1942 möglicherweise der erste italienische Western – wenn es sich auch angeblich um eine bewusste Parodie auf die US-amerikanischen Edelwestern handelt und nicht um einen Vorläufer des späteren Leone- oder Corbucci-Stils -, neorealistische Melodramen wie TOMBOLO, PARADISO NERO (1947) und überhaupt zahllose Filme, die ich gerne sehen würde, die aber wohl, wenn sie denn überhaupt noch existieren, in irgendwelchen Archiven den Dornröschenschlaf schlummern, und auf den weckenden Kuss warten, der vielleicht niemals kommen wird. IL MULINO DELLE DONNE DI PIETRA bedeutet dann eine Zäsur in Ferronis Schaffen. Sämtliche Filme, die er nach diesem zu verantworten hat, sind vergleichsweise leicht zugänglich und lassen sich allesamt dem italienischen Genre-Kino zuordnen. Horror findet bei Ferroni in den 60ern allerdings kaum mehr statt, vielmehr verlegt er sich, in der ersten Hälfte des Jahrzehnts, vor allem auf die üblichen peplums mit Titeln wie ERCOLE CONTRO MOLOCH (1963) oder IL COLOSSO DI ROMA (1964), und, in der zweiten Hälfte, auf nunmehr originäre Italowestern wie UN DOLLARO BUCATO (1965) oder WANTED (1967). Bevor er sich Mitte der 70er nach dem Robin-Hood-Abenteuer L’ARCIERE DI FUOCO (1971) und dem Action-Klamauk ANTONIO E PLACIDO – ATTENTI RAGAZZI… CHI ROMPE PAGA zur Ruhe setzt, schenkt er dem italienischen Horrorfilm mit LE NOTTE DEI DIAVOLI (1972) noch ein Werk, dessen Anfang wohl – neben Mario Bavas LA MASCHERA DEL DEMONIO (1960) und Dario Argentos SUSPIRIA (1977) – zu den mitreißendsten, effektivsten, affizierendsten Anfängen eines italienischen Horrorfilms überhaupt gehören dürfte.

4. Ferronis Film beginnt wie folgt: Vor malerischer Kulisse – da rauscht ein Wasserfall, da grünen die Wiesen, da bläut sich der Himmel – stolpert Gianni Garko alias Nicola zerschunden und wie von Sinnen ins Bild, bricht schließlich zusammen. Er erwacht in einem Städtischen Krankenhaus, und zwar in völliger Apathie. Weder trägt er Dokumente bei sich noch sonst irgendetwas, das den behandelnden Ärzten verraten würde, um wen es sich bei ihm handelt und wie er in diesen erbarmenswürdigen Zustand gekommen ist. Deshalb schlägt der Chefarzt vor, ihn einer neumodischen Therapie zu unterziehen, deren Ziel es sein soll, sein Gedächtnis anzukurbeln. Wie Alex in Kubricks CLOCKWORK ORANGE sitzt Nicola in seinem OP-Stuhl, um den Kopf eine Korona aus Kabeln und Drähten, im Gesicht ein ständig aufblinkendes rotes Licht, hinter sich Röntgenaufnahmen des eigenen Schädels, in den Ohren die ausgesprochen aufwühlende Musik von Giorgio Gasilini, die aus nichts weiter aus abgehackten Klavier-Akkorden und einem enervierenden, konstanten Fiepen besteht, und vor sich eine Kamera, die langsam auf ihn zufährt. Im Gegenschuss sehen wir, was Nicola wiederum vor seinem geistigen Auge sieht: Da ist, in Großaufnahme, das halbverweste Gesicht einer Leiche, auf der sich Maden tummeln. Da ist das Gesicht einer Frau mit zum Oval eines Schreis geöffnetem Mund, der förmlich die Haut vom Knochen gesprengt wird. Da ist eine weitere Frau, oder dieselbe, splitterfasernackt umringt von Kunstnebel, während die Kamera von unten her ihren Körper hinauffährt. Da sind Finger, die über einen nackten Körper kratzen, und tiefe blutige Furchen hinterlassen. Da sind, durch ein Gatter beobachtet, zwei vermummte Gestalten, die sich an einem Leichnam zu schaffen machen. Da sind zwei Hände, die nach Gitterstäben greifen. Da ist, zuletzt, eine Hand, die in einen geöffneten Menschenbauch hineinfasst und diesem ein pulsierendes Herz entnimmt, das in Großaufnahme seine letzten Schläge tut. Währenddessen wird immer wieder zu Nicolas geschnitten, der all diesen zusammenhanglos zusammenmontierten Szenen als lethargischer Zuschauer beiwohnt, jedoch scheinbar unfähig ist, sie zu artiku-lieren. Der Trip in die schlimmsten Gründe menschlicher Phantasie endet damit, dass der Chefarzt sein Experi-ment abbricht, und Nicola zurück in sein Krankenzimmer darf, nachdem man festgestellt hat, dass er nicht mal sein eigenes Spiegelbild zu erkennen scheint. An dieser Eröffnung ist mehreres bemerkenswert. Zunächst der surreale Impetus, mit der die Alptraumszenen in Nicolas‘ Innerem aneinandergereiht werden. Es besteht schlicht kein logischer Zusammenhang zwischen den einzelnen Gräueln, und würde ich es nicht besser wissen, hätte ich angenommen, all diese Fragmente des Grauens seien ursprünglich gar kein Bestandteil von LE NOTTE DEI DIAVOLI, sondern dem Film erst später von einem ökonomisch denkenden Produzenten beigefügt worden. Zwar gibt es die eine oder andere motivische Entsprechung zur weiteren Handlung – die Finger zum Beispiel, die ihre Schlieren auf schutzloser Haut hinterlassen, finden sich später im Holz einer Haustür wieder, und der explodierende Frauenkopf ist relativ eindeutig nach dem Vorbild der weiblichen Hauptdarstellerin Agostina Belli modelliert -, zumeist wirken die Aufnahmen jedoch wie stichpunktartige Schlüssellocheinblicke mitten hinein in eine Hölle wie sie Hieronymus Bosch oder Peter Breughel nicht heftiger hätten ausmalen können. Das wäre dann die zweite Besonderheit dieser Exposition: Der für die Effekte zuständige Carlo Rambaldi legt sich keine Zügel an, und liefert vor allem mit der manuellen Herzentnahme und dem zerfetzt werdenden Kopf, der schon fast an die ähnlich ausgefallene Demontage des Köpfchens der armen Maria Pia Marsala in Lucio Fulcis L’ALDILÀ (1981) erinnert, zwei Szenen, die nominell als handfester Splatter durchgehen können. Die ersten, sagen wir, fünf Minuten von LE NOTTE DEI DIAVOLI können, selbst wenn der eine oder andere Effekt ein bisschen vom Zahn der Zeit angenagt worden sein mag, meiner Meinung nach, Anspruch erheben auf einen Platz im Olymp des Italo-Horrors. Diese ersten fünf Minuten sind verstörend, beklemmend, unglaublich virtuos montiert, und ein kleines Kunstwerk für sich, das, wie zum Beispiel die surrealen Traumszenen in Gianfranco Mingozzis FLAVIA, LA MONACA MUSULMANA (1974), keiner Erklärung bedarf, weil sie gar nicht vollends erklärt werden können und sollen.

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Abb.2+3: Zwei Filme kommunizieren über Kinderaugen miteinander. Die Kleinen in Ferronis LE NOTTE DEI DIAVOLI, sicherlich bewusst innerhalb des Fensterrahmens angeordnet, dass es an die Totenphotographien des 19.Jahrhunderts erinnert - und das, wohlbemerkt, bevor Brüderchen und Schwesterchen Kontakt zu den Vampiren gehabt haben! - blicken mit toten Augen durch die Scheibe und beobachten den von den Untoten zurückkehrenden Knirps in Bavas I WURDELAK.

5. Dabei sollte man LA NOTTE DEI DIAVOLI allerdings nicht bloß auf seinen wüsten Anfang reduzieren. In seinem Kern nämlich beruft auch Ferronis Film sich, wie Bava vor ihm, auf Tolstois Erzählung vom Wurdulak. Dass er den kurzen Text auf Spielfilmlänge ausweiten musste, hätte zu einer großen Menge Füllszenen führen zu können, die den Gang der Handlung mehr hemmen als fördern, doch das Drehbuch der Herren Migliorini, Mussetto und Brochero verlegt sich auf einen Kniff, der, meine ich, gar nicht genug gelobt werden kann. Was ich über die ersten Minuten von LA NOTTE DEI DIAVOLI geschrieben habe, deutet es bereits schon an: Wie bei Tolstoi hat unser Held die Zusammenstöße mit den Wurdalaks überlebt, und befindet sich in ärztlicher Obhut in einem hochmodernen Krankenhaus mitten in einer hochmodernen Großstadt. Da bekommt er Besuch von einer jungen Frau, die vorgibt, ihn zu kennen. Natürlich lässt der Chefarzt sie zu Nicola, doch als der sie sieht, bricht er in Raserei aus. Kurz darauf ist die Frau spurlos verschwunden, hat nur eine komplett leere Handtasche zurückgelassen. Erst jetzt, nach dreizehn Minuten, bekommen wir, jedoch nicht die Ärzte, Nicolas Leidensgeschichte, nach einem Zoom auf seine weggetretene Miene, als Rückblende serviert, und diese Rückblende, die den Grundstock von LA NOTTE DEI DIAVOLI ausmacht, folgt ebenfalls der Tolstoi’schen Vorlage bis ins Detail. Der erwähnte Kniff ist nun folgender: Ferroni lässt seinen Film in einem Krankenhaus beginnen, einer, um mit Michel Foucault zu sprechen, Heterotopie, die vorrangig für Menschen in Extremsituationen gedacht ist, für Kranke, Sterbende, Geborenwerdende, einem, um mit Marc Augé zu sprechen, Nicht-Ort, dessen Bewohner ständig wechseln, und der ohne Geschichte ist, ohne Identität, und einen rein funktionellen Zweck erfüllt. Die Krankenhausgänge sind leer, weiß. Ebenso die Zimmer. Die Betten gleichen einander wie ein Ei dem andern. Selbst die Schwestern sind in ihren Kitteln kaum voneinander zu unterscheiden. In den Krankenhausszenen von LA NOTTE DEI DIAVOLI herrscht Anonymität, Technologisierung und eine anonyme Kälte, dass man meinen könnte, man befände sich an Bord eines seelenlosen Raumschiffes. Völlig im Kontrast hierzu steht der Hauptstrang der Geschichte. Dieser ist im jugoslawischen Hinterland angesiedelt, wo Nicola, über dessen Biographie wir übrigens rein gar nichts erfahren, die obligatorische Autopanne hat, und deshalb bei der obligatorischen Bauernfamilie Hilfe sucht. Schon Nicolas Erkundungsgang ins nächste, scheinbar verlassene Dorf ist eines der Meisterwerke topologischen Schreckens wie ihn das italienische Horrorkino so gerne zelebrierte, d.h. eine lange, völlig dialogfreie Studie davon wie unser Held einen unheimlichen Ort inspiziert, und dabei auf immer unheimlichere Dinge stößt: auf Kinder, die scheinbar leblos, fast wie in einer Totenphotographie des vorigen Jahrhunderts, in Fensterrahmen sitzen, auf Hunde, deren Bellen das einzige Geräusch ist, das die Stille etwas mildert, auf eine Schwermut, die in den Baumwipfeln rauscht und über den efeubewachsenen Mauern der Bauernhäuser weht. Ähnlich wie später Fulci und Argento, vor ihm aber schon Bava setzt Ferroni wirklich jedes Mittel ein, Nicolas Trip von der Moderne in eine schauerromantische Vergangenheit so affektiv wie möglich auf seine Zuschauer wirken zu lassen: Von der Tonspur ertönen exotische Vogel- und Affenschreie, einmal sogar Wildschweingrunzen, die Landschaft ist in ein unwirkliches Licht getaucht, und die Kamera fährt elegisch wie ein Trauerzug unserem Helden hinterher, so, als würde sie ihn schon vor seiner Zeit zu Grabe tragen. Deutlicher könnte die Dichotomie nicht gemacht werden, die LA NOTTE DEI DIAVOLI zwischen seinem Haupterzählstrang und dessen Rahmung eröffnet: Rationalismus und Supernaturalismus stehen einander in diesem Film auch strukturell feindselig gegenüber. Während zu Beginn und am Ende die positivistische Wissenschaft alles, was Nicola nun unter den jugoslawischen Waldbewohnern erleben wird, als Hirngespinste abzutun bestrebt sein wird, spricht das Herz des Films noch immer die Sprache der italienischen Gotik, in der die Grenzen zwischen Traum und Realität derart fließen sind, dass etwas, was man träumt, plötzlich Realität werden kann, und etwas, das man als real erachtet, plötzlich bloß Teil eines Traums ist.

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Abb.4+5: Die Mitbringsel des Familienoberhauptes bei Bava und bei Ferroni: Im Film des ersteren handelt es sich um den Kopf eines türkischen Wegelagerers, im Film des zweiteren handelt es sich um die Hand einer verbrecherischen Hexe, der Ekelfaktor ist in etwa der gleiche.

Besonders deutlich wird dieses Ausspielen von Vernunft und Phantasie, das man zum Beispiel aus der Literatur der Romantik, am prominentesten wohl von E.T.A. Hoffmann, kennt, darin, dass die Welt, in die uns der Film nach Nicolas Autopanne führt, fast gänzlich frei ist von irgendwelchen Objekten, die sie eindeutig innerhalb des Zeitstroms markieren würde. Das Dorf, in dem Gorcha, Sdenka und Jovan leben, ist von der Zeit vielmehr ver-gessen worden, und wäre da nicht Nicolas‘ Auto, könnte der Mittelteil des Films genauso gut in irgendeinem der vorherigen Jahrhunderte spielen. An einigen wenigen Stellen thematisiert das der Film, klug wie er ist, selbst. In den Gesprächen zwischen Nicola und Sdenka, in die er sich, genau wie der Marquis bei Tolstoi und Vladimir bei Bava, Hals über Kopf verliebt, wird mehr als einmal offenbar, dass beide aus ganz unterschiedlichen Welten stammen. Nicola merkt an, sei er zu Hause und nicht zufällig in ihrem Dorf gelandet, würde er jetzt – es ist früher Abend – wahrscheinlich fernsehen. Sdenka erwidert, sie wisse gar nicht, was das sei, Television, kenne es bloß vom Hörensagen. Nur einmal, erzählt die junge Frau daraufhin, sei sie in der Stadt gewesen, zum Shoppen. Mit der Nicola vertrauten Welt hat die folkloristische, in die ihn LA NOTTE DEI DIAVOLI verschlagen hat, tatsächlich wenig zu tun. Eine Szene, die den endgültigen Einbruch des Phantastischen markiert, ist eine, die sich anfühlt und die aussieht wie eine direkt aus einem Gothic-Horrorfilm der 60er Jahre. Die bitterböse Hexe, von der der Fluch des Wurdalaks ausgeht – und die Ferronis Film als Ersatz für den türkischen Banditen Ali Berk anführt, möglicherweise, um die Handlung noch weiter historisch und topographisch zu entgrenzen -, begibt sich zum Grab des letzten Wurdalak-Opfers – bereits hat es nämlich, anders als in der Vorlage, den Bruder des Familienoberhaupts erwischt -, und träufelt etwas ihres Blutes auf die Begräbnisstätte. Dieses Ritual ist der Ausgangspunkt für das folgende Grauen, das sich dann relativ analog zur literarischen Vorlage abspielt: Nach und nach verwandelt sich ein Familienmitglied nach dem andern in einen Vampir, und Nicola schafft zwar die Flucht, um, was dann doch ein Einfall des Films ist, seine Laufzeit ein bisschen zu strecken, in der nächsten Stadt einen Priester aufzusuchen, der einst Exorzist gewesen ist und dann strafversetzt wurde zum Organisten, kehrt dann aber zur Familie zurück, die inzwischen ausnahmslos nach Blut dürstet. Wie gesagt: Stimmung und Bilder sind ausnahmslos der Tradition der italienischen Gotik entnommen. Da gibt es einsame Waldfriedhöfe und knarzende Türen und schreiende Käuzchen und alles wird von den Fäden zugedeckt, die die Nebelmaschine im Off spinnt. Ferroni steht Bava in nichts nach, wenn es darum geht, eine zugleich unheimliche, beklemmende, aber auch schwermütige, verlorene Atmosphäre heraufzubeschwören. Vor allem aber mutet Ferroni seinem Publikum, was allein schon die von mir ausführlich beschriebene Exposition gezeigt hat, einige Gore- und Splatter-Effekte zu, die in ähnlicher Form auch in einem italienischen Horrorfilm der 80er hätten Verwendung finden können.

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Abb.6: Was wie ein Loblied auf die Errungenschaften der modernen Wissenschaft beginnt, entwickelt sich bald zu einem Abgesang auf sie. Während die Ärzte glauben, sie bräuchten lediglich Nicolas Kopf an eine ihrer Maschinen anschließen und den Film damit vorzeitig beenden, indem sie diese eine rationale, logische Erklärung für die unheimlichen Vorfälle ausspucken lassen, zeigt Ferroni uns stattdessen das Innenleben seines Helden als eine Abfolge schrecklicher Szene ohne jedwede Kontinuität und Sinnhaftigkeit, so, als hätte man mit UN CHIEN ANDALOU die Teilnehmer eines Psychoanalytischen Kongresses in die Flucht geschlagen.

Die Pfählungen stehen noch ganz in der Tradition der britischen Hammer-Studios. Wir sehen in Großaufnahme die Brustkörbe, und den Pfahl, der in sie hineingehämmert hat, und schon stürzt eine Blutfontäne aus der Wunde, deren Rot viel zu grell ist, um realistisch zu wirken. Mit einem weiteren Kniff aber kann Ferroni die vermeintliche Künstlichkeit des Lebenssafts seiner Protagonisten unterminieren: Nicht nur zeigt er zweimal gehäutete Rinderköpfe, die scheinbar von unserer Hexe auf dem Gelände verstreut worden sind und die die Kamera mit toten Augen mustern, auch hat er vor die Hinrichtung Gorchas die Häutung eines echten Kaninchens geschaltet, das von einem der erwachsenen Brüder des Hauses seines Fells beraubt wird – natürlich auch das in Großaufnahme. Das wirkliche Töten wird damit mit dem rein fiktionalen Töten parallelisiert – ähnlich wie in Deodatos CANNIBAL HOLOCAUST (1980), wo wir auch deshalb für möglich halten, dass die Toten auf der Leinwand echte tote Menschen sind, weil wir zuvor mehr als einmal gesehen haben, wie ein echtes Tier für die Leinwand sterben musste -, und nimmt den Pfählungsszene ein wenig ihre offensive Artifizität. Das Finale ist dann, genau wie bei Tolstoi, eine tour-de-force des Terrors. Nicola realisiert, dass Sdenka schon längst zu den Untoten gehört und nimmt die Füße in die Hand, um in sein Auto und zurück in die Welt der ratio zu kommen. Leider ist die Familie des Wurdalak schon zur Stelle, um sein Fahrzeug zu belagern, das, zu allem Überfluss, auch noch mit den Hinterreifen im Erdreich feststeckt. Was folgt, sind Szenen der blinden Panik, der ungezügelten Brutalität und des schieren Wahnsinns, wenn der Mutter sämtliche Finger einer Hand per Autotür abgetrennt werden, und sie die Beifahrerscheibe danach wild lachend mit dem spritzenden Blut beschmiert, und wenn Nicola, als er endlich losfahren kann, einen der Brüder über den Haufen fährt, während der andere, schon zuvor Getötete, sich in Zeitlupe in eine schmierige, pestartige Masse verwandelt, die kaum noch etwas Menschliches hat, und wenn am Ende die beiden Kleinkinder, Brüderchen und Schwesterchen, amüsiert kichernd mit dem Finger auf den davonfahrenden Nicola zeigen und sich kaum noch einkriegen vor Belustigung.

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Abb.7: Meine liebste Szene des Films. Zunächst glaubt man, sie könne auch aus Sergei Parajanovs TINI ZABUTYKH PREDKIV stammen. Zwei stattliche Rinder. Ein tiefer Wald. Ein paar Bauern folgen. Sie ziehen irgendeine Last. Dann, je näher sie der Kamera kommen, erkennt man erst, dass es sich um ein Auto handelt, was sie ziehen, und irgendwie ist der Zauber gebrochen, und wir sind von den grellen Lichter der Straßenlaterne unter unserem Fenster aus den Schatten unserer vergessenen Ahnen herausgeholt werden.

6. Wir kehren zurück in die Klinik. Sdenka, denn sie ist die junge Frau, die Nicola unbedingt besuchen will, spricht nicht noch einmal beim Chefarzt vor, sondern verschafft sich gleich selbst Zutritt zu unserem mit einer Zwangs-jacke versehenen Helden. Wer bis zuletzt auf eine Auflösung wartet, die offenlegen würde, ob Nicola tatsächlich irrsinnig ist, und sich die gesamte Vampirmär nur im wirren Kopf zusammengereimt hat, oder ob es sich bei Sdenka tatsächlich um eine Bluttrinkerin handelt, die ihre Rolle so gut spielt, dass jeder ihr die Unschuld abkauft bis Nicola sie mit einem Eisenstab richtet, der wird LA NOTTE DEI DIAVOLI nur schwer enttäuscht verlassen können. Ferronis Gegenüberstellung von dem geschichts- und gesichtslosen Krankenhaus, in dem die Patienten nicht viel mehr als bloße Nummern und Gefäße interessanter Krankheiten sind, und das orts- und zeitungebunden überall auf der Welt in dieser Form existieren könnte, und dessen Ästhetik gegen Null tendiert, da es funktional sein soll, und nicht hübsch ausschauen, und dem geschichtsträchtigen Haus der Wurdalak-Familie, dessen wettergegerbtes Gesichts, bei jedem Schritt knirschenden Dielen und von zahllosen Generationen von Händen stumpf gemachte Türklinken ganze Bände an Geschichten füllen könnten, erreicht ihren Höhepunkt nämlich da-rin, dass LA NOTTE DEI DIAVOLI quasi zwei völlig unabhängig voneinander funktionierende Enden anbietet. Das erste Ende: Nicola ist wirklich einer Bande Ungeheuer in die Fänge gefallen und haucht sein Leben ebendort aus bevor er dann ebenfalls als Untier wiederkehren wird – ein Ende, das völlig kongruent zu dem in Bavas Adaption der Geschichte ist. Das zweite Ende (bei dem wir natürlich die Rahmung wegdenken müssen): Nicola hat sich all die seltsamen Vorfälle im jugoslawischen Hinterland bloß eingebildet, alle Gespenster sind bloß seiner Phantasie entsprungen bzw. ihm dort von der abergläubischen Bauernfamilie eingepflanzt worden und verfolgen ihn allein deshalb bis in die vermeintliche Sicherheit des Hospitals, weil er selbst vielleicht nicht ihr Schöpfer, aber ihr Wirtskörper ist. Sdenka ist ihm in die Großstadt gefolgt, da sie die fatalen Irrtümer erkennt, zu denen ihre Brüder die bäurische Superstition getrieben hat, und nunmehr auch Nicola zur Vernunft bringen will, worauf dieser sie, schon zu weit weggerückt von Fortschrittsideologie und aufgeklärter Geisteshaltung, in einem Anfall panischen Schreckens um ihr Leben bringt. Noch einmal muss ich auf die Deutsche Romantik kommen, die für mich sowieso in vielem Pate für das (nicht nur italienische) Horrorkino steht. Gerade diese Epoche hat nicht nur eine besondere Affinität zu schlimmen Stoffen voller Doppelgänger, lebender Toten, verwerflicher Mönche oder dem leibhaftigen Teufel. Einerseits ist die Romantik nämlich zwar eine Absage an den Vernunftglauben der Aufklärung, im selben Atemzug aber, mit dem sie dessen bis in die letzten schattigen Winkel der menschlichen Psyche vordringendes Licht auspustet, versucht sie, deren vernunftorientiertes Denken in den Dienst ihres eigenen phantastisch sprießenden Denkens zu integrieren. Deshalb gibt es in den meisten Erzähltexten der Romantiker wie Hoffmanns SANDMANN, Arnims TOLLER INVALIDE AUF DEM FORT RATONNEAU oder Eichendorffs MARMORBILD auch immer zwei Möglichkeiten, die meist ziemlich wilden, verrückten Vorkommnisse darin zu deuten: zum einen rational, zum andern irrational, so wie bei diesen witzigen Vexierbildern, die man drehen und wenden kann wie man will, man sieht immer entweder nur die eine oder die andere Seite, nie beide gleichzeitig. LA NOTTE DEI DIAVOLI ist ein vollkommen effektiver Horrorfilm, aber auch ein erfolgreicher Erbe jener Epoche, der er nicht nur huldigt, indem er einen ihrer Erzähltexte zur Grundlage nimmt, sondern auch, mit den Mitteln seiner Zeit, einen ihrer grundlegenden Diskurse gleich mit abbildet.

Berühmte letzte Worte: An LA NOTTE DEI DIAVOLI kann ich kein schlechtes Haar lassen, und warum er scheinbar noch immer zu den Geheimtipps des italienischen Horrorkinos gehört, kann ich mir nun, nach mehrmaliger Sichtung, wirklich nicht erklären.

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: So 25. Sep 2016, 18:58
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Teenage Babylon

Produktionsland: Australien 1989

Regie: Graeme Wood

Darsteller: Juliette Armstrong, Caryn Clark, Brigette Gale, Dennis Harris, Anton Marin
Etwa in der Mitte von Sergio Martinos Giallo-Klassiker LA CODA DELLO SCORPIONE (1971) findet sich ein kurzer stilistischer Bruch, so jäh wie erschreckend. Eben noch hat der Film in seinen hochgradig stylish inszenierten Mordszenen regelrecht geschwelgt, nun, nur einen Schritt später, holt ihn die vermeintliche Realität ein. Wir sehen eine Leinwand, einen Zeigestock, hören die nüchterne Stimme eines Mannes. Was sie aufzählt, das sind die Verletzungen der toten Körper, die innerhalb einer DIA-Show auf die Leinwand projiziert werden. Sie sind nackt, liegen auf Pathologiebahren, haben Autopsien hinter sich, sind aufgeschnitten, wieder zugenäht worden. Es sollen die gleichen Körper sein, denen wir zuvor voller Spannung dabei zugesehen haben wie sie dem schwarzbehandschuhten Killer zum Opfer gefallen sind – und doch sehen sie ganz anders aus als diese. Sie sind nackt, liegen auf Pathologiebahren, haben keine Geschichte, keine Genre-Ästhetik mehr, die sie schützen könnte. Der Stock zeigt weiter, die nüchterne Männerstimme reiht medizinischen Fachterminus an medizinischen Fachterminus. Wir ahnen bloß: früher oder später werden wir selbst wie diese sein.

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Time: 8‘30PM. Date: 23/6/61. Location: Mornington. File: C-587. Ein Auto steht verlassen. Sein Fahrer hat den Kopf in den Nacken geworfen, starrt durch die Windschutzscheibe ins Nichts. Unterhalb seines Halses klafft eine Wunde. Blut ist ihm aus dem Mund getreten. Seine Augen sind halb offen. Die Flinte, mit der er sich erschossen hat, klemmt im Lenkrad. Auf der Hand, mit der er sich erschossen hat, krabbeln Käfer. Unweit des Autos liegt eine Wiese. In der Wiese liegt ein Mädchen. Zuerst hat er sie getötet, per Kopfschuss, dann sich selbst. Wind weht, hebt ihren Rock, lässt die Halme um sie herum sich wiegen.

Der Australier Graeme Wood hat hauptsächlich als Kameramann gearbeitet. Zu den Filmen, bei denen er für die Kamera zuständig gewesen ist, gehören mir völlig unbekannte Werke wie GHOSTS…OF THE CIVIL DEAD (1988) oder SAY A LITTLE PRAYR (1993). Zu den TV-Serien, bei denen er für die Kamera zuständig gewesen ist, gehören mir völlig unbekannte Werke wie THE GENIE FROM DOWN UNDER (1996) oder ROUND THE TWIST (1993). TEENAGE BABYLON ist einer von drei Kurzfilmen, bei denen er selbst Regie geführt hat. Er scheint so etwas wie sein Hauptwerk zu sein. Er hat ihn produziert, ihn geschnitten, die gesamtkünstlerische Leitung übernommen. Wenn überhaupt, bekommt man TEENAGE BABYLON in verwaschenen Kopien aus dubiosen Quellen zu Gesicht.

Time: 2‘45PM. Date: 7/10/63. Location: Windsor. File: B-561. Ein Waschbecken voller Blut. Blutstropfen auf dem Badezimmerboden. Sie führen hin zu einer Badewanne voller Blut. In ihr: eine junge Frau. Ihr Kopf ist auf die Seite gesunken. Die Augen sind geschlossen. Wasser deckt sie halb zu. Es hat sich mit dem Blut vermischt, das ihr aus den aufgeschnittenen Pulsadern geströmt ist. Polizeibeamte inspizieren den Schauplatz ihres Suizids. Man photographiert die Wanne, nunmehr ohne Leiche. Auf ihrem Grund: die Rasierklinge, mit der sie sich das Leben genommen hat.

Graeme Wood führt uns in seinem elfminütigen und aus drei in sich geschlossenen Episoden bestehenden Kurzfilm TEENAGE BABYLON schrittweise, fast schon vorsichtig, fast schon behutsam, an die Schicksale seiner jugendlichen Selbstmörder heran. Obwohl der gesamte Film so wirkt, als bestünde er aus authentischen Aufnahmen, die zu dokumentarischen Zwecken und nicht für die Öffentlichkeit gemacht worden sind, erzählt jede Episode ihre eigene Geschichte – und zwar über die leblosen Dinge, die in ihr viel wichtiger sind als die gesichtslosen, geschäftigen Beamten. Zuerst ist da der Schauplatz. Dann sind da die schwermütigen Sixties-Songs. Langsam tasten wir uns heran. Das Waschbecken. Dort hat sie sich die Adern geöffnet. Der Badezimmerboden. Dort sind die Tropfen hingeperlt, als sie zur Badewanne gelaufen ist. Die Badewanne. Dort ist sie verblutet. Dann, nachdem das Wasser abgelassen wurde, taucht die Rasierklinge auf wie eine besonders schmerzhafte Pointe.

Time: 10‘25AM. Date: 25/2/65. Location: Melbourne. File: C-564. Ein Beamter steht ein Stück von der Kamera entfernt. Ein Schnitt holt ihn näher heran. Seine Füße, vor denen etwas zu liegen scheint. Noch einen Schnitt später sehen wir: es ist ein Damenschuh, verlassen, verloren, ohne Fuß. Wir befinden uns an der See. Zwei Tote strecken sich im Sand aus. Ein Mädchen, ein Junge. Auf ihrer Hand laufen Ameisen herum. Sie hält etwas fest. Gewaltsam muss man ihr die Finger lösen. Es scheint eine Ampulle zu sein. Seegras, getrocknet von der Sonne. Ein Korb, halbverschluckt vom Strand. Die beiden Toten nebeneinander, er mit Badeshorts, sie im Bikini. Großaufnahme seines Gesichts. Eine Fliege tanzt auf seiner Wange. Großaufnahme ihres Gesichts. Ihre Augen sind offen. Dieser glasige, knapp an der Kameralinse vorbeigehende Blick wird mich in meine Träume verfolgen.

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Es ist, als würde man Romeo und Julia finden, nachdem sie sich vergiftet haben. Es ist, als würde man auf eine Liebesgeschichte stoßen, wenn ihr letzter, tragischer Akkord schon verstummt ist. Es geht um die Nachlese, um das, was übrigbleibt, das tote Material, das, was nicht mehr sprechen, bloß noch Hinweise geben kann. Dazu diese schwermütigen Sixties-Songs, von Graeme Wood neu eingespielt, wie aus einer fernen Vergangenheit. Dazu die Bilder, die wirken wie echt, ohne Ton aufgenommen, verwackelt, voller jump cuts, nüchtern, steril. Dazu der Abspann, wenn die Platte zu Ende ist und wir nur noch Vinyl-Knacken hören. Die Schauspieler sind aufgelistet, diejenigen, die ihren eigenen Tod vorgetäuscht haben. Wood dankt verschiedenen Institutionen, seinem Musikensemble, Filmförderungsstiftungen. Nichts ist real gewesen. Könnte man meinen. Alles an TEENAGE BABYLON ist real, nichts gestellt. Könnte man meinen. Dieser glasige, knapp an der Kameralinse vorbeigehende Blick wird mich in meine Träume verfolgen.
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: So 25. Sep 2016, 18:59
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Museo del horror

Produktionsland: Mexiko 1964

Regie: Rafael Baledón

Darsteller: Julio Alemán, Patricia Conde, Joaquín Cordero, Carlos López Moctezuma, David Reynoso
Irgendwie habe ich nie ganz verstanden, was an Wachsfiguren nun eigentlich gruslig sein soll. Sicher, es hat einen nicht zu leugnenden Effekt, vor dem lebensechten Abbild einer noch lebenden oder bereits verstorbenen Person zu stehen – aber erzielen Marmorstatuen nicht genau den gleichen Effekt? Wahrscheinlich hat es vor allem mit ihrer Materialität zu tun, das Wachsfiguren – angefangen bei Maurice Tourneurs Grand-Guignol-Schauerstück FIGURES DE CIRE (1914) über Paul Lenis im Glanz vergangener Epochen schwelgenden DAS WACHSFIGURENKABINETT (1924) bis hin zu einem modernen Slasher wie HOUSE OF WAX (2005), in dem die großartige Paris Hilton einen ihrer wenigen großartigen Leinwandauftritte hat – von seinem Anbeginn zum festen Inventar des Horrorkinos gehören: Wachs erweckt nicht nur leichter als beispielweise Marmor den Eindruck, die Brust der Figur, die da vor einem steht, müsse sich jeden Moment zu einem heimlichen Atemzug heben, sondern lässt sich auch leicht schmelzen, sieht dabei zugleich erhaben und ekelhaft aus, und erinnert, ähnlich wie die langwierigen Körperdeformationen und Körperdekompositionen später bei Lucio Fulci oder David Cronenberg, den Zuschauer damit auf recht graphische Weise an seine eigene Vergänglichkeit.

Die beiden prominentesten Filme, in denen sich Figuren aus Wachs in die klebrige Masse zurückverwandeln, aus der sie ent-standen sind, dürften Michael Curtizs MYSTERY OF THE WAX MUSEUM (1933) und dessen Remake durch André De Toth, HOUSE OF WAX von 1953, sein. Erzählt wird dort die Geschichte eines begnadeten Skulpteurs, der wahlweise, in der 53er Fassung, Henry Jarrod oder, was wohl einer der einfallslosesten Namen der Filmgeschichte ist, in der 33er Version Ivan Igor heißt. Der hat es bei der Wahl seines Geschäftspartners, Worth bzw. Burke, nicht schlechter treffen können. Diesem nämlich kommt eines Tages die glorreiche Idee, doch einfach das Wachsfigurenkabinett anzuzünden, um es anschließend wie ein Unglück aussehen zu lassen und dadurch die Versicherungssumme einzustreichen. Da Igor bzw. Jarrod ein Mann ist, der ganz für seine Arbeit lebt, und seine wächsernen Schöpfungen, mit denen er oft und gerne Zwiesprache hält, als Freunde betrachtet, versucht er natürlich alles, Burke bzw. Worth von seinem Vorhaben abzubringen – zunächst verbal, dann, als der Feuerteufel sich so nicht aufhalten lässt, und schon die ersten Streichhölzer ins Kabinett geschleudert hat, mit roher Gewalt. Leider zieht Jarrod bzw. Igor im folgenden Handgemenge den Kürzeren und leider hat Worth bzw. Burke ein derart minimiertes Gewissen, dass er den Schwerverletzten inmitten seiner dahinschmelzenden Lebensleistung besinnungslos liegenlässt. Jahre vergehen – wenigstens in Curtiz‘ Fassung, deren Haupthandlung zehn Jahre nach der in London spielenden Exposition am New Yorker Neujahrsabend 1932 einsetzt, während HOUSE OF WAX lediglich achtzehn Monate zwischen Prolog und Hauptakt lediglich 18 Monate verstreichen lässt -, und der Totgeglaubte erfreut sich zwar nicht bester Gesundheit – vor allem seine Hände haben unter dem Brand gelitten und sind fürs Skulpturieren nicht mehr zu gebrauchen -, hat es aber mit Hilfe zweier Assistenten, die seine mangelnde manuelle Meisterhaftigkeit ersetzen, geschafft, ein neues Wachsfigurenmuseum zu gründen. Während Jarrod bzw. Igor zuvor vor allem daran interessiert war, historische Persönlichkeiten zu neuem Leben zu erwecken, konzentriert er sich nun, durch den Brandanschlag nicht nur äußerlich, sondern auch seelisch gewandelt, auf Szenen der Gewalt, der Folter, der Grausamkeit: Die blutdürstigen Guillotinen der Französischen Revolution schmücken sein neues Kabinett genauso wie fiese Inquisitoren oder William Kemmler, der erste Mann, der auf dem Elektrischen Stuhl hingerichtet wurde. Wie es der Zufall will verschwindet zur gleichen Zeit, als Igor bzw. Jarrod wieder in die Öffentlichkeit tritt, aus dem örtlichen Leichenschauhaus der eine oder andere Körper – darunter auch der seines treulosen Assistenten, der kurz zuvor unter rätselhaften UmständenHand an sich gelegt hat -, und Zeugen wollen ein seltsames Wesen beim Stibitzen gesehen haben, mit der Silhouette eines Mannes, aber dem Gesicht eines Teufels. Ebenso will es der Zufall, dass Jarrod bzw. Igor in der Verlobte seines nunmehr dritten Assistenten, einem jungen, ehrenhaften Mann namens Scott Andrews bzw. Ralph Burton, die wiederum entweder Sue Allen oder Charlotte Duncan heißt, das exakte Ebenbild der Marie Antoinette erblickt, die er für seine bislang größte Kreation hält und die das Feuer ihm, wie alles andere, unwiederbringlich geraubt hat. Für jeden ist spätestens in diesem Moment klar, dass Jarrod bzw. Igor hinter den Leichenräuberein steckt, dass er sein von den Flammen verunstaltetes Gesicht hinter einer Wachsmaske verbirgt, und dass die arme Charlotte oder Sue im Marie-Antoinette-Kostüm als einbalsamiertes Schauobjekt enden soll.

Nennenswerte inhaltliche Unterschiede gibt es zwischen MYSTERY OF THE WAY MUSEUM und HOUSE OF WAX nicht. Beide erzählen ihre Geschichte im Großen und Ganzen anhand der gleichen Linie von Ereignissen, die mit Igors bzw. Jarrods persönlichem Inferno beginnt, sich dann zu Identifikationsfiguren das Liebespärchen Charlotte/Ralph bzw. Sue/Scott wählt, und aufhört, nachdem unser junger Held sowohl die beiden leichenstibitzenden Assistenten des verrückt gewordenen Skulpteurs erledigt als auch seine Liebste aus dessen Fängen und ihn in einem Kessel kochenden Wachses versenkt hat. Auffälligste Differenz ist, dass HOUSE OF WAX seinen Fokus stärker auf den reinen Horror-Aspekt legt – es gibt da zum Beispiel lange, eindrucksvolle Szenen, in denen unschuldige Frauen von dem in einen langen Mantel eingehüllten, einem schwarzen Schlapphut gekrönten und unmaskierten Jarrod durch menschenleeren, nächtlichen Gassen verfolgt werden -, während MYS-TERY OF THE WAX MUSEUM sich mehr kriminalistischen Elementen verpflichtet fühlt – bezeichnend ist, dass die Figur der Zeitungsreporterin Florence, die bei Curtiz maßgeblich dazu beiträgt, dass Ivan Igor enttarnt wird, und deren unkonventionellen Ermittlungsarbeiten der Film viel Platz einräumt, in HOUSE OF WAX komplett der Schere zum Opfer gefallen ist. Interes-santerweise stellen sowohl HOUSE OF WAY als auch MYSTERY OF THE WAX MUSEUM die Spielwiesen für seinerzeit bahn-brechende technische Errungenschaften dar, und können durchaus als Experimente der verantwortlichen Studios betrachtet werden, um zu testen wie diese Errungenschaften bei ihrem Publikum ankommen mögen: HOUSE OF WAX ist der erste 3-D-Film der Warner Brothers, weshalb einem in ihm, selbst wenn man keine erforderliche Brille aufhat, gewisse Dinge wie zum Beispiel ein an einem Strick befestigter Pingpong-Ball fortwährend regelrecht ins Gesicht springen, während MYSTERY OF THE WAX MUSEUM – übrigens wie auch der ebenfalls von Michael Curtiz teilweise in denselben Kulissen inszenierte DOCTOR X - einer der letzten Filme gewesen ist, die man in dem sogenannten 2-Farben-Technicolor-Verfahren gedreht hat, sprich: Die Farbpalette in MYSTERY OF THE WAX MUSEUM setzt sich einzig und allein aus Rot und Grün zusammen, was dem Film eine beinahe schon pastellartige Optik verleiht, die zumindest mein ästhetisches Empfinden ziemlich streichelt.

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Abb.1-3: Drei verschiedene Filme aus drei verschiedenen Epochen, doch immer dasselbe Antagonisten-Outfit, bestehend aus Schlapphut, Mantel und deformiertem Gesicht in: MUSEO DEL HORROR (1964), HOUSE OF WAX (1953) und MYSTERY OF THE WAX MUSEUM (1933).

Der mexikanische Film MUSEO DEL HORROR von 1964 hat auf den ersten Blick keine solchen Schauwerte aufzuweisen. Weder ist das Werk des Vielfilmers und Schauspielers Rafael Baledón besonders bunt, stattdessen schwarz und weiß, noch unter-scheiden sich die limitierten Produktionsstandards sonst von denen der Massen an mexikanischen Horrorfilmen wie sie in den 50ern und 60ern im Dutzend billiger und zumeist verborgen vor der Weltöffentlichkeit das Licht der Lichtspieltheater erblickten. Dass MUSEO DEL HORROR indes nicht mehr braucht als eine finstere Gasse, eine Nebelmaschine und ein paar effektvoll eingesetzte Scheinwerfer, um eine Eröffnungsszene hinzulegen, die vor Atmosphäre aus allen Nähten platzt, beweist er gleich in seinen ersten Minuten: Wenn ein Unhold mit Mantel und Schlapphut und deformiertem Gesicht eine junge Frau durch die Nacht hetzt, schließlich zu fassen bekommt, auf den örtlichen Friedhof und von dort in einen über ein Grab begehbares untergründiges Geheimlabor voller medizinischer Präparate verschleppt, wo die Schöne bei lebendigem Leib mit kochendem Wachs übergossen wird, dann ist das nicht nur eine wundervolle gotische Neuinterpretation der oben bereits erwähnten Verfolgungsjagd zwischen Vincent Price und Phyllis Kirk in HOUSE OF WAX, sondern auch, ohne alle Vergleiche, ein an sich absolut stimmungsvoller Auftakt zu einem Film, dem man auf jeden Fall nicht vorwerfen kann, dass seine Verantwortlichen nicht Meister darin gewesen sind, aus einem kümmerlichen Häuflein Budget ein Maximum an Effekten herauszuziehen: Die Photographie, das Chiaroscuro, die Bildkompositionen, das alles in MUSEO DEL HORROR ist ein visuelles Fest.

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Abb.4-5: Atmosphärische Bilder, die mich zu Wachs in ihren Händen machen.

Ebenfalls zum Tanzen lädt mich aber auch die Geschichte ein, die tatsächlich wirkt wie ein Amalgam aus dem horrorlastigen HOUSE OF WAX und dem eher kriminalistischen MYSTERY OF THE WAX MUSEUM, denen das Drehbuch des Vielschreibers José María Fernández Unsáin jedoch noch derart viel eigenkreative Elemente unterschiebt, dass man aufpassen muss, in dem gerade mal achtzigminütigen Vergnügen nicht den Überblick zu verlieren. Im Prinzip geht es um folgendes: Zurzeit wird die nicht näher benannte Stadt, in der der Film spielt, von einer Diebstahlserie erschüttert, bei der ausnahmslos Friedhofsleichen die Beutestücke sind. Die Polizei ermittelt, was das Zeug hält, wirklich weiter kommt sie aber nicht, und steht genauso vor einem Rätsel wie bei der sich ebenfalls mehrenden Zahl vermisster junger Frauen, die teilweise direkt aus ihren Bettchen entführt worden sein müssen. Tatsächlich steckt der uns im ersten Akt vorgestellte Mantelmann hinter den Entführungen – seine Identität jedoch lässt der Film genauso offen wie, ob die beiden Trunkenbolde, die zeitgleich damit beschäftigt sind, Frischbestattete auszubuddeln, mit ihm unter einer Decke stecken. Sowieso verlegt der Film seinen Fokus aber erstmal auf unsere Heldin, Marta, die umgeben ist von einer Reihe merkwürdiger Mannsbilder, die, das wird schnell klar, MUSEO DEL HORROR uns allesamt als potentielle Verdächtige vorzuführen versucht. Da ist zum einen Dr. Rául, ein Star-Mediziner des örtlichen Krankenhauses, der derart in Marta verknall ist, dass es schon beinahe peinlich wirkt. In einem fort macht er ihr den Hof, und immer einem fort muss Marta ihm freundlich, aber bestimmt erklären, dass sie Freundschaft für ihn empfinde, nicht mehr. Verliebt ist sie nämlich in Luis, einen ehemaligen Schauspieler, der aufgrund eines Unfalls seine Karriere hat aufgeben müssen, und nun innerhalb eines ehemaligen Theaters ein Wachsfigurenmuseum unterhält. Auf eine Art, dass es schon beinahe peinlich wirkt, macht Marta Luis fortwährend den Hof, der sie aber zunächst immer wieder mit der Begründung zurückweist, durch seinen Unfall sei er zum Krüppel geworden – in Wirklichkeit zieht er nur das eine Bein ein bisschen nach -, und könne sie deshalb nicht glücklich machen. Um dieses Liebesdreieck herum gruppiert sind Martas Mutter, eine leutselige ältere Dame, einen Kommissar, der vermutet, dass der Frauenentführer sich im Umkreis von Marta aufhalten muss, sowie ein gewisser Professor Abramaov, seines Zeichens Tierpräparator und Untermieter im Haus von Martas Mutter, dessen Zimmer überquillt vor ausgestopfter Äffchen und anderem Getier.

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Abb.6-8: Das Affenkabinett des Professsor Abramov.

Für diejenigen, die aufgrund dieser Inhaltsangabe vermuten, MUSEO DEL HORROR könne ein relativ geradliniger Mix aus Horror- und Kriminalfilm sein, bei dem auch das Liebesgesäusel und der Herzschmerz nicht zu kurz kommen, den muss ich enttäuschen. Gerade im Vergleich zu MYSTERY OF THE WAX MUSEUM und HOUSE OF WAX wird eine Qualität von Filmen wie MUSEO DEL HORROR deutlich, die ich als künstlerische Strategie im Sinne des Französischen Surrealismus verstanden wissen möchte. Bei HOUSE OF WAY und MYSTERY OF THE WAX MUSEUM ist es leicht, die Filme zu durchschauen. Nichts in ihnen wirkt zufällig, keine Dialogzeile, keine Kamerafahrt. Ich verstehe diese Filme, da sie in einer klar und verständlichen Sprache mit mir kommunizieren, nämlich der der Logik und der Rationalität zumindest im intradiegetischen Raum. Anders gesagt: Ein Bedürfnis der meisten Menschen ist es, bei einem Film – oder jedem beliebigen anderen Kunstwerken – den Sinn und Zweck desselben sofort zu erkennen. Filme, die diesem Postulat folgen, wirken wie Deduktionsketten. Keine Leerstelle bleibt zum Schluss, und keine offene Frage. MUSEO DEL HORROR steht genau auf der andern Seite der Medaille. In ihm schwirrt es voller Merkwürdigkeiten und an seinem Ende ist man kaum schlauer als an seinem Anfang. Dieser Film – und das mexikanische Genre-Kino generell – ist einer, den man nicht begreifen, sondern fühlen sollte.

Was MUSEO DEL HORROR so surrealistisch macht, ist vor allen Dingen seine Montage. Trotz der vergleichsweise kurzen Laufzeit und dem überschaubaren Ensemble verzettelt sich Baledón in zahllose Nebenschauplätze, von denen die wenigsten etwas zur eigentlichen Geschichte beitragen – wobei es eine eigentliche Geschichte eigentlich gar nicht gibt, da der Film eigentlich lediglich aus einer Abfolge mehr oder weniger – eher weniger – miteinander verbundener Szenen zusammengesetzt worden ist. Eine typische Szenenfolge in MUSEO DEL HORROR sieht so aus: Wir sind in dem Nachtclub, wo sämtliche Figuren in ihrer Freizeit abhängen, und lassen uns, mit ihnen, vom Tanz und Sang einer jungen Dame unterhalten, die in keiner Beziehung zu irgendeiner unserer Figuren steht, und wirklich einfach nur da ist, um ihr Ständchen zum Besten zu geben. Schnitt. Wir befinden uns auf dem Friedhof, wo es Nacht geworden ist und die beiden Grabräuber schon wieder dabei sind, einen Toten auszuheben. Diesmal haben sie aber die Rechnung ohne einen Schutzmann gemacht, der plötzlich neben ihnen steht und ihnen seine Waffe unter die Nase hält. Dumm ist nur, dass der gute Mann einem von ihnen derart demonstrativ den Rücken zukehrt, dass der ihm nur noch mit der Schaufel eins über den Kopf ziehen muss. Anschließend fragen sich die beiden Halunken, was sie nun mit dem Beamten anstellen sollen. Die Lösung ist schnell gefunden, wird ihnen quasi von dem offenen Grab zugeflüstert. Bald liegt der Polizist in diesem und wird von den Räubern bei lebendigem Leibe bestattet. Grässlich verkrümmt sich die Hand, die er in die Höhe streckt, während sein Körper bereits fast zur Gänze unter der Erde verschwunden ist. Schnitt. Wir befinden uns in Martas Schlafzimmer, wo die von einem Alptraum geärgert wird. Wild zuckend wirft sie sich von einer Betthälfte zur andern, und über ihrem gequälten Gesicht tauchen ihr die Traumbilder aus dem Kopf und überschwemmen die Leinwand. Dort, in ihrem Kopf, steigen aus unterirdischen Grüften schreckliche vermummte Gestalten, erheben sich in die Lüfte, flattern umher. Doch, Moment: Diese Bilder kenne ich doch! Es dauert keine fünf Sekunden und mir ist klar, dass die Verantwortlichen nicht nur einen Film voller Langfinger gedreht haben, sondern selbst zu dieser Zunft gehören: Alles, von dem Marta im Schlaf gepeinigt wird, stammt nämlich aus Mario Bavas exzellentem ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA (1961) – um genau zu sein: aus dessen Schlussakt, wenn Herakles es mit Christopher Lee und seinem vampirischen Gefolge zu tun bekommt, nur dass die im Original knallbunten Szenen in MUSEO DEL HORROR naturgemäß schwarzweiß vorliegen, und dass man den neugierig umherschauenden Reg Park herausmontiert hat. Endlich wird Marta wach, ihre Mutter kommt zu ihr, und tröstet sie. Schnitt. Die ermittelnden Beamten haben – wie überhaupt? – inzwischen den falschen Toten im falschen Grab entdeckt, und diskutieren darüber, wie sie nun weiter vorgehen sollen, um seine Mörder dingfest zu machen. Vorläufige Lösung: Ein Beamter soll auf dem Friedhof bleiben und dort Wache stehen, falls sie dorthin zurückkehren sollten. Schnitt. Marta ist wach und putzmunter und es ist Tag und sie trifft sich mit Luis und sie tauschen verliebte Plattitüden aus. Schnitt. Schon wieder ist es Nacht und der Unbekannte mit Fratze und Hut entführt eine weitere Frau aus ihrem heimischen Bett. Ich hoffe, ich konnte mit dieser Aufzählung etwas Fundamentales über MUSEO DEL HORROR klarmachen: Der Film ist bruchstückhaft, setzt sich aus vielen Fragmenten zusammen, die nicht wirken wie aus einem Guss, sondern als seien sie – was bei dem Bava-Raubgut ja sogar wirklich so ist! – aus verschiedenen Filmen zusammengeklaubt worden: nicht ästhetisch, denn da ist der Film stringent, sondern inhaltlich. Professor Abramavos Taxidermia, irgendwelche geheimen Forschungen, die Rául anstellt, Martas und Luis Liebesglück, dessen Wachsfiguren, mit denen er, wie vor ihm Igor bzw. Jarrod, in einsamen Stunden Zwiegespräche hält, die wenig erfolgreiche, mindestens katastrophale Polizeiarbeit, Einblicke in die Nachtclubszene mit vielen spanischen Schlagern, dann noch ein unsichtbarer Killer, der mit in Kurare getränkten Giftpfeilen mordet – das alles sind einige, aber noch lange nicht alle, Themen, die MUSEO DEL HORROR immer nur anreißt, nie wirklich vertieft, und aus deren Disparität er es bis zur letzten Sekunde nicht schafft, etwas zu formen, das wenigstens den Anschein einer plausiblen Handlung hat.

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Abb.9-10: Original und Reproduktion: Links der psychedelisch aus- und angeleuchtete Verschnitt aus Vampir und Zombie in Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA, rechts sein schwarzweißer Wiedergänger in Rafael Baledóns MUSEO DEL HORROR.

Genau da liegt für mich aber der Reiz eines Films wie des vorliegenden. Dadurch, dass MUSEO DEL HORROR sich kaum darum bekümmert, seinem Publikum irgendeine Moral, irgendeine Botschaft, irgendeine kohärente Narration mit auf den Weg zu geben, und stattdessen ausschließlich seine Affekte anspricht, deliriert der Film unbehindert von der Last irgendeines geistigen Überbaus in einer Weise, die man entweder infantil oder primitiv nennen kann. Vielleicht lehne ich mich zu weit aus dem Fenster, wenn ich das rauschhafte Erlebnis eines Films wie diesem als eines der letzten uns gebliebenen Überreste dionysischer Feste vergangener Menschenalter bezeichne, und dem nicht-intellektuellen (Genre-)Kino ein außerordentliches Transzendenzpotential unterstelle, das mehr in den sakralen Bereich gehört als in den säkularen – aber ich tue es trotzdem und stürze kopfüber noch einmal in das vollkommen irre Finale von MUSEO DEL HORROR.

Wer nämlich geglaubt hat, dass am Ende des Films eine laut knallende Überraschung wartet, bei der jemand als der Killer demaskiert wird, von dem wir es am allerwenigsten vermuten hätten, den muss ich enttäuschen. Natürlich ist es niemand ande-res als Sonnenschein Luis höchstpersönlich - etwas, das man sich allein deshalb schon hat denken müssen, weil sämtliche entführte Damen in seinem Geheimlabor den Tod finden. Nachdem Luis sie dort mit Wachs überzogen hat, stellt er sie zu seinen übrigen Figuren ins Kabinett, das übrigens ziemlich langweilig aussieht im Vergleich zu denen bei Curtiz und De Toth, und kurioserweise mit wenig angsteinflößenden Personen bestückt ist. (Darunter: Fausts Marguerite, dann noch die französische Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Chopin-Weggefährtin George Sand und Hedda Gabler. Wer ist Hedda Gabler?, höre ich schon die Rufe. Nun, es handelt sich dabei um die Heldin eines gleichnamigen Theaterstücks des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen aus dem Jahre 1890. Nein, ich habe keine Ahnung, was man sich dabei gedacht hat, denn in den beiden US-Filmen sind es immerhin verhältnismäßig bekannte Gestalten wie Marat, Voltaire oder Jeanne D’Arc, mit der Igor bzw. Jaddor ihr Publikum locken.) Marta, von Luis nun ebenfalls verschleppt, muss jedenfalls feststellen, dass der Mann, den sie abgöttisch liebt, doch nicht der Halbgott ist, für den sie ihn gehalten hat, und Rául nebst Polizisten müssen sich aufmachen, sie aus dessen Gewalt zu reißen. Wenn MUSEO DEL HORROR damit endet, dass Rául Luis zur Strecke bringt, und dann die Stelle des Verblichenen sofort einnimmt, indem er Marta danach besitzergreifend in die Arme schließt, dann ist das Böse zwar besiegt und die Welt zurück in Stand und Ordnung gesetzt, wirklich aufgelöst wurde der Fall aber nicht. So viele offene Fragen liegen da herum, dass ich nur die offensichtlichsten aufrufe. Falls denn Luis mit dem entstellten Hut- und Mantelträger identisch ist, der zuvor stets die jungen Mädchen aus den Betten geholt hat, trug er dann auch, wie Igor bzw. Jarrod in den Vorgängerfilmen, die ganze Zeit über eine Wachsmaske? Eine Demaskierungsszene des Killers fehlt in MUSEO DEL HORROR nämlich genauso wie irgendeine noch so halbseidene Erklärung für seinen Wahnsinn und dafür, in welcher Beziehung genau er nun eigentlich zu den beiden Grabräubern gestanden haben soll. (Oder setzt der Film die beiden US-Vorgänger als bekannt voraus, und verzichtet deshalb darauf, deren Prologe zum dritten Mal neu aufzugießen?) Da wirkt es beinahe schon wie ein hübscher, kleiner Meta-Kommentar, wenn die herbeieilende Polizei angesichts des Faustkampfs zwischen Rául und Luis erstmal stillsteht und ihnen aus der Distanz zuschaut, wer von den beiden den Sieg davonträgt – so, als sollte diese Gruppe Voyeure die Gruppe der anderer Voyeure, nämlich unsere eigene, spiegeln. Auch die allerletzte Einstellung ist in der Hinsicht bemerkenswert: Auf der Bühne des alten Theaters, von dem nie klar wird, ob es sich noch im Betrieb befindet, ob es Luis Privatbesitz ist oder ob es eine vergessene und verlassene Ruine sein soll - sind alle versammelt – Rául, Marta, die Beamten -, und die Kamera betrachtet sie von weit oben, als seien sie nichts weiter als Theaterrequisiten, während links im Bild der Schriftzug Fin auftaucht.

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Abb.1: Die Welt als Bühne oder: MUSEO DEL HORROR demaskiert in seinem Finale nicht seinen Antagonisten, aber sich selbst als filmische Illusion.

Man merkt: Ich bin ziemlich begeistert von diesem kleinen, feinen Schauerstück aus südlicheren Gefilden. MUSEO DEL HORROR ist äußerst unterhaltsam, äußerst originell und äußerst verrückt in allen Belangen, die für mich wichtig sind. Gleichzeitig ist mir aber auch klar, dass das, was ich dem Film an Vorzügen bescheinigt habe, ihm spielerisch auch zum Nachteil ausgelegt werden kann. MUSEO DEL HORROR ist irrational, bar jeder inneren und äußeren Logik, komplett wahnwitzig zusammenmontiert, beinhaltet Fremdmaterial von Mario Bava, sinnlose Gesangseinlagen, eine triviale Liebesgeschichte, Rollen- und Geschlechterklischees bergeweise, einem Jazz-Score, der derart deplatziert klingt, dass ich mich ernsthaft frage, ob er ursprünglich wirklich für diesen Film komponiert worden ist, und eine krude Story, die wirkt wie ein Streifzug durch das Archiv der Horrorfilmgeschichte – von LA MASCHERA DEL DEMONIO (die subjektive Sicht der Opfer auf das ihnen ins Gesicht schwappende Wachs) über THE BODY SNATCHERS (der gesamte Subplot um Grabraub und Leichenschändung) bis hin zum Italienische Giallo (das mehr oder minder ausgespielte Murder-Mystery-Motiv und das Outfit des Killers.) Und nein, ich komme immer noch nicht darüber hinweg: Die Vampirszenen aus Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA sind in vorliegendes Werk als Traumsequenz zweitverwertet worden! Wie geil ist das nur!?

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: Mo 3. Okt 2016, 20:04
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Kapo

Produktionsland: Italien 1960

Regie: Gillo Pontecorvo

Darsteller: Susan Strasberg, Laurent Terzieff, Emmanuelle Riva, Gianni Garko, Didi Perego
Edith kehrt von ihrer Klavierstunde nach Hause zurück. Sie muss sie heimlich nehmen, in der Privatwohnung einer Freundin ihrer Familie. Sie muss, wenn sie auf die Straße tritt, einen Stern an ihrer Brust tragen, der sie als Jüdin ausweist. Edith ist vierzehn Jahre alt, und es ist Herbst in Paris, dessen Boutiquen und Passagen sie an diesem Tag, als sie wie gewöhnlich von ihrer Klavierstunde nach Hause zurückkehrt, zum letzten Mal in ihrem Leben sehen wird. In der Straße nämlich, wo sie mit ihren Eltern wohnt, hat sich die Gestapo versammelt, um einige der Anwohner in Lastwägen zu verladen. Eine Menschenmenge steht unbeteiligt daneben, stumm, fassungslos oder einfach nur neugierig. Eine ältere Frau flüstert Edith, die ihre Eltern unter den Verhafteten erkennt, zu, sie solle sich nicht zu erkennen geben, sondern mit zu ihr kommen. Falls Edith dieses Hilfeangebot überhaupt hört, schlägt sie es sofort in den Wind. Sie läuft ihren Eltern entgegen, und lässt sich gemeinsam mit ihnen in den Lastwagen stoßen. Unserem kollektiven und individuellen Gedächtnis sind solche oder ähnliche Szenen derart eingebrannt, dass wir sofort wissen, wohin die Reise für Edith und ihre Familie gehen wird.

Auf den allerersten, alleroberflächlichsten Blick bietet Gillo Pontecorvos KAPO all die Ingredienzien, die knapp zwei Jahrzehnte später das äußerst kurzlebige und äußerst geschmacklose italienische Naziploitation-Genre konstituieren werden. So spielt KAPO, einmal vom oben skizzierten Paris-Prolog abgesehen, ausschließlich in insgesamt zwei Vernichtungs- bzw. Arbeitslagern, die Edith in den nächsten Jahren bis zum Kriegsende durchlaufen wird. In diesen Lagern sind Grausamkeit und Brutalität natürlich an der Tagesordnung, und manifestieren sich in Pontecorvos Film unter anderem in den obligatorischen cat-fight-Szenen zwischen rivalisierenden Insassen, einem lagerinternen Bordell, in dem die ranghöchsten SS-Männer sich an den appe-titlichsten weiblichen Häftlingen vergehen, einem monotonen Arbeitsalltag voller Entbehrungen und entmenschlicht schreiender Antreibern sowie ausgeklügelten Gefangenenfolterungen zur Stillung des ebenfalls obligatorischen SS-Sadismus. Gemessen an seinen reinem Inhalt ist KAPO nicht besonders weit entfernt von solchen berüchtigten Filmen wie beispielweise Sergio Garrones LAGER SSADIS KASTRAT KOMMANDANTUR (1976) oder Mario Caianos LA SVASTICA NEL VENTRE (1977) – und selbst die sentimentale Liebesgeschichte zwischen Edith und einem sowjetischen Kriegsgefangenen, die Pontecorvo im letzten Drittel erzählt, findet ihre Nachahmer unter anderem in Cesare Canevaris L’ULTIMA ORGIA DEL III REICH (1977) oder, erneut, Garrones SS LAGER 5: L’INFERNO DELLE DONNE (1977). Trotzdem liegen weite Welten zwischen den von mir eben angeführten Vertretern des wohl umstrittensten Genres der europäischen Exploitationfilm-Geschichte und KAPO, dessen Oscar-Nominierung für den besten ausländischen Film 1960 allein schon viel darüber aussagt, wie und von wem das Werk seinerzeit vor allem rezipiert worden ist. Es ist so ähnlich wie bei Jerzy Kawalerowiczs MATKA JOANA OD ANIOLÓW (1960): Obwohl auch dieser Film die meisten Zutaten des späteren Nunsploitation-Genres quasi en nuce mit sich herumträgt – da haben wir die Besessenheitszustände der vermeintlich verhexten Mutter Oberin, die Entführung einer Nonne aus dem Kloster durch einen an ihr vor allem sexuell interessierten Jüngling und eine Darstellung des Klosterlebens, die dieses vorrangig als repressives autoritäres System versteht, innerhalb noch die kleinste sexuelle Regung unter dem prunkvollen Teppich versteckt werden muss -, kann die Art und Weise wie Kawalerowicz mit diesen umspringt, kaum exploitativ genannt werden. So wie MATKA JOANA OD ANIOLÓW aus dem Blickwinkel des Sozialistischen Realismus über Themen wie Glaube und Unglaube reflektiert und dabei, wie nebenbei, auch davon handelt wie unter der Nonnentracht der Teufel in Gestalt der unbefriedigten Libido erwacht, so ist KAPO nichts weniger als der Versuch, aus der Perspektive des Italienischen Neorealismus so realistisch wie möglich den Alltag in einem Konzentrationslager abzubilden – wobei die geschilderten Grausamkeiten weniger als Mittel zum Zweck erscheinen, sondern eher wie unumgängliche Notwendigkeiten.

Der größte Unterschied zwischen KAPO und den Naziploitation-Filmen eines Sergio Garrone ist nämlich folgender: In Garrones stark vereinfachten, schwarzweißzeichnerischen Welt gibt es zwei Kategorien von Menschen. Auf der einen Seite sind die Täter: bestialische Deutsche, die prinzipiell zu jeder Schandtat fähig sind, die morden, vergewaltigen und an ihren Gefangenen ekelerregende Experimente durchführen. Auf der anderen Seite stehen die Opfer, zumeist junge, gutaussehende Frauen wie aus einem Playboy-Heft, die nicht viel mehr zu tun haben als bei jeder Gelegenheit ihre Brüste ins Bild zu halten, sich untereinander zu prügeln bzw. sich gegenseitig zu befriedigen, und, wenn es ans Foltern geht, sich die Seele aus dem Leib zu schreien. Das Lagerleben in SS LAGER 5 oder LAGER SSADIS KASTRAT KOMMANDANTUR ist nach der simplen Logik eines de Sade gestrickt: Der, der dem die Macht gegeben ist, kann mit den Ohnmächtigen anstellen, was er will, denn sie sind ersetzbar, völlig ohne Individualität und sowieso ohne gesteigerten Wert als dem, benutzt und gegebenenfalls zerstört zu werden. Pontecorvo geht an KAPO keineswegs so blauäugig heran. Vor allem scheint er vor Abfassen des Drehbuchs einige Berichte von Lagerüber-lebenden gelesen zu haben. Ich denke an Autoren wie Tadeusz Borowski, Primo Levi und vor allem Jorge Semprun. In all diesen Texten wird ausdrücklich und immer wieder auf die Figur des Kapo verwiesen, die sozusagen zwischen den beiden Welten von Tätern und Opfern steht, einerseits Gefangener des Lagers ist, und andererseits unter diesen Gefangenen eine exponierte Stellung innehat, da sie ihre Mitgefangenen im Auftrag der SS überwacht, falls nötig denunziert und bespitzelt. Damit sind freilich Privilegien verbunden, die den Kapo vor den anderen Gefangenen auszeichnen: Er bekommt besseres Essen, sogar Alkohol, lebt in einem eigenen Block unter wesentlich besseren hygienischen Bedingungen, darf mit anderen Häftlingen sexuell verkehren. Daraus resultiert freilich eine unbequeme Ambivalenz: In den Augen der SS ist der Kapo zwar immer noch ein Häftling, in denen seiner Mitgefangenen allerdings eindeutig ein Kollaborateur. Wenn Semprun das hochkomplexe hierarchische System eines KZs in seinem allerdings erst 1974 erschienen autobiographischen Roman QUEL BEAU DIMANCHE ausführlich beschreibt, wird darin vor allem die fließende Grenze deutlich, die einen vom wehrlosen Opfer zum aktiven Täter machen kann – eine Grenze, die so fließend ist, dass man ihr Übertreten gar nicht bemerkt, oder vielleicht niemals.

Im Grunde ist KAPO ein höchstmoralischer Film. Sein Anliegen ist nicht so sehr Aussagen einer sogenannten historischen Wahrheit über das Lagersystem des Nationalsozialistischen Deutschlands zu treffen. Stattdessen scheint die KZ-Kulisse eine mehr oder minder austauschbare Folie zu sein, auf der Ediths Geschichte wie eine allgemeingültige Parabel darüber wirkt, wie leicht es ist, dem Menschen unter bestimmten Umständen sein Menschschein zu rauben, oder wie leicht es dem Menschen selbst unter bestimmten Umständen fällt, sein Menschsein abzustreifen - oder, anders gesagt: wie schnell das eigentlich geht, dass ich mich, um zu überleben, als Opfer mit Tätern solidarisiere, und dadurch selbst zum Täter werde, oder, noch einmal anders gesagt: wie schwierig es überhaupt zu bestimmen ist, ab wann jemand aufhört Opfer oder Täter zu sein, und wo er damit beginnt. Nachdem ihre Eltern schon gleich nach ihrer Ankunft von ihr getrennt und vermutlich ermordet worden sind, erbarmen sich eine ältere Lagerinsassin und der Lagerarzt Ediths und verschaffen ihr eine neue Identität als Nicole, eine kürzlich verstorbene Französin, die aufgrund von Raubdelikten ins Lager gekommen ist. Als Nicole lernt sie schnell, dass man mit Altruismus in keinem KZ bestehen kann. Ihr gegenüber finden wir Terese, die ihre Mitgefangenen ständig dazu anhält, sich jeden Morgen zu waschen, denn allein durch solche ständig wiederholten Riten der Normalität sei es möglich, dass sie sich weiterhin als Menschen fühlen, selbst wenn sie von ihrer Umwelt als bloße Tiere behandelt werden. Als Terese erkennt, wie nutzlos ihr Humanismus in einer enthumanisierten Welt letztlich ist, wählt sie den Freitod, indem sie sich an den das Lager umgebenden Elektrozaun wirft. Edith währenddessen steigt immer höher in der Lagerhierarchie. Sie lässt sich von einem SS-Mann entjungfern, wird zum Kapo, wohnt bald mit den übrigen Kapos in einer eigenen Baracke, hält sich einen Kater namens Faust, und verhört, verpfeift und verachtet eifrig die ihr unterstehenden restlichen Gefangenen. KAPO unterstreicht diese Entwicklung Ediths mittels eines fast schon dokumentarischen Stils, dem man die italienische Tradition des Neorealismus in jeder Einstellung ansieht. In gewisser Distanz befinden wir uns oft zu Edith, deren Gefühlslage mehr angedeutet als ausagiert wird. Besonders schön setzt Pontecorvo dabei ihr Kätzchen ein. Zum einen ist Faust ein flauschiger Ersatz für die Kindheit, der Edith abrupt entrissen worden ist, ein Püppchen, mit dem spielend sie durchs Lager streift, als sei sie noch immer das freie, unbedarfte Mädchen in Paris. Zum andern weist aber schon der Name der Katze darauf hin, dass Edith längst die Seiten gewechselt hat. Sie befindet sich in der Komfortzone der Kapos, die ihr das Leben leichter macht, jedoch genauso ihrem Eigennutz schmeichelt. Wenn Edith in ihrer Uniform den Arbeitsdienst überwacht, fällt es schwer, in ihr noch das schüchterne, traumatisierte Kind zu erkennen, das zu Beginn des Films nur mit Glück dem Erschießungskommando entkommen ist. Besonders heftig dürfte für die Zeitgenossen gewesen sein, dass Pontecorvo die Hauptrolle ausgerechnet mit Susan Strasberg, der Tochter des Actor-Studios-Gründers Lee Strasberg, - übrigens großartig - besetzt hat. Zuvor nämlich hat Strasberg am Broadway in einer Bühnenadaption ihres Tagebuchs jahrelang die Anne Frank gespielt, und damit den Typ des unschuldigen Opfers verkörpert, der in KAPO regelrecht demontiert wird.

Mit dem Neorealismus eines Rossellini oder De Sica teilt KAPO nicht nur seine präzisen Beobachtungen, klaren Schwarzweiß-bilder und betont ungekünstelte Inszenierung, sondern auch den einen oder anderen Aspekt, der den vorgeblichen Realismus dann doch ein bisschen unterwandert: Die Musik von Carlo Rustichelli steht mit ihrem pompösen Orchestersound in einem ziemlichen Gegensatz zu den nüchternen, kalten Bildern, in denen uns Ediths Metamorphose geschildet wird, und natürlich kommt Pontecorvo auch nicht umhin, fast alle SS-Leute als vollkommen überzeichnende Bestien darzustellen, deren ständiges Gebrüll (in schlechtem Deutsch) in mancher Szene dichter bei ähnlichen Soundkulissen in den Naziploitation-Filmen der 70er ist als es dem Film lieb sein kann – die einzige Ausnahme: Gianni Garko als Soldat Karl, der zumindest ambivalent gezeichnet ist, und, wenn er nicht gerade Gefangene über den Haufen schießt, ein ganz netter Kerl zu sein scheint -, und gerade im Schlussakt, wenn Pontecorvo auf Teufel komm raus noch eine Liebesgeschichte einflechten muss, schmeckt KAPO auf einmal so sehr nach den fabrizierten Emotionen Hollywoods, dass viel von seiner vorherigen ungeschminkten Ehrlichkeit wie von selbst kippt. Edith verguckt sich nämlich in Sascha, einem gefangenen Sowjet, der ebenfalls den Kontakt zu ihr sucht, obwohl sie ihn anfangs wie Dreck behandelt. Noch unglaubwürdiger wird die Romanze dadurch, dass Sascha und seine Kameraden die Flucht aus dem Lager planen, und hierfür Ediths Hilfe benötigen. Sie soll im richtigen Moment die Stromzufuhr der Lagerzäune lahmlegen. Was sie nicht ahnt, aber Sascha und seine Freunde wissen: Sie wird dabei mit großer Wahrscheinlichkeit von den Wachtposten erschossen werden. Sascha teilt ihr das wider besseres Wissen mit, und Edith steckt nun in einem moralischen Dilemma: Liebt sie Sascha so sehr, dass sie bereit ist, für sein Leben ihr eigenes zu opfern? Besonders bemerkenswert ist eine Szene kurz vor Ende, als Sascha und Edith sich mitten im Lager ihre Liebe gestehen, und es wirkt, als seien sie komplett herausgelöst aus Raum und Zeit: Nichts außer die beiden Liebenden existieren auf einmal in der Welt, und das komplette Lager mit seinen Wachtürmen, SS-Leuten und sich zu Tode schuftenden Gefangenen ist plötzlich wie ausgelöscht.

Ganz kann Pontecorvo den Fallstricken der Kommerzialisierung also nicht entgehen. Interessanterweise aber ist dem Film seinerzeit in einer berühmten Kritik Jacques Rivettes für die cahiers du cinema - DE L’ABJECTION - nicht vorgeworfen, dass er seinen herben Realismus dadurch untergräbt, dass er sich am Ende dann manches melodramatischen Klischees bedient. Viel-mehr richtete sich Rivettes Kritik vorrangig darauf, dass Pontecorvo überhaupt ein solches Thema wie den Holocaust für lein-wandtauglich erachtet hat. Vor allem eine Szene ist es, die Rivette sauer aufstößt: Der Freitod der von Emanuelle Riva gespielten Terese, die, als sie die Nutzlosigkeit ihrer humanistischen Ideals in einem Umfeld wie dem eines KZs erkennt, sich lieber in den Stacheldrahtzaun wirft als so weiterzuleben. Nachdem Terese den Tod gefunden hat, setzt Pontecorvo zu einer kleinen Kamera-fahrt an, bei der vor allem die wie mahnend ausgestreckte Hand Tereses akzentuiert wird. Für Rivette stellt das bereits eine Ästhetisierung des Schreckens dar, die ihn am moralischen Gewissen seines italienischen Kollegen zweifeln lässt. Man kann nur hoffen, dass Rivette niemals ein Werk wie Bruno Matteis KZ9- LAGER DI STERMINO (1977) unter die Augen gekommen ist – oder gibt es auch einen Minusbereich der Moral? Dass Pontecorvo jedenfalls das Lagerleben in irgendeiner Weise konsumierbar inszenieren würde, kann ich jedenfalls nicht unterschreiben, und wahrscheinlich sollte man Rivettes Kritik vor allem aus dem Geist ihrer Zeit heraus betrachten, in der das Thema, das Pontecorvo in KAPO so drastisch anpackt, noch ein derart heißes Eisen war, dass man sich leicht daran die Finger verbrennen konnte, egal wie man es schließlich umgesetzt hat. Mir kommt KAPO, dessen Bildästhetik sich offensichtlich an zeitgenössische Photographien und Filmdokumente aus den Gefangenenlagern des Dritten Reichs anlehnt und dadurch stellenweise bedrückend authentisch aussehende Szenen generiert – ich denke nur an eine Grube voller Leichen, die verdammt echt aussehen -, hingegen wesentlich ehrlicher vor als die ins Groteske, Surreale und Absurde übersteigerten und dadurch kaum ernstzunehmenden Folterorgien eines Sergio Garrone oder Bruno Mattei, oder auch die Darstellung eines Jüdischen Netzwerks in Spielbergs SCHINDLER‘S LIST (1994), bei dem jeder Gefangene dem andern selbstlos beisteht und helfend unter die Arme greift. Gerade wenn man die erwähnten Berichte von Borowski, Levi oder Semprun zur Hand nimmt, wird man feststellen, dass die schonungslose Transformation eines unbedarften Mädchens wie Edith zur beinahe schon lustvoll herrschenden SS-Handlangerin möglicherweise doch näher an der Wirklichkeit ist als die Vorstellung eines prinzipiellen Egalitarismus zwischen den KZ-Insassen. KAPO zeigt ein Menschenbild, in dem – wir denken an Thomas Hobbes – jeder zum Wolf des andern wird, sobald sich die Gelegenheit oder Notwendigkeit dazu ergibt. Zugleich fragt KAPO aber auch, gemeinsam mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, nach einer neuen Ethik im Schatten von Auschwitz. Was bleibt von Auschwitz letztlich? Einfach so weitermachen wie bisher? Die Augen zudrücken und schnell vergessen? Oder sich dem Thema stellen und daran rühren, mit einem Film wie KAPO, zu einem Zeitpunkt, als noch wie mit einem Tabu belegt schien? Was an KAPO in seinen besten Momenten so sehr bedrückt, ist nämlich nicht etwa nur, dass da unschuldige Menschen gezwungen sind, in einer menschenunwürdigen Welt voller Angst und Tod zu leben. Seine Botschaft ist noch erschreckender: Um in einer solchen Welt zu überleben, muss man zwangsläufig seine Unschuld verlieren, so wie Edith, oder, so wie Terese, mit ihr zugrunde gehen. Dass Edith am Ende zur Märtyrerin wird, durch deren selbstlosen Opfergang Sascha und seine Kameraden die Freiheit erlangen, ist da nur ein recht schwacher Trost, der beweist, dass auch eine Filmromanze manchmal darin scheitert, dem Grauen eine versöhnliche Note abzuringen.

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: Sa 22. Okt 2016, 11:25
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: End of the Wicked

Produktionsland: Nigeria 1999

Regie: Teco Benson

Darsteller: Helen Ukpabio, Charles Okafor, Alex Usifo Omiagbo, Patience Oseni, Hilda Dokubo

Helen Ukpabio ist mit Sicherheit eine der schillerndsten Figuren der zeitgenössischen religiösen Szene Westafrikas. Seit sie 1992 mit den sogenannten Liberty Foundation Gospel Ministries eine evangelikale Freikirche gründete, die sich einer wortwörtlichen Auslegung der biblischen Texte verschrieben hat, widmet sie ihr Leben vor allem dem Kampf gegen Hexenkult und Teufelsspuk – nicht etwa aber dahingehend, dass sie eventuell noch vorhandenen Aberglauben in den ländlicheren Gebieten ihres Heimatlandes zu beseitigen strebt, vielmehr zielen ihre Aktivitäten in die komplett entgegengesetzte Richtung. Für Helen Ukpabio ist es eine unumstößliche Tatsache, dass Dämonen tatsächlich existieren, dass sie im Auftrag des Leibhaftigen von Menschenkörpern Besitz ergreifen können, und dass sie diese armen Besessenen sodann zu unheilvollen, gotteslästerlichen Taten anstacheln. Ein Großteil ihrer öffentlichen Predigten, Pamphlete und pastoralen Handlungen warnt vor den Gefahren, die für einen unbedarften Christenmenschen von Hexen und Hexern ausgehen können. In einer Figur wie Helen Ukpabio scheinen sich, meine ich, mehrere spirituelle Traditionslinien – am prominentesten natürlich zum einen ein äußerst strenger, rigider Protestantismus, zum andern eher animistische, naturreligiöse Vorstellungen, die ihrem eigenen westafrikanischen Kulturraum entstammen dürften -, nicht nur zu überschneiden, sondern sich regelrecht ineinander zu einem synkretistischen Knoten zu verkrampfen, den keine Vernunft mehr zu lösen imstande ist. Zumal der missionarische Eifer Ukpabios in ihrer direkten Einflusssphäre nicht erfolglos bleibt und bereits zu nicht wenigen Familientragödien geführt hat. Ein Punkt, auf den Ukpabio immer wieder rekurriert, behandelt nämlich die prinzipielle Eignung, die gerade Kinderkörper als Gefäße für die unsichtbaren Teufelsmächte haben. Wenn beispielweise ein Kind, das jünger als zwei Jahre ist, zunehmend nachts in seinem Bettchen schreit und auch bei Tage nervöse bis aggressive Verhaltensweisen zeigt, ist das, laut Ukpabio, ein sicheres Anzeichen dafür, dass das Kleine von einem Dämon besessen sein muss. Zahllose Kinder sollen von Anhängern Helen Ukpabios bereits Exorzismen unterzogen, verstoßen oder verbrannt worden seien, nachdem ihre Eltern zu der Überzeugung gelangten, es mit Teufeln in Men-schengestalt zu tun zu haben. Erst kürzlich, im Frühjahr 2014, hat Großbritannien ein Zeichen gegen den blinden Fanatismus Frau Ukpabios gesetzt und eine ihrer Predigttouren jäh mit einem Landesverweis beendet.

Bei jemandem, der derart umtriebig ist und sich zudem von Jesus persönlich geleitet wähnt, verwundert es nicht, dass kein Mittel ungenutzt gelassen wird, mit dem man die eigene wichtige Botschaft effektiv unter Menschen bringen kann, die bereit sind, sie vorbehaltlos als bare Münze zu kaufen. Schon Ende der 90er hat Helen Ukpabio deshalb Kontakte zur nigerianischen Filmindustrie geknüpft. Diese sitzt im Süden des Landes in Lagos und läuft bereits seit Jahrzehnten auf Hochtouren. Liebevoll als Nollywood betitelt, zeichnen sich nigerianische Spielfilme durch ihre kostengünstige home-video-Ästhetik aus. Nigeria ist nicht gezwungen, irgendwelchen internationalen Standards zu genügen. Man operiert in Westafrika für ein genuin westafrikanisches Publikum und behandelt dabei spezifisch westafrikanische Themen. Somit existiert Nollywood in einer Art Seifenblase, die von sämtlichen äußeren Einflüssen abgeschirmt scheint. Weder das asiatische noch das europäische oder das US-amerikanische Kino stehen für die in Lagos mit wenig Budget, aber viel Leidenschaft inszenierten Filme Pate. Für den Filmhistoriker ist das natürlich eine Situation, die er gar nicht genug feiern kann, denn wann stößt man Ende des zwanzigsten Jahrhunderts schon noch auf eine Filmlandschaft, die quasi völlig für sich allein steht und keine Tradition kennt außer die eigene? Noch interessanter wird es freilich, wenn eine Person wie Helen Ukpabio auftritt, und die vorgefundenen Mittel für ihre persönlichen, mehr als befremdlichen Glaubensagenden einspannt. Das Ergebnis ihres Ausflugs in die Welt des Kinos heißt END OF THE WICKED und stammt aus dem Jahre 1999. Regie führt der verdiente und noch immer eifrig im Geschäft mitmischende nigerianische Regisseur Teco Benson, der auch gemeinsam mit Ukpabio für das Drehbuch verantwortlich gemacht werden muss. Ukpabio selbst begnügt sich indes nicht damit, hinter der Kamera zu wirken, sie versucht sich ebenfalls als Schauspielerin – und die Lichtgestaltrolle einer evangelikalen Priesterin, die ein Dorf von dem Einfluss Beelzebubs säubert, ist ihr tatsächlich wie auf den Leib geschrieben.

END OF THE WICKED ist ein Film, dessen Inhaltsangabe mir wahrscheinlich niemals gelingen wird. Das liegt schlicht daran, dass ich große Teile des Filminhalts nicht verstanden habe – und das wiederum lag definitiv nicht (nur) an dem außergewöhnlich akzentreichen Englisch, das sämtliche Schauspieler, Ukpabio miteingeschlossen, sprechen. Mögen kulturelle Barrieren der Grund sein – über Glaube und Aberglaube in Westafrika weiß ich nicht viel mehr als das, was ich einmal im Booklet einer CD gelesen habe, auf der angeblich echte westafrikanische Geisterbeschwörungs- und Teufelsaustreibungszeremonien akustisch verewigt worden sind -, oder mag END OF THE WICKED tatsächlich in sich keinen Sinn ergeben, über keine logische Kohärenz verfügen, seine Geschichte weniger erzählen als vielmehr in Gestalt wirrer Bilder wahllos aneinanderreihen, Fakt ist: der Weirdness-Faktor dieses Machwerks ist dermaßen hoch, dass es einem schon merklich an die Substanz geht. In seinen knapp zwei Stunden bringt END OF THE WICKED es für mich fertig, keine zwei aufeinanderfolgenden Szenen so wirken zu lassen, als würde die eine die andere zwangsläufig bedingen. Immerhin kann man den Inhalt vielleicht grob auf folgenden Nenner bringen: Beelzebub, dessen Gesicht weiß geschminkt ist bis auf den Bereich direkt unterhalb seines Mundes, wo ständig frisches Blut schimmert, versammelt sich zu Beginn mit einem Haufen Hexen mitten im nigerianischen Dschungel, wobei letztere stilecht gackernd und kichernd auf ihren Besen angeflogen kommen. Was soll das Meeting um Mitternacht? Soweit ich das begriffen habe, plant Beelzebub, einem gewissen Chris, der mit seiner unübersehbar großen Familie in einem Luxusanwesen der nächsten Ortschaft lebt, übel mitzuspielen. Hierfür verwandelt er unter anderem einige seiner Untergebenen in Tiere – darunter eine Eule, ein Hund, ein Affe - beziehungsweise lässt wiederum andere Hexen und Hexer auftreten, die ihm, nehme ich an, die Seelen seiner zukünftigen Opfer zuschleusen sollen, wobei die erforderlichen Spezialeffekte nun wirklich jeder Beschreibung spotten.

Im Folgenden spielt der Film dann stets auf zwei verschiedenen Ebenen. Die eine ist die dessen, was man die reale Welt nennen könnte. Dort wohnen wir diversen Unglücksfällen und Schicksalsschlägen bei, die Chris und seine Familie ereilen. Offenbar muss seine Firma Konkurs anmelden, außerdem bricht einer seiner Söhne beim Fußballspiel mitten auf dem Sportplatz tot zusammen, und nachdem er einmal das Gesicht seiner Ehefrau zu einer schrecklichen Fratze verzerrt wahrgenommen hat, droht sogar seine eigentlich glückliche Ehe zu zerbrechen. Demgegenüber entführt uns der Film in schöner Regelmäßigkeit auf die Waldlichtung, wo Beelzebub mit seinem Hofstaat tagt. Hierarchisch geordnete Dämonenfiguren, die offenbar verstorbene Verwandte Chris‘ sein sollen, die nach ihrem Tod dem Teufel anheimgefallen sind und nun eine Optik bieten, vor der sich kein italienischer B-Movie-Zombie zu verstecken braucht, führen lange Anklagereden gegen die Menschen, die sie verderben wollen, man tanzt umher und gefällt sich in obszönen Handlungen, die ich in einem dezidiert christlichen Film nun wirklich nicht erwartet hätte. Eine der unfassbarsten Szenen des Films zeigt eine der Hexen beim unzüchtigen Tänzchen. Plötzlich hält sie zwischen ihren Händen einen übergroßen Penis, den sie in Stoßbewegungen mehrmals vor und zurück schnellen lässt. Nach einem Schnitt sind wir im Schlafzimmer einer der weiblichen Verwandten Chris‘. Die Frau träumt schlecht, wälzt sich im Bett hin und her. Als sie erwacht, sitzt ihr die Hexe von eben, scheinbar, wenn ich das richtig verstanden habe, zu allem Überfluss ihre eigene Schwiegermutter, auf dem Körper und vergewaltigt sie mit ihrem frischgewachsenen Penis. Eine andere Szene hat mit Ukpabios ambivalentem Verhältnis gegenüber Kindern zu tun. Einer der Dämonen ist nämlich ein solches, seine Aufgabe: möglichst viele Buben der Dorfjugend für seine satanische Zwecke zu rekrutieren. Chris schläft derweil den schönsten Schlummer, als der Kinderdämon mit seinen Anwärtern in das Schlafzimmer eindringt und ihm eine Platte mit allerlei Köstlichkeiten auf den nackten Rücken stellt. Daraufhin eilen die Kinder zu ihm und verzehren gierig, was sie kriegen können. Chris erwacht und klagt über Rückenschmerzen. Man sieht: der Aufbau ist fast immer derselbe. Einer der Protagonisten schlummert, träumt irgendetwas Groteskes und als er erwacht, muss er feststellen, dass die Realität die Träume eingeholt hat. Ein Mann, von dem ich keine Ahnung habe, wer das nun eigentlich gewesen sein soll, bekommt im Schlaf von unserem Kinderdämon beide Augäpfel aus dem Kopf gerissen - übrigens eine Szene, auf die Fulci hätte stolz sein können! -, und realisiert nach dem Erwachsen, dass er tatsächlich auf beiden Augen erblindet ist. Geisterwelt und Menschenwelt sind in Ukpabios Paralleluniversum äußerst eng miteinander verzahnt. Was auf der einen Seite passiert, hat direkte Auswirkungen auf die andere, und umgekehrt. Jedenfalls liefert dieses ständige Verwischen der Grenze zwischen Fakt und Fiktion, Traum und Realität dem Film genügend Gelegenheit, sich in nahezu surreale Gefilde zu verabschieden – und kaum eine lässt er ungenutzt.

Wobei es für mich als Außenstehenden schon allein surreal ist, dass zum Beispiel keiner der Charaktere wirklich vernünftig eingeführt wird. Von all den Personen, die im Umfeld Chris‘ zu finden sind, konnte ich höchstens einen Bruchteil richtig zuordnen. Figuren tauchen einmal auf, verschwinden dann für lange Zeit aus dem Film, andere werden gleich gar nicht mehr erwähnt, wiederum andere stehen ständig im Bild herum, doch weiß zumindest ich nicht, wer sie sind und was sie mit der eigentlichen Handlung zu tun haben sollen. Gerade die Spielszenen, in denen ausnahmsweise keine Schreckgespenster vorkommen, wirkten auf mich, als seien sie das Material, das übrigblieb, nachdem man versucht hat, eine nigerianische Vorabendsoap von knapp einhundert Folgen auf eine Laufzeit von eineinhalb Stunden zusammenzuschneiden. Die Montage ist holprig wie ein Besenritt, oftmals scheinen mir, dessen Augen an westliche Sehgewohnheiten angepasst sind, ganze Storyteile zum Verständnis zu fehlen, überhaupt vermittelt der Film für mich den Eindruck, weder einen richtigen Anfang noch ein richtiges Ende zu haben: er beginnt eben irgendwo und hört irgendwo auf. Sicher, ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass ein nigerianisches Publikum keine Probleme hat, diesen wilden Trip in die möglichsten und unmöglichsten Szenenabfolgen problemlos mitzugehen , mich hat er abwechselnd ratlos, entsetzt und amüsiert zurückgelassen. Die Ratlosigkeit stellt sich ein, wenn einmal mehr Dinge vor meinen Augen geschehen, die ich einfach nicht zuordnen kann. Beispielweise das große Finale, in dem eine alte Frau, die ich für Chris‘ Mutter halte, sich öffentlich der Hexerei bezichtigt, von einem aufgebrachten Mob fast totgeprügelt wird, worauf ihr der Bauch aufplatzt und diesem ein schlecht in die Szene hineinkopierter ausgewachsener Hund entsteigt, der dann gen Himmel fährt. Entsetzen mischt sich bei all den Szenen hinzu, die Kinder dabei zeigen wie sie Anschläge gegen ihre Eltern verüben, diesen mitunter sogar erfolgreich nach dem Leben trachten, eben weil ich im Hinterkopf das ganze Leid habe, dem Kinder in Westafrika nicht zuletzt wegen Ukpabios Propagandamaschinerie ausgesetzt sind. Besonders schlimm wird es, wenn Ukpabio selbst als Pastorin ihre seltenen, aber wirkungsmächtigen Auftritte absolviert, und solche Binsenweisheiten vom Stapel lässt wie dass sich Chris und seine Familie nur Herrn Jesus zuwenden müssten und schon seien sie vom Teufelsspuk erlöst. Das ist schon harte Kost, diese eigentlich freundlich und friedlich wirkende Frau in Aktion erleben. Amüsiert bin ich zuletzt vom Schauspiel der Akteure, die auf angenehme Weise keine Scham und keine Grenzen kennen. Erheiternd ist vor allem die oben bereits erwähnte Szene des Mannes, der sein Augenlicht verliert. Gefühlte fünfzigmal brüllte er herum, er habe keine Augen mehr, während seine Frau verzweifelt die Hände ringend daneben steht, und alsbald noch das Kind der Familie hinzugelaufen kommt, um in die Klagen miteinzustimmen.

END OF THE WICKED ist ein Film, bei dem ich meine Kapitulation einreichen muss. Vielleicht noch nie hat mich ein Stück Kino derart aus der Fassung gebracht wie dieses. Soll ich lachen? Soll ich weinen? Soll ich staunen? Tausend Fragezeichen schwirren um meinen Kopf herum. Ich weiß nur: so etwas habe ich noch nie gesehen, werde ich vielleicht nie wieder sehen und will ich vielleicht auch nie wieder sehen. Ab in den Giftschrank mit diesem Film und den Schlüssel in eine Eule verwandeln!

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: Sa 22. Okt 2016, 11:26
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Witches

Produktionsland: Nigeria 1998

Regie: Fred Amata, Sunny Collinsis

Darsteller: Liz Benson, Patrick Doyle, Zack Orji, Bukky Ajayi, Tony Muonagor
Nachdem ich kürzlich endlich einmal einige Zeilen über den für mich nach wie vor schlicht unfassbaren nigerianischen Horrorfilm END OF THE WICKED verfasst habe, dachte ich mir, auch gleich noch kurz ein Werk namens WITCHES zu besprechen, das ich mir bei einem etwaigen Double-Feature zu westafrikanischen Hexenfilmen besonders gut als Partner von END OF THE WICKED vorstellen könnte. Helen Ukpabio, die evangelikale Predigerin und selbsternannte Hexenjägerin, unter deren Ägide END OF THE WICKED im Jahre 1999 entstehen wird, ist bei WITCHES von 1998 zwar offenbar nicht aktiv involviert, personelle und thematische Überschneidungen gibt es zwischen den beiden Filmen trotzdem. Zum einen nennt der Vorspann Teco Benson als Drehbuchautoren, der ebenfalls schon für END OF THE WICKED das Skript verfasst und außerdem auf dem Regiestuhl Platz genommen hat. Des Weiteren wirkt die Geschichte, die WITCHES erzählt, im Grunde wie die abgespeckte, geradlinigere, leichtbekömmlichere Variante von der, mit der sich END OF THE WICKED ein Jahr später in meinen persönlichen Kanon der ungewöhnlichsten Filme aller Zeiten einschreiben wird.

Irgendwo im westafrikanischen Dschungel hat eine Hexengemeinschaft ihre Heimstatt aufgeschlagen. Sie scheinen geradewegs aus der Hölle zu stammen, mit ihren langen Teufelskrallen und den Eberzähnen in ihren verzerrten Mäulern, und haben folgerichtig nichts weniger im Sinn als armen, frommen Menschen in den umliegenden Städten Unheil und Unbehagen frei Haus zu liefern. Princess, Tochter einer einstmaligen Hexe, die vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, führt indes eine Doppelexistenz. Während sie tagsüber eine Boutique leitet, sitzt sie nachts mit ihren verhexten Brüdern und Schwestern um ein Lagerfeuer herum und lauscht andächtig den Befehlen und Predigten der bitterbösen Oberhexe. Dann aber lernt sie Desmonde kennen, einen adretten Mann, der ihr lange den Hof macht und sie dann mit einem Heiratsantrag regelrecht überfällt. Gerne würde sie sofort in den lang ersehnten Bund fürs Leben einschlagen, doch zuerst muss sie die Hexenzirkelanführerin dafür um Erlaubnis bitten. Dass diese ihr die verweigert, überrascht wenig, umso mehr aber, dass in Princess eine Rebellin erwacht, die ihr rät, Desmonde trotzdem zu ehelichen, auf den Hexenzirkel zu pfeifen und fortan ein anständiges, gutbürgerliches Leben wie ein normaler Mensch zu führen. Das kränkt die Oberhexe und ihre verworfene Brut stark in ihrer Ehre und sie schmieden Ränke, um Princess die Zukunft zu vergällen. Was liegt näher, als ein Baby aus schlechter Energie zu schaffen, dieses auf einer Müllhalde materialisieren, von Passanten finden und ins örtliche Kinderheim bringen zu lassen, von wo es dann Desmonde und Princess, die zwei Jahre lang vergeblich versucht haben, auf natürlichem Wege Kinder zu bekommen, vom Fleck weg adoptieren, ohne im Geringsten zu ahnen, dass sie sich das Böse, von dem sie sich eigentlich losgesagt haben, ins eigene Schlafzimmer holen?…

Da meine Inhaltsangabe zu WITCHES einen dann doch recht kohärenten, in sich schlüssigen Film erwarten lässt, sollte ich wohl sofort Entwarnung blasen. WITCHES mag, verglichen mit END OF THE WICKED, zwar über mehr Struktur, mehr nachvollziehbare Handlungen, mehr eindeutig fassbare Figuren verfügen, viel heißt das indes nicht, da verglichen mit END OF THE WICKED wohl sogar die benommensten und deliriendsten Filme eines Renato Polselli oder Wenzel Storch aussehen, als hätten an ihnen zehn Drehbuchautoren herumgedoktert, um ja keinen blinden Fleck an fehlendem Sinn oder zerschossener Logik zurückzulassen. Irritierend ist beispielweise weiterhin für mich, dass der Film ständig zwischen der Welt der Geister und der Welt der Menschen munter hin und her wechselt, und dabei offenbar Querverbindungen zieht, denen ich, der ich, wie gesagt, mit den in Westafrika vorherrschenden religiösen Überzeugungen nicht wirklich vertraut bin, nur mit äußerster Mühe folgen kann. Ebenso seltsam erscheint für jemanden, der mit vor allem europäischem Kino sozialisiert worden ist, dass sich der Film immer wieder gerne in Nebenhandlungen und Subplots verliert, die scheinbar in überhaupt keinem Zusammenhang zu der Hauptgeschichte um Princess, Desmonde und ihren Dämonensäugling stehen. So tritt eine Figur namens George, offenbar ein erfolgreicher Geschäftsmann, quasi aus dem Nichts heraus in den Film, ohne dass sein Charakter in irgendeiner Weise eingeführt werden würde, und verschwindet später, nachdem er von einem Dämon, der ihm als Geschäftspartner erscheint, dazu verflucht worden ist, finanziell nur noch Misserfolge zu erleiden, und der örtliche Priester ihn von besagtem Fluch erlöst hat, ebenso plötzlich wieder aus dem Geschehen. Eine weitere Episode, die höchstens assoziativ mit dem restlichen Film verbunden ist, rankt sich um einen Bus voller Gläubiger, die minutenlang unter Führung eines überfröhlich in die Hände klatschenden Predigers Jesus ein Ständchen nach dem andern bringen, um dann von einer Horde Dämonen in Gestalt der süßesten Kätzchen attackiert und geradewegs auf die Schnellstraße in Richtung Hölle gelotst werden.

Daneben sind einige Szenen deshalb für mich bemerkenswert gewesen, weil ich durch sie, sozusagen über die Hintertür, doch ein bisschen etwas von den Lebensumständen, gesellschaftlichen Bedingtheiten und kulturellen Parametern Nigerias erfahren habe. Erwähnenswert finde ich zum Beispiel, dass im nigerianischen Kino die für uns selbstverständlichen Grenzen zwischen denjenigen vor und denjenigen hinter der Kamera nicht allzu strikt gezogen sind. Wie im Stummfilmkino unserer Hemisphären scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass ein und dieselbe Person bei einer Produktion als Schauspieler auftritt, bei der nächsten als Regisseur, bei einer dritten als Drehbuchschreiberling. Fred Amata, einer der beiden Regisseure von WITCHES, ist einer von diesen zahlreichen Filmschaffenden, die, je nach Erfordernissen, scheinbar problemlos sowohl die künstlerische Leitung eines Films übernehmen, aber auch in eine Rolle schlüpfen und sich in den Dienst der Geschichte stellen können. Eine Szene, in der ein Mann von den Waldhexen heimgesucht wird und so etwas wie einen akuten Anfall von over-acting erleidet, bei dem er sich überall am Körper kratzt, sich schließlich entkleidet, in sich zusammensackt und sich in ein Hühnchen verwandelt, ist deshalb für mich interessant, weil der Schauspieler sich ohne falsche Scham mehrmals vor laufender Kamera sichtbar und fest in den Schritt fasst. Was in einem dezidiert christlichen Film der westlichen Welt wenn nicht undenkbar, so doch zumindest eine Naserümpfen verursachende Obszönität wäre, wird in WITCHES nicht mal als Schockeffekt präsentiert, sondern als die ganz normale, ganz natürliche Geste, die das nun mal ist, wenn eine Hand nach einem Penis greift. Außerdem hat es mich lächeln lassen zu sehen, dass man in Nigeria, was angesichts des dortigen Klimas eigentlich naheliegt, offenbar ohne Bettdecken schläft. Die Protagonisten in WITCHES liegen in ihren Schlafanzügen auf Matratzen, die zwar mit einem etwas dickeren Laken überzogen sind, richtige Bettdecken wie wir sie kennen, habe ich im ganzen Film keinmal gesehen.

Andere Szenen wiederum haben sich mir ins Gedächtnis gebrannt, weil sie dort meinem Verstand am nächsten sind, um heftig an ihm zu kratzen. Der Autounfall, bei dem Princess‘ Mutter im zwanzig Jahre früher angesiedelten Prolog ihr Leben lassen muss, ist eine dieser Szenen, die ich nicht mal zu beschreiben wage, so sehr entzieht sie sich einem logischen System wie der menschlichen Sprache. Leichter fällt es mir bei meiner liebsten Szene des gesamten Films, obwohl man die ebenfalls gesehen haben sollte, um ihre volle Wirkung zu erfassen. Das Baby, das Princess und Desmonde adoptiert haben, wird jede Nacht zu einem in unterschiedlichen Gestalten auftretenden Dämon, der aus dem Ehebett, wo der Säugling mit den Eltern schlafen darf, entwischt, um sich in den Wald zu seinen teuflischen Geschwistern zu schleichen und schlimme Rituale zu feiern. Beim Morgengrauen indes liegt die Bestie stets wieder bei unseren Helden im Bett, die lange Zeit nichts ahnen von den mitternächtlichen Ausflügen ihres Nachwuchses. Einmal wird Desmonde dann aber doch wach und muss mitansehen wie das Baby zu einer Ratte zusammenschrumpft. Sofort weckt er Princess und gemeinsam verschanzen sie sich im Nebenraum, wo sie auf die Wiederkehr ihres Säuglings warten. Die Zeit verstreicht, was der Film mit der Großaufnahmen einer Wanduhr untermalt, Princess stellt immer wieder die gleiche Frage, was das alles zu bedeuten habe und wo ihr Baby sei, und Desmonde wiederholt immer wieder, sie solle ruhigbleiben, sie solle abwarten, er wolle ihr etwas Wichtiges zeigen. Das Wichtige ist dann gegen Morgen die Ratte, die zurück ins Bett klettert und sich zurück in das Baby verwandelt. Klar ist nun: ein Fachmann muss her, ein Priester mit Hitlerbärtchen, dessen exorzistisches Talent das Baby wiederum Metamorphosen in verschiedene Tiergattungen und verschiedene an Hässlichkeit kaum zu überbietende Dämonen unterwirft bevor es in Schall und Rauch verschwindet und Desmonde und Princess zwar kinderlos, aber mit zur Ehre Christi gefalteten Büßerhänden zurücklässt. So amüsant das alles klingt und in vorliegendem Film auch tatsächlich aussieht, so sehr lässt mich die Vorstellung frösteln, dass westafrikanische Eltern, deren Köpfe von Predigern wie Helen Ukpabio oder Patrick Doyle mit den wundersamsten Ängsten vollgestopft worden sind, in der Realität außerhalb solcher schrägen Filmproduktionen wie END OF THE WICKED oder WITCHES wirklich ihre Kinder verstoßen, dem örtlichen Priester zum Fraß vorwerfen oder gar selbst Hand an sie legen, weil sie felsenfest glauben, sie seien von Teufeln besessen.

Letztlich kann ich WITCHES jedem aufgeschlossenen Filmfreund aber doch empfehlen – vielleicht mehr noch als END OF THE WICKED, der einen bei der Erstsichtung spielerisch an die physische und psychische Belastbarkeitsgrenze zu führen vermag -, obwohl WITCHES mit seiner Laufzeit von fast zwei Stunden und seinem überaus monotonen und überaus fordernden Flötensoundtrack sicherlich auch genügend Potential hat, seine unvorbereiteten Zuschauer im Innersten zu verstören.

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: Sa 22. Okt 2016, 11:27
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Zan-e khoon-asham

Produktionsland: Iran 1967

Regie: Mostafa Oskooyi

Darsteller: Mostafa Oskooyi, Mahindokht, Mehdi Fat'hi, Homayoondokht, Valiyollah Shirandami
Vor knapp fünfzehn Jahren, als ich damit anfing, mich, gerade erst an das althergebrachte gewöhnt, für das eher abseitige Kino zu interessieren, konnte mich im Prinzip kein äußeres Hindernis, einmal abgesehen von fehlender Verfügbarkeit, davon abhalten, mir seltene, geheimnisumwitterte Filme anzuschauen, die Freunde von mir aus dubiosen Internetquellen gesaugt hatten, obwohl es im Internet selbst zu diesem Zeitpunkt kaum Informationen über sie zu finden gab. Ich erinnere mich an eine DVD-R von Thierry Zénos VASE DE NOCES, die offensichtlich auf Grundlage einer völlig verrauschten VHS entstanden sein muss. Ich merkte erst etwa in Filmmitte, dass Ton und Bild asynchron zueinander standen. Nachdem der namenlose Bauer sein geliebtes Schwein von hinten genommen hatte, dauerte das irgendwie desinteressierte Grunzen auf der Tonspur noch an, obwohl der Geschlechtsakt längst vorbei war. Auch erinnere ich mich an eine Kopie von Alberto Cavallones BLUE MOVIE mit etwas besserer Bildqualität, dafür komplett ohne Untertitel. Auf die paar italienischen Wortfetzen zurückgeworfen, die ich mit einiger Mühe noch verstehen konnte, und vor allem die mich schlicht erschütternden Bilder, musste ich mir die Handlung des Films selbst zusammenreimen. Wie sich Jahre später herausstellte, als ich endlich eine Fassung von BLUE MOVIE mit englischen Untertiteln sehen konnte, lag ich mit meiner phantasievollen Deutung gar nicht mal allzu weit entfernt von der tatsächlichen Geschichte. Dann gab es natürlich noch einige Werke Andy Warhols, KISS zum Beispiel und Teile von EMPIRE, die jemand in einem Kino direkt von der Leinwand abgefilmt hatte. Dementsprechend war dann natürlich auch die Bildqualität. Mit etwas Glück konnte man noch die Lippen der Küssenden erahnen und die Stelle, wo die Außenränder des Empire State Buildings endeten und der Nachthimmel anfing.

In solchen Momenten fühlte ich mich wie ein Entdeckungsreisender, wie ein Fuß, der zum ersten Mal auf einen fremden Kontinent gesetzt wird. Ich zählte mich zu einer Handvoll von Menschen, die überhaupt jemals von diesem oder jenem Film gehört hatten, und dann noch einmal zu einer noch viel erleseneren Zahl, die es auf sich nahm, sich diese Filme in Fassungen zu Gemüte zu führen, bei denen die meisten von Blockbustern und HD-Optik Verwöhnten schreiend Reißaus genommen hätten. Es war wie ein Privileg, natürlich, und ich spielte es manchmal aus, wenn ich Freunden mit leuchtenden Augen von meinen neusten Schätzen erzählte, und war dann oft enttäuscht, wenn sie nur die Stirn runzelten, mit den Schultern zuckten oder schon mit der Hälfte des Ohrs in einer anderen Konversation steckten, noch bevor ich zu Ende geschwärmt hatte. Ebenfalls als Enttäuschung, fast wie ein Schlag ins Gesicht, empfand ich es, als ich Jahre später zum Beispiel über eine astreine Fassung von VASE DE NOCES auf youtube stolperte. Ich glaube, das Video war nicht einmal altersbeschränkt, konnte also von jedem ganz offen, ganz unkompliziert, ganz synchron und ganz ohne Bildstreifen bewundert werden. Es war, als sei ich betrogen worden, ein bisschen. Während ich schlief, hatten sich neue Siedler auf meinem Kontinent niedergelassen, und je mehr Augen die exotischen Tieren und Pflanzen sahen, je mehr Verstände sie kategorisierten, je mehr Münder sie aßen desto weniger Wert schienen sie auf einmal für mich zu besitzen. Letztlich überwog aber das Gefühl, es ihnen zu gönnen. Ich packte meine Ausrüstung zusammen, wünschte ihnen alles Gute und hatte einen Grund, noch weiter ins Landesinnere vorzudringen. Sobald mehr als fünf Leute sich mehr als fünf Meinungen über dieses oder jenes Mineral, diesen oder jenen Luchs, diese oder jene pfeilgiftgrüne Frucht gebildet hatten, konnte man dort, wo mein Zelt gestanden hatte, bloß noch eine Fläche mit niedergedrücktem Gras, ein paar Zigarettenstummeln und Löchern für die Heringe anstarren.

Letzte Woche geriet ich schließlich in eine Gegend, die so wirkte, als seien dort vor mir derart wenige Menschen gewesen, dass sich ihre Spuren bereits weitgehend verloren hatten. Sie materialisierte sich in einem Film, den ich ebenfalls wieder aus mehr als dubiosen Quellen zugespielt bekommen hatte, und zwar in einer Verfassung derart unterirdisch, dass ich mehr als zehn Minuten zögerte, ob ich ihn mir unter diesen Umständen wirklich antun sollte. Dieses Werk, ZAN-E KHOON-ASHAM, Produktionsjahr 1967, soll, heißt es zumindest in dem bisschen Kehricht, den man im weltweiten Netz an Informationen über ihn zusammenkehren kann, der erste genuin iranische Vampirfilm überhaupt sein. Dass es überhaupt jemals einen Vampirfilm aus dem Iran gegeben haben soll, selbst unter verhältnismäßig westlich gestrickter Schah-Regentschaft, elektrisierte mich schlussendlich doch genug, dass ich mir vornahm, großzügig über die Tatsache hinwegzusehen, dass es sich bei meiner Kopie offensichtlich um die Kopie einer Kopie einer Kopie handelte, deren Ausgangsmaterial wiederum eine desolate VHS auf Basis einer ramponierten Filmrolle gewesen sein dürfte. Was man sich mit vollem Herzen vornimmt, gelingt oft besser als man befürchtet. Eine Reise in Emotionen meiner Vergangenheit stand mir bevor, erneut wurde ich zu Füßen, die unsicher unbekanntes Terrain abtasten, und zu Zelten, die sich ehrfürchtig und stolz auf Schollen breitmachen, von denen es nicht schwerfällt zu glauben, sie seien von niemandem vorher mit seinem Gewicht belastet worden.

Einen schmucken Playboy namens Jahangir verschlägt es in die persische Provinz, wo er seinen alten Freund Bahram und dessen ihm bislang unbekannte Familie besucht. Sofort zeigt er sich außerordentlich betört von Golnar, der Schwester seines ehemaligen Schulkameraden, und da ihm das Schicksal nicht nur ein attraktives Äußeres mit auf den Weg gegeben hat, sondern auch das Laster, jedes ihm zugeworfene Frauenherz sofort fangen zu müssen, verführt er das Mädchen skrupellos. Obwohl Golnar ihm bereitwillig ihre Unschuld geopfert hat, hält Jahangir nach vollendetem Akt nichts mehr in der ländlichen Idylle. Er folgt dem Ruf der Großstadt und lässt Golnar, deren erste und einzige Liebe er ist, sowohl mit nunmehr gebrochenem Herzen als auch einem Kind unter demselben tränenreich bei ihrer Familie zurück. Sein Versprechen, bald zurückzukommen, wird ebenso wenig gehalten wie das, ihr treu zu bleiben. Bereits kurz nach seiner Abreise verguckt er sich in Teheran in Parvin, die wiederum zwar einen Ehemann hat, mit dem aber schon lange kein Bett mehr teilt. Schon wieder hat Jahangir leichtes Spiel mit einer ihn anschmachtenden Frau. Doch die Sühne lässt freilich nicht lange auf sich warten: Sein Freund aus der Provinz steht eines Tages mit erschütternden Neuigkeiten vor ihm. Alles deute, erklärt Bahram, daraufhin, dass Golnar aus Liebeskummer verstorben sei und nun als ruhe- und ruchloser Geist umhergehe, um sich an ihm, Jahangir, für ihren verfrühten Tod und seine Treulosigkeit zu rächen. Obwohl unser Held derlei Märchen zunächst noch verlacht, hat er bald eine nächtliche Begegnung mit der Verschollenen, die ihm, den Mund voll bleckender Fangzähne, ankündigt, jeder Frau, mit der er von nun an etwas haben sollte, den Hals umzudrehen…

ZAN-E KHOON-ASHAM beginnt wie ein Werbefilm des iranischen Tourismusministeriums. Sein Dreh- und Angelpunkt: die Stadt Nischapur im nordöstlichen Teil des Landes, einstmaliges Zentrum der persischen Teppich- und Keramikkunst, im Hochmittelalter eine der bevölkerungsreichsten Metropolen weltweit und Besitzerin einer der größten Bibliotheken weltweit, und außerdem berühmt für zwei Dichtergrabmäler, das von Omar Chajjam und das von Fariduddin Attar. Einen wikipedia-Eintrag zu wälzen erspart einem die Sichtung von ZAN-E KHOON-ASHAM, da uns der Film, genau wie seinen Hauptdarsteller Jahangir, zunächst zu einer mehrminütigen Sightseeing-Tour quer durch die Stadt mitnimmt, inklusive solcher wissenswerter Fakten wie der derzeitigen Einwohnerzahl Nischapurs, einem knappen Abriss der bewegten Stadtgeschichte und einer kurzen Einführung in seine Verortung innerhalb der Landesgeographie. Während Jahangir zu flotter Musik von einem Taxi durch die Gegend kutschiert wird, übernimmt Bahram die Rolle des Führers und ergeht sich in einem Superlativ nach dem andern, um Nischapur anzupreisen, als ginge es dem Film eigentlich darum, sein Publikum zum Überrennen der dortigen Hotels zu bringen. Zugleich fällt natürlich auf, dass kritische Töne jedweder Art gänzlich ausgespart werden. Wie in einem Bericht der guten alten Wochenschau soll man vor Bewunderung auf die Knie gehen, wenn die oben genannten Mausoleen als Musterbeispiele vorzüglicher persischer Architektur vorgeführt werden und Jahangir und Bahram sich gegenseitig mit Lobhudeleien zu übertrumpfen versuchen. Selbst als man endlich die Familie Bahrams erreicht hat, ruht das Rad der Selbstbeweihräucherung nicht. Natürlich entstammt Bahram einem Hause, das wie gesegnet ist von den mannigfaltigen Zuwendungen der iranischen Politik. Bahrams Brüder studieren oder arbeiten im Ausland, einer befindet sich sogar in Deutschland und lässt sich zum Agrarwissenschaftler ausbilden. Dass in Großaufnahme ein Photo des Schahs geküsst wird, hätte den Grundtenor von ZAN-E KHOON-ASHAM nicht wesentlich mehr ins Idealistische verzerren können.

Danach jedoch wird es erstmal ruhiger um mehr oder minder plakative Staatspropaganda und ZAN-E KHOON-ASHAM verlegt sich auf das leicht sentimentale Illustrieren des iranischen Landlebens, mit vielen Fruchtbäumen, traditionellen Festen und Bräuchen und freilich ausgiebigem Folklore-Tanz und –Gesang. Eine Hochzeit, der Jahangir beiwohnt, hat dann auch schon beinahe dokumentarischen Charakter, und stellt, sämtliche Tänze und sangestechnischen Segenswünsche eingerechnet, mit einer Länge von knapp zehn Minuten schon fast so etwas wie ein retardierendes Moment in der doch recht geradlinigen Handlung dar. Die wurde zuvor aber immerhin schon ein bisschen mit Gänsehaut gespickt, als Jahangir und Bahram am Lagerfeuer über örtliche Vampirlegenden diskutieren. Irritierend ist hierbei nur, dass man ausgerechnet LE COMTE DE MONTE-CHRISTO als Referenzwerk für gängige Blutsaugergeschichten anführt. Sollte Hauptdarsteller, Produzent und Drehbuchautor Mostafa Oskooyi – der mit der Filmwelt vor und nach ZAN-E KHOON-ASHAM scheinbar nie etwas zu tun gehabt hat – den Mantel-und-Degen-Bestseller Alexandra Dumas‘ am Ende gar mit Bram Stokers DRACULA verwechselt haben? Vorwerfen kann man ihm indes nicht, in seinem, wie gesagt, doch eher kohärenten, nachvollziehbaren Film die eine oder andere, zumindest für meine westlichen Augen, avantgardistisch anmutende Szene versteckt zu haben. Wenn weitere Tänzerinnen, aus Vogelperspektive gefilmt, ihre Körper sich in Formation regelrechter Ornamente bewegen lassen und dazu aus dem Off eine ernste Stimme Gedichte eben des Omar Chajjams vorliest, dessen Ruhestätte wir kurz vorher besucht haben, dann bin ich mir nicht ganz sicher, ob das nun eine Allegorie, eine Traumsequenz, beides oder nichts von alledem sein soll.

Interessanterweise verliert ZAN-E KHOON-ASHAM all seinen ländlichen Charme und seine storyfremden Tänzer- und Singereien, sobald die Handlung, gemeinsam mit Jahangir, nach Teheran gewechselt ist. Einen wirkungsmächtigeren Kontrast zu den volkstümlichen Kostümen, Obstbaumplantagen und urigen Instrumenten im Hinterland als die Wolkenkratzer, westlichen Gewandungen, Autohupkonzerte in der iranischen Hauptstadt kann man sich kaum vorstellen. Erst einmal dort scheint der Film sich zunächst zu einer klassischen Ehebruchgeschichte zu entwickeln, bevor dann endlich, nach etwas über sechzig Minuten, zum ersten Mal die Horrorelemente in den Vordergrund geschoben werden, wegen denen ich mir den Film ursprünglich eigentlich zur Brust genommen hatte. Es mag sein, dass jene Szenen, in denen die mit klassischen Dracula-Beißerchen ausgestattete Golnar ihrem vormaligen Liebsten die schlimmsten Strafen androht – darunter, dass sie Pavin etwas antun und es mittels dämonischer Kräfte so hindrehen wird, dass der Verdacht, an ihrem Dahinscheiden Schuld zu sein, letztlich auf ihn fallen wird - auf das damalige Publikum überaus atmosphärisch gewirkt haben, geschult am deutschen Stummfilmexpressionismus, mit ansprechenden Licht- und Schattenspielen. Leider habe ich in der mir vorliegenden Fassung allein schon Probleme damit zu erkennen, wo genau die Eckzahnspitzen unseres weiblichen Vampirs überhaupt genau innerhalb des Bildkaders liegen.

Dennoch spricht es wahrscheinlich für den Film, dass ich seine eineinhalb Stunden selbst mit halbzusammengekniffenen Lidern durchstanden habe. Trotz eines für mich alsbald voraussehbaren plot twist, der der ganzen Chose ihren übernatürlichen Anstrich kurz vor Schluss noch nimmt, empfand ich ZAN-E KHOON-ASHAM, gerade was seine, sagen wir, ersten vierzig Minuten betrifft, als ein ausgesprochen unterhaltsames Moralstück, das sich an, für einen iranischen Film der späten 60er, könnte ich mir denken, durchaus mit explosivem Potential versehene Themen wie vorehelichem Sex und Ehebruch heranwagt, um einen dann mit seinen kitschnassen Schlusseinstellungen am Ende doch wieder in Wohlklang und Liebsäuselei zu ertränken. Ansonsten ist gerade der recht abrupte Wechsel zwischen märchenhafter Pastorale und großstädtischer Paranoia, einmal ganz unabhängig vom unbestreitbaren Exoten-Bonus, den der Film allein aufgrund seines Produktionslandes und seiner Produktionszeit bei mir genießt, so reizvoll für mich, dass ich mir vorstellen kann, ZAN-E KHOON-ASHAM würde, wenn er, ähnlich vielleicht wie sein pakistanischer Bruder ZINDA LAASH, ebenfalls von 1967, einmal eine würdige Veröffentlichung hierzulande erfahren würde, dem einen oder andern Genrefreund durchaus ein ungläubiges Lächeln ins Gesicht zaubern können.

Zum Beweis, dass ich nicht übertreibe, was den dermaßen restaurationsbedürftigen Zustand dieses angenehmen kleinen Schauerstücks betrifft, anbei ein paar Screenshots der einzigen mir bekannten Fassung. (Für den, der alle Motive eindeutig zuordnen kann, sprich: der erkennt, was da zu sehen sein soll, bespreche ich exklusiv noch einen weiteren iranischen Horrorfilm... ;-) ).

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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Verfasst: Di 1. Nov 2016, 10:56
von Salvatore Baccaro
Eine Nacht in der Hölle

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Originaltitel: Shab-neshini dar jahannam

Produktionsland: Iran 1956

Regie: Samouel Khachikian, Mushegh Sarvari

Darsteller: Reza Arham Sadr, Ezzatollah Vosoogh, Ebrahim Bagheri, Mehdi Reisfirooz, Ali Zandi
Samoule Khachikian dürfte wohl der Name sein, der einem als erstes zufällt, wenn man beginnt, sich mit der Genrefilmproduktion des Irans auseinanderzusetzen. Zwischen den frühen 50ern und den frühen 90ern drehte, schrieb und schnitt der gebürtige Armenier über dreißig Filme, die zumeist an der Schnittstelle zwischen Sozialdrama, Kriminalthrillern und Horrorelementen operieren und ihm den Spitznamen eines „iranischen Hitchcocks“ einbrachten. Bei SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM von 1956 handelt es sich um ein Werk, das zunächst unter der Regie eines gewissen Mushegh Sarvari entstehen sollte, nach dessen Überwürfnis mit den Produzenten es von Khachikian zu Ende geführt wurde. Obwohl der Film demnach kein hundertprozentig leibliches Kind Khachikians ist, gehört er zu dem einem westlichen Publikum noch am ehesten bekannten Teil seines Oeuvres. SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM war die erste genuin iranische Filmproduktion, die überhaupt irgendwo im Ausland auf einem Festival lief – in diesem Fall die achten Internationalen Filmfestspiele Berlins. Nachdem ich SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM nunmehr in einer reichlich ausgebleichten Kopie endlich besehen konnte, würde ich doch gerne wissen, wie die Gesichter der damaligen Jurymitglieder – darunter solche Leute wie Jean Marais, Gerhard Lamprecht und Frank Capra – nach der Sichtung dieses im Grunde jeglicher Beschreibung spottenden Höllentrips ausgesehen haben mögen...

Haji Jabbar ist der habgierigste Mann des gesamten Orients. Nicht nur, dass er den Ruf zum Morgengebet allein deshalb versäumt, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, seine neuen Bareinkünfte zu zählen und selbstverliebte Loblieder auf seine eigene Person vor sich hin zu singen, auch zeigt er sich völlig unbeeindruckt von dem Notleiden seiner Mitmenschen: Eine Bettlerin, die ihm um etwas Kleingeld bittet, wird genauso brüsk abgewiesen wie er eine Familie, die die Miete einer seiner Wohnungen nicht rechtzeitig bezahlen kann, in einem mehr als grotesken Wutanfall auf die Straße wirft und dabei unter Gebrüll, wo das ihm rechtmäßig zustehende Geld sei, noch die halbe Inneneinrichtung demoliert. Seiner Familie gegenüber ist der Geizhals, gegen den selbst Dagobert Duck wie einer der barmherzigsten Samariter wirkt, nicht weniger aufbrausend: Seine Tochter, Parvin, beispielweise soll aus rein pekuniären Motiven an einen wohlhabenden Freier verschachert werden. Als sie gegen das Regime ihres Vaters aufbegehrt und ihm eröffnet, dass sie ihren Cousin liebe und ehelichen wolle, bekommt sie ihre versuchte Emanzipation von Haji Jabbar mit Faustschlägen beantwortet. Nachts schläft das Scheusal im wahrsten Sinne des Wortes über seinem Reichtum. Den hat er nämlich in einem Geheimversteck direkt unter seinem Bett verschlossen. Als eine Ratte sich dorthin verirrt und in eine der die Geldhöhle bewachenden Fallen gerät, tanzt Haji Jabbar vergnügt durch sein Zimmer, voller Vorfreude, die angebliche Diebin bei lebendigem Leibe ertränken zu können. Es muss wohl nicht hinzugefügt werden, dass dieser ständig herumschreiende, bis zur Selbstkarikatur materialistisch ausgerichtete und mit einem äußerst plakativen Altmänner-Make-Up versehene Haustyrann zu den eher unsympathischen Figuren der Filmgeschichte gehören dürfte.

Dann aber betritt eine weitere zwielichtige Gestalt die Bühne der Geschichte. Geschickt schafft es der Kleinkriminelle, der von Haji Jabbars Reichtum erfahren hat und nun plant, sich dessen zu bemächtigen, an den Sohn seines zukünftigen Opfers heran, der wiederum, unzufrieden mit dem schiefhängenden Haussegen und dem strengen Regime seines Vaters, seine Zeit in Nachtclubs totschlägt. Dort ebenfalls anwesend ist Ahmad, der trottelige Assistent Haji Jabbars, der, verkleidet als Schlangenbeschwörer, heimlich die Ränke belauscht, mit denen unser Krimineller den Verwahrungsort von Haji Jabbars Reichtümer aus seinem redseligen Sohn herauszukitzeln versucht. Als der, die Zunge vom Alkohol gelockert, endlich preisgibt, wo sein Vater sein Vermögen verwahrt hält, ist der Plan bereits geschmiedet: In der nächsten Nacht verschafft sich der Dieb Zutritt zu Haji Jabbars Haus, bringt es fertig unbemerkt bis in den Goldkeller vorzustoßen, wird dort aber von Ahmad in einer Szenenfolge überrascht, die in keinem stummen Klamaukfilm der 1910er fehlplatziert wäre: Unterlegt mit albernen Comic-Geräuschen, wenn sich jemand den Kopf stößt oder an die Nase fasst, purzeln Ahmad und der Ganove von einer Slapstick-Einlage in die nächste bis das Ganze darin gipfelt, dass der inzwischen erwachte und zorntobende Haji Jabbar in den eigenen Luxuspool stürzt, nachdem Ahmad und er es jedoch erfolgreich verstanden haben, den Räuber in die Flucht zu schlagen.

Die Folge von Haji Jabbars unfreiwilligem Bad: eine schwere Lungenentzündung, die ihn nicht nur ans Bett fesselt, sondern, das sagt zumindest sein behandelnder Arzt, vermutlich das Leben kosten wird – zumal Haji Jabbar jegliche Medikamente aus Kostengründen strikt verweigert. Wenn der alte Knauser in seinem Kranken- bzw. Sterbelager zetert, ist bereits die komplette erste Stunde von SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM ohne das geringste phantastische Einsprengsel vergangen. Bis hierhin hat der Film sich als ziemlich grobschlächtige, ziemlich überdrehte und ziemlich infantile Komödie erwiesen, die sich fast ausschließlich auf das gnadenlose over-acting des Haji-Jabbar-Darstellers Ezzatollah Vosoogh und die clownesken Blödeleien des namhaft Komödianten Reza Arham Sadr konzentriert, der den Ahmad spielt. Höchstens hauchdünn sind die moralischen Tendenzen des Films spürbar, und nur zweimal wird der sprunghafte Gang der Handlung durch das sentimentale Liebesgeplänkel von Parvin und ihrem Liebsten unterbrochen, die einander ihre Gefühle singend gestehen – einmal sogar in einer hübschen Rückblende, in der Parvins Cousin ihr Geträller mit einem Akkordeon begleitet, während sie durch eine idyllische Wald-und-Wiesen-Landschaft flanieren. Jäh aber unterzieht sich der Film nun aber einer Metamorphose: Haji Jabbar erwacht mitten in der Nacht und sieht eine Gestalt vor seiner Schlafstaat, die lange Krallen, einen Kapuzenmantel, eine Sense trägt und sich als der Todesengel vorstellt, der gekommen sei, ihn zu holen. Was folgt, ist ein etwa halbstündiger Trip in eine Hölle, bei der es mir immer noch schwerfällt zu glauben, dass sie wirklich für einen iranischen Film von 1956 entworfen worden sein soll.

Selbst wenn man sich vorstellt, dass die phantasievollen, weil kostengünstigen Unterweltsvisionen solcher unterschiedlicher Filme wie beispielweise Francesco Bertolinis und Adolfo Padovans L’INFERNO (1911), Guido Brignones MACISTE ALL’INFERNO (1925), Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA (1961) oder José Mojica Marins ESTA NOITE ENCARNAREI NO TEU CADÁVER (1967) miteinander kollidieren und aus ihren einzelnen Versatzstücken sich ein im höchsten Maße idiosynkratisches Gebilde ergibt, das im Kern ausschaut wie Gustave Dorés Illustrationen zu Dantes Göttlicher Komödie durch den Mixer von Pop Art, 60er Underground-Kino und camp-Ästhetik gedreht – und zwar zehn Jahre bevor es überhaupt eine solche Gegenkultur im großen Stil gegeben hat -, kommt man dem, was Khachikian oder Mushegh Sarvari oder wer auch immer für diese Szenen zuständig gewesen ist, lediglich in ersten Ansätzen näher. Am besten wird es vielleicht sein, wenn ich einfach stichwortartig aufzähle, was man in besagten dreißig Minuten unter anderem an Unglaublichkeiten serviert bekommt: Haji Jabar und Ahmad begegnen einem niedergeschlagenen Adam, der sich darüber beklagt, dass seine Eva ihm fortwährend mit ihrem Wunsch nach einem Nylon-BH in den Ohren liege. Ein gefiederter weiblicher Engel verwehrt unseren Helden den Zutritt zum Paradies. Statisten in gehörnten und pfeilgeschwänzten Kostümen, die wohl Teufel sein sollen, kontaktieren einander mittels eines grimmig dreinschauenden Computers bzw. Roboters. Ein Steinzeitvolk ergeht sich zu flotter Jazz-Musik in absonderlichen Tänzen, darunter vor allem eine halbnackte Dame, die zunächst dem Schoß eines Kobolds entsteigt und ihren Körper dann synchron zum schrillen Schreien eines Saxophons zucken lässt. Ein römischer Imperator, inklusive Kurtisanen und Gladiatoren, liegt faul in einer Grotte. Nackte Menschenleiber erdulden schrecklichste Höllenqualen, hängen umgekehrt an Kreuzen oder müssen unter Peitschenhieben Mühlräder drehen. Eine Rock N Roll Party hipper Teens findet inmitten eines Arsenals billigster Riesenspinnen statt, gegen die selbst die in Luigi Batzellas NUDA PER SATANA (1974) wie ein Meisterstück des Spezialeffekthandwerks wirkt. Adolf Hitler, Genghis Khan und Napoleon sitzen um eine Erdkugel herum und berauschen sich an Allmachtsphantasien. Letztlich verschlägt es Haji Jabar und Ahmad, die freilich die ganze Zeit über ihre Blödeleien konsequent weitergeführt haben und durch die Hölle mehr gestolpert und gepurzelt als aufrecht gegangen sind, in einen himmlischen Palast, dessen langbärtiger Herrscher wohl tatsächlich Gott sein soll. Ein Gericht wird einberufen, dessen Urteil zumindest für Haji Jabar wenig erfreulich ausfällt: Zum Geist geworden muss er in einer irdischen Hölle, nämlich einer des Spiels, zusehen wie sein Erbe von seinem missratenen Sohn an der Roulette verprasst wird. Worte hinken, wie man merkt, hinter dem her, was SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM in aller Freimütigkeit und Freizügigkeit abbrennt, sobald die Verantwortlichen den Film sämtlicher Vernunftzügel entledigt haben. Mit seinen an Méliès und den Zauber des frühen Kinos gemahnenden ökonomisch extrem sparsamen und dadurch extrem innovativen Kulissen, mit seinem kruden, nur selten wirklich zusammenpassenden Potpourri aus Ideen aller erdenklichen Genres und Kontexten, mit dem ununterbrochen lächerlichen Gebaren seiner beiden Hauptdarsteller und nicht zuletzt dem meist reichlich deplatzierten Score gelingt es SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM eine Hölle zu präsentieren, die irgendwo zwischen lupenreinem Trash, entzückendster Avantgarde, himmelschreiendstem Unsinn und begnadetester Filmkunst hin und her oszilliert, und alles zugleich und nichts wirklich ist. Ich wiederhole: Adolf Hitler! Rock N Roll! Brodelnde Unterweltgewässer! Haushohe Felsen in Drachengestalt! Flammenzuckende Wüsteneien! Ekstatische Tänzerinnen! Das alles in einem iranischen Film von 1956!

Zum Glück für jeden orthodoxen Gläubigen, der dieses schlicht unbegreiflichen Werks seinerzeit ansichtig wurde, findet der Film zu guter Letzt dann doch noch die Kurve hin zur moralischen Fabel. Nachdem Haji Jabar von Gott höchstpersönlich in einen Hund verwandelt worden ist, schreckt er aus seinen Kissen hoch. Ja, es war alles nur ein Traum, und den nutzt unser orientalischer Ebenezer Scrooge, um sein Leben von Grund auf umzukrempeln. Sein schnöder Mammon ist ihm auf einmal nichts mehr wert, das Wohlergehen seinem Töchterchen ihm auf einmal dringendstes Herzensbedürfnis. Sie darf den Mann, den sie liebe, heiraten, verspricht er ihr, während er den um sie feilschenden Freier in altbekannter Wutanfallmanier aus dem Haus jagt. Danach stirbt Haji Jabar geläutert und mit beiden Beinen auf dem rechten Gottespfad. Die letzte Szene zeigt ihn bestens gelaunt in einem von Putten gezogenen Gefährt über die bedrohliche Unterwelt gen Himmel fahren. Die Moral von der Geschichte: Geiz und Raffgier lasse sein, sonst stürzt Du in die Hölle rein! Ohne Spaß: es muss schon viel passieren, um mich nach einer Filmsichtung stundenlang in einen Zustand der nahezu vollständigen Besinnungslust zu versetzen, doch diesem wahnsinnigen Werk ist das spielerisch gelungen. Wer glaubt, schon alles gesehen zu haben, der dürfte in SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM noch etwas finden können, dessen schiere Verrücktheit für mindestens fünf bis zehn Delirien ausreicht.

Bei den achten Internationalen Filmfestspielen ging Khachikians Film übrigens leer aus. Den Goldenen Bären nahm stattdessen Ingmar Bergman mit nach Hause - für SMULTRONSTÄLLET, dem exakten Gegenteil von SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM.