Re: Die Hölle der lebenden Toten - Bruno Mattei, C. Fragasso
Verfasst: Do 10. Okt 2013, 20:36
Oftmals lässt einen seine Vorführung auf der großen Leinwand ganz unbekannte Details selbst in einem Film entdecken, den man zuvor schon mehrmals gesehen hat. Im Dunkeln des Kinosaals, durch nichts von den Bildern abgelenkt, erfährt man im optimalsten Falle ein quasi-sakrales Erlebnis, im Normfall führt es dazu, dass man selbst in einem Werk wie Matteis VIRUS völlig verkannte Subtexte vorfindet - so geschehen bei mir letztes Wochenende auf dem diesjährigen Forentreffen, weswegen ich, in der Gewissheit, dass mindestens 80% der hier Lesenden bei eben dieser Gelegenheit ebenfalls ihr Gedächtnis bezüglich des Films aufgefrischt haben werden, in Mattei'scher Unordnung die Gedanken zu Papier bringe, die mir am Sonntag darauf durch den Kopf spukten:
1. Erneut stach es mir ins Auge wie ein Bunuel-Rasiermesser, dass Mattei einen Großteil der Tier- und auch einige der eindrucksvollsten Eingeborenenszenen eben nicht aus einem zweit- oder drittklassigen Mondo stibitzte, sondern sie dem spirituellen Meisterwerk LA VALLÉE des französischen Regisseurs Barbet Schroeder extrahierte. Da frage ich mich, wie denn die Auswahl besagter Fauna-und-Flora-Impressionen vonstatten gegangen sein soll. Hat Mattei seiner linken Hand Fragasso den Auftrag erteilt, nach Filmen zu suchen, die in Neuguinea spielen, und ist dadurch eher per Zufall auf LA VALLÉE gestoßen, der dieses Kriterium ja vollends erfüllt? Oder gab es damals in Italien eine Art stock-footage-Sammelstelle, die jegliches Bildmaterial, das den Eindruck erweckte, irgendwann noch einmal von Nutzen sein zu können, zusammentrug, um es späterem Recyclen zur Verfügung zu stellen, und Mattei hat einfach unter der Rubrik "Tiere Neuguineas" die Schroeder-Aufnahmen entdeckt, ohne deren Kontext zu kennen? Oder aber wusste Mattei, was ich weiß, nämlich, dass jene Szenen in CANNIBAL HOLOCAUST, die vorgeben, aus einem früheren Dokumentarstreifen Alan Yates zu stammen - sinnigerweise betitelt mit THE LAST ROAD TO HELL -, ebenfalls ursprünglich in einem Schroeder-Film zu finden sind, um genau zu sein in seiner eindrucksvollen und hier nun jedem Menschen empfohlenen Idi-Amin-Dada-Selbstdarstellungsorgie von 1974, und sein sich-genauso-bei-Schroeder-Bedienen soll eine versteckte Reminiszenz an Deodatos zudem relativ zeitgleich veröffentlichten Snuff-Schocker darstellen?
2. Interessant ist hierbei ja immerhin, dass der französische Fotograf Pierre von Mattei wie ein Alan Yates für Arme charakterisiert wird. Eine Szene sei besonders hervorgehoben, in der unser Heldentrupp von einer wankenden Zombie-Horde zwar nicht attackiert, aber immerhin am Weiterfahren gehindert wird. Statt dass Pierre den Söldnerrufen Folge leistet, die ihn auffordern, sich zu ihnen ins Auto zurückzuziehen, richtete der mit der gleichen Besessenheit, mit der er zuvor erbrochen hat, seine Kamera auf die nahenden Untoten. Wenig später zeigt er dann eine unerwartete Aggresivität, als der Anführer der Soldatenbande sein bisher gedrehtes Filmmaterial aus dem Jeep zu werfen gedenkt. Dass er das nicht zum Spaß tut, sondern weil der zweite Wagen liegengeblieben und es somit völlig logisch und nachvollziehbar ist, ein wenig Platz zu schaffen, um alle unter einem Autodach unterzubringen, zählt für ihn nicht und einzig rohe Gewalt kann ihn vom Gegenteil überzeugen. Dass da ein bisschen der Medienkritik eines CANNIBAL HOLOCAUST zumindest äußerst schüchtern hinvorlinst, wird niemand in Frage stellen.
3. Aber schauen wir uns einmal an, wie Mattei sich in VIRUS generell über "Medien" äußert. Ob es ihre Hilflosigkeit ist, mit Katastrophen umzugehen, wie es in der nicht der auf dem Forentreffen gezeigten entsprechenden Extended-Fassung offenbar wird, als sämtliche Fernsehsender einzig und allein Bilder des Aufbruchs und des Umsturzes produzieren, ohne aber aktiv mildernd in das Chaos eingreifen zu können, oder ob im originalen Epilog das junge Pärchen den im Fernsehapparat einer Eckkneipe auftauchenden Wissenschaftler, der doch recht seriös darüber berichtet, dass er einem lebenden Leichnam begegnete, mehr verlachen oder belächeln als dass sie ihm auch nur einen Hauch von Glauben schenken würden, oder dass - eine der besten Szenen des ganzen Films für mich! - bei der anfänglichen Geiselnahme das sich vor Ort befindliche Fernsehteam live mitfilmt, wie das Söldnereinsatzkommando daran geht, übers Dach in die Botschaft einzusteigen, ohne zu bedenken, dass die Terroristen, sofern sie gerade fernsehen schauen, eben das genauso sehen müssen wie jeder andere Zuschauer, nie stellt Mattei die Medien als eine starkende, wegweisende oder auch nur nützliche Instanz hin: sie können lediglich den Verfall registrieren, ihn nicht verändern, schaden höchstens noch, indem sie unreflektiert Dinge filmen, die besser nicht gefilmt werden sollten, und werden deshalb, folgerichtig, von niemandem mehr richtig ernstgenommen. Das ist das wohl eine ganz andere Medienwelt als die von CANNIBAL HOLOCAUST, in der Lug und Trug in einer Perfkektion herrscht, die über den Film hinaus reicht und ihn selbst mit einschließt.
4. Eine weitere Szene, die mich nach wie vor grenzenlos begeistert, ist die, in der Mattei die junge Heldin splitterfasernackt und mit obskurer Bemalung in einem Eingeborendorf wandeln lässt, das eindeutig eine reine Illusion darstellt, da 70 bis 75 % der in ihm angeblich spielen sollenden Szenen nicht von Mattei selbst inszeniert wurden, sondern Raubgut genannt werden müssen. Ihr Blick, der Blick einer weißen Frau, female gaze könnte man fast sagen, schweift umher, entsetzt, mit weit aufgerissenen Augen - und speichert, und dieses Speichern bebildert Mattei als Kaleidoskop aus Fremdszenen, die eher schlecht als recht in VIRUS eingefügt worden sind. Genauso befremdlich, nahezu surreal, wie bei den Tierszenen, bei denen ja völlig unvermittelt mitten in Dialogen wundersame Geschöpfe wie die Papa-Neuguinea-Wüstenspringmaus oder die Gemeine Suptropische Schleiereule hereinschneien, klaubt Matteis holprige Montage Bilder aus unterschiedlichsten Ressourcen zusammen, was dazu führt, dass bestimmt eine Unzahl verschiedener Stämme Neu-Guineas, Afrikas oder sonst woher zu einem einzigen verschmelzen, der dadurch natürlich so wenig homogen wie möglich wird.
5. Vielleicht möchte Mattei damit aber auch eine Aussage treffen, die weiterführt, was er bisher schon an medienkritischer bzw. selbstreflexiver Überlegungen angestoßen hat. Selbst ein hervorragender Ethnologe bzw. Ethnograph wie Clifford Geertz oder Claude Lévi-Strauss werden nicht verhindern können, dass die Beschäftigung mit einer Kultur, die nicht die unsere ist, uns letztlich viel mehr über uns selbst erfährt als über die beobachteten Anderen. Es ist unmöglich, einen vollkommen objektiven Standpunkt einzunehmen, von dem aus man sich selbst, seine eigene Geschichte, vergisst. Immer spiegelt das Fremde auf einen selbst zurück, wird von uns in Bezug zu unserem eigenen Ich gesetzt, lässt Unterschiede und Gemeinsamkeiten offensichtlich werden - nie aber hat das etwas mit einer über allem stehenden, "göttlichen" Wahrheit zu tun, wie sie in so manchem Dokumentarfilm gerne postuliert wird. Mattei illustriert mit dieser Szene unter Umständen eben genau die Problematik, nicht das zu sehen, was man gerne sehen will, sondern das, was man eben sieht. Der Blick der jungen Frau symbolisiert eine Filmkamera, die zwar vermeintlich objektiv aufzeichnet, die Objektivität ihrer Bilder aber spätestens dann verliert, wenn diese durch Augen in ein menschliches Hirn eintreten, das nicht isoliert und unbelastet einfach nur auffängt.
6. Ebenso herausstechend für mich - und darüber habe ich mich in gewisser Weise am meisten gefreut -, sind die vielen Äffchen, Fledermäuschen, Vögelchen und all die anderen Tierchen, die Mattei wie zur Auflockerung zwischen die unfreiwillig komischen Dialog- und die selbstzweckhaft grausigen Metzelszenen streut. Aber über deren genaue Funktion - d.h. sofern sie überhaupt eine besitzen außer die, Zeit zu schinden und die Laufzeit zu strecken -, bin ich bisher noch im Umklaren. Ich habe Freuds Totemdefnition zu Rate gezogen, mir nochmals am heimischen Laptop genau angeschaut und notiert, wann Mattei welches Tier einwirft, mti dem Hintergedanken, dass er uns damit, in welcher Reihenfolge und zu welchen Gelegenheiten er zu ihnen greift, etwas Bestimmtes sagen möchte - man denke da nur an den Eisenstein'schen Löwen, obwohl der freilich einen Pelz aus Stein hatte, oder Abel Gances im Nachhinein dann doch ein bisschen plumpe Gegenüberstellen von Napoleon Bonaparte und Napoleon, dem Adler -, wirklich schlau geworden bin ich dabei jedoch noch nicht, und im Moment reicht es mir auch, dass mir die Art und Weise, wie hier komplett Unzusammenhängendes auf einmal zusammengebracht wird, immer wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Abschließen möchte ich - ganz im konfusen Stil Matteis - mit einem Zitat vom oben schon erwähnten Begründer des ethnographischen Strukturalismus schließen, das mich genauso stets zum Lächeln bringt und ganz am Ende seiner TRAURIGEN TROPFEN steht:
"Wenn der Regenbogen der menschlichen Kulturen endlich im Abgrund unserer Wut versunken sein wird, dann wird – solange wir bestehen und solange es eine Welt gibt – jener feine Bogen bleiben, der uns mit dem Unzugänglichen verbindet, und uns den Weg zeigen, der aus der Sklaverei herausführt und dessen Betrachtung dem Menschen, auch wenn er ihn nicht einschlägt, die einzige Gnade verschafft, der er würdig zu werden vermag: nämlich den Marsch zu unterbrechen, den Impuls zu zügeln, der ihn dazu drängt, die klaffenden Risse in der Mauer der Notwendigkeit einen nach dem anderen zuzustopfen und damit sein Werk in demselben Augenblick zu vollenden, da er sein Gefängnis zuschließt; jene Gnade, nach der jede Gesellschaft begehrt, wie immer ihre religiösen Vorstellungen, ihr politisches System und ihr kulturelles Niveau beschaffen sein mögen; jene Gnade, in die sie ihre Muße, ihr Vergnügen, ihre Ruhe und ihre Freiheit setzt; jene lebenswichtige Chance, sich zu entspannen, loszulösen, das heißt die Chance, die darin besteht – lebt wohl, Wilde! lebt wohl, Reisen! –, in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Gattung erträgt, ihr bienenfleißiges Treiben zu unterbrechen, das Wesen dessen zu erfassen, was sie war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, der weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen –, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze."
Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Berlin 1981, Seite 412.
1. Erneut stach es mir ins Auge wie ein Bunuel-Rasiermesser, dass Mattei einen Großteil der Tier- und auch einige der eindrucksvollsten Eingeborenenszenen eben nicht aus einem zweit- oder drittklassigen Mondo stibitzte, sondern sie dem spirituellen Meisterwerk LA VALLÉE des französischen Regisseurs Barbet Schroeder extrahierte. Da frage ich mich, wie denn die Auswahl besagter Fauna-und-Flora-Impressionen vonstatten gegangen sein soll. Hat Mattei seiner linken Hand Fragasso den Auftrag erteilt, nach Filmen zu suchen, die in Neuguinea spielen, und ist dadurch eher per Zufall auf LA VALLÉE gestoßen, der dieses Kriterium ja vollends erfüllt? Oder gab es damals in Italien eine Art stock-footage-Sammelstelle, die jegliches Bildmaterial, das den Eindruck erweckte, irgendwann noch einmal von Nutzen sein zu können, zusammentrug, um es späterem Recyclen zur Verfügung zu stellen, und Mattei hat einfach unter der Rubrik "Tiere Neuguineas" die Schroeder-Aufnahmen entdeckt, ohne deren Kontext zu kennen? Oder aber wusste Mattei, was ich weiß, nämlich, dass jene Szenen in CANNIBAL HOLOCAUST, die vorgeben, aus einem früheren Dokumentarstreifen Alan Yates zu stammen - sinnigerweise betitelt mit THE LAST ROAD TO HELL -, ebenfalls ursprünglich in einem Schroeder-Film zu finden sind, um genau zu sein in seiner eindrucksvollen und hier nun jedem Menschen empfohlenen Idi-Amin-Dada-Selbstdarstellungsorgie von 1974, und sein sich-genauso-bei-Schroeder-Bedienen soll eine versteckte Reminiszenz an Deodatos zudem relativ zeitgleich veröffentlichten Snuff-Schocker darstellen?
2. Interessant ist hierbei ja immerhin, dass der französische Fotograf Pierre von Mattei wie ein Alan Yates für Arme charakterisiert wird. Eine Szene sei besonders hervorgehoben, in der unser Heldentrupp von einer wankenden Zombie-Horde zwar nicht attackiert, aber immerhin am Weiterfahren gehindert wird. Statt dass Pierre den Söldnerrufen Folge leistet, die ihn auffordern, sich zu ihnen ins Auto zurückzuziehen, richtete der mit der gleichen Besessenheit, mit der er zuvor erbrochen hat, seine Kamera auf die nahenden Untoten. Wenig später zeigt er dann eine unerwartete Aggresivität, als der Anführer der Soldatenbande sein bisher gedrehtes Filmmaterial aus dem Jeep zu werfen gedenkt. Dass er das nicht zum Spaß tut, sondern weil der zweite Wagen liegengeblieben und es somit völlig logisch und nachvollziehbar ist, ein wenig Platz zu schaffen, um alle unter einem Autodach unterzubringen, zählt für ihn nicht und einzig rohe Gewalt kann ihn vom Gegenteil überzeugen. Dass da ein bisschen der Medienkritik eines CANNIBAL HOLOCAUST zumindest äußerst schüchtern hinvorlinst, wird niemand in Frage stellen.
3. Aber schauen wir uns einmal an, wie Mattei sich in VIRUS generell über "Medien" äußert. Ob es ihre Hilflosigkeit ist, mit Katastrophen umzugehen, wie es in der nicht der auf dem Forentreffen gezeigten entsprechenden Extended-Fassung offenbar wird, als sämtliche Fernsehsender einzig und allein Bilder des Aufbruchs und des Umsturzes produzieren, ohne aber aktiv mildernd in das Chaos eingreifen zu können, oder ob im originalen Epilog das junge Pärchen den im Fernsehapparat einer Eckkneipe auftauchenden Wissenschaftler, der doch recht seriös darüber berichtet, dass er einem lebenden Leichnam begegnete, mehr verlachen oder belächeln als dass sie ihm auch nur einen Hauch von Glauben schenken würden, oder dass - eine der besten Szenen des ganzen Films für mich! - bei der anfänglichen Geiselnahme das sich vor Ort befindliche Fernsehteam live mitfilmt, wie das Söldnereinsatzkommando daran geht, übers Dach in die Botschaft einzusteigen, ohne zu bedenken, dass die Terroristen, sofern sie gerade fernsehen schauen, eben das genauso sehen müssen wie jeder andere Zuschauer, nie stellt Mattei die Medien als eine starkende, wegweisende oder auch nur nützliche Instanz hin: sie können lediglich den Verfall registrieren, ihn nicht verändern, schaden höchstens noch, indem sie unreflektiert Dinge filmen, die besser nicht gefilmt werden sollten, und werden deshalb, folgerichtig, von niemandem mehr richtig ernstgenommen. Das ist das wohl eine ganz andere Medienwelt als die von CANNIBAL HOLOCAUST, in der Lug und Trug in einer Perfkektion herrscht, die über den Film hinaus reicht und ihn selbst mit einschließt.
4. Eine weitere Szene, die mich nach wie vor grenzenlos begeistert, ist die, in der Mattei die junge Heldin splitterfasernackt und mit obskurer Bemalung in einem Eingeborendorf wandeln lässt, das eindeutig eine reine Illusion darstellt, da 70 bis 75 % der in ihm angeblich spielen sollenden Szenen nicht von Mattei selbst inszeniert wurden, sondern Raubgut genannt werden müssen. Ihr Blick, der Blick einer weißen Frau, female gaze könnte man fast sagen, schweift umher, entsetzt, mit weit aufgerissenen Augen - und speichert, und dieses Speichern bebildert Mattei als Kaleidoskop aus Fremdszenen, die eher schlecht als recht in VIRUS eingefügt worden sind. Genauso befremdlich, nahezu surreal, wie bei den Tierszenen, bei denen ja völlig unvermittelt mitten in Dialogen wundersame Geschöpfe wie die Papa-Neuguinea-Wüstenspringmaus oder die Gemeine Suptropische Schleiereule hereinschneien, klaubt Matteis holprige Montage Bilder aus unterschiedlichsten Ressourcen zusammen, was dazu führt, dass bestimmt eine Unzahl verschiedener Stämme Neu-Guineas, Afrikas oder sonst woher zu einem einzigen verschmelzen, der dadurch natürlich so wenig homogen wie möglich wird.
5. Vielleicht möchte Mattei damit aber auch eine Aussage treffen, die weiterführt, was er bisher schon an medienkritischer bzw. selbstreflexiver Überlegungen angestoßen hat. Selbst ein hervorragender Ethnologe bzw. Ethnograph wie Clifford Geertz oder Claude Lévi-Strauss werden nicht verhindern können, dass die Beschäftigung mit einer Kultur, die nicht die unsere ist, uns letztlich viel mehr über uns selbst erfährt als über die beobachteten Anderen. Es ist unmöglich, einen vollkommen objektiven Standpunkt einzunehmen, von dem aus man sich selbst, seine eigene Geschichte, vergisst. Immer spiegelt das Fremde auf einen selbst zurück, wird von uns in Bezug zu unserem eigenen Ich gesetzt, lässt Unterschiede und Gemeinsamkeiten offensichtlich werden - nie aber hat das etwas mit einer über allem stehenden, "göttlichen" Wahrheit zu tun, wie sie in so manchem Dokumentarfilm gerne postuliert wird. Mattei illustriert mit dieser Szene unter Umständen eben genau die Problematik, nicht das zu sehen, was man gerne sehen will, sondern das, was man eben sieht. Der Blick der jungen Frau symbolisiert eine Filmkamera, die zwar vermeintlich objektiv aufzeichnet, die Objektivität ihrer Bilder aber spätestens dann verliert, wenn diese durch Augen in ein menschliches Hirn eintreten, das nicht isoliert und unbelastet einfach nur auffängt.
6. Ebenso herausstechend für mich - und darüber habe ich mich in gewisser Weise am meisten gefreut -, sind die vielen Äffchen, Fledermäuschen, Vögelchen und all die anderen Tierchen, die Mattei wie zur Auflockerung zwischen die unfreiwillig komischen Dialog- und die selbstzweckhaft grausigen Metzelszenen streut. Aber über deren genaue Funktion - d.h. sofern sie überhaupt eine besitzen außer die, Zeit zu schinden und die Laufzeit zu strecken -, bin ich bisher noch im Umklaren. Ich habe Freuds Totemdefnition zu Rate gezogen, mir nochmals am heimischen Laptop genau angeschaut und notiert, wann Mattei welches Tier einwirft, mti dem Hintergedanken, dass er uns damit, in welcher Reihenfolge und zu welchen Gelegenheiten er zu ihnen greift, etwas Bestimmtes sagen möchte - man denke da nur an den Eisenstein'schen Löwen, obwohl der freilich einen Pelz aus Stein hatte, oder Abel Gances im Nachhinein dann doch ein bisschen plumpe Gegenüberstellen von Napoleon Bonaparte und Napoleon, dem Adler -, wirklich schlau geworden bin ich dabei jedoch noch nicht, und im Moment reicht es mir auch, dass mir die Art und Weise, wie hier komplett Unzusammenhängendes auf einmal zusammengebracht wird, immer wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Abschließen möchte ich - ganz im konfusen Stil Matteis - mit einem Zitat vom oben schon erwähnten Begründer des ethnographischen Strukturalismus schließen, das mich genauso stets zum Lächeln bringt und ganz am Ende seiner TRAURIGEN TROPFEN steht:
"Wenn der Regenbogen der menschlichen Kulturen endlich im Abgrund unserer Wut versunken sein wird, dann wird – solange wir bestehen und solange es eine Welt gibt – jener feine Bogen bleiben, der uns mit dem Unzugänglichen verbindet, und uns den Weg zeigen, der aus der Sklaverei herausführt und dessen Betrachtung dem Menschen, auch wenn er ihn nicht einschlägt, die einzige Gnade verschafft, der er würdig zu werden vermag: nämlich den Marsch zu unterbrechen, den Impuls zu zügeln, der ihn dazu drängt, die klaffenden Risse in der Mauer der Notwendigkeit einen nach dem anderen zuzustopfen und damit sein Werk in demselben Augenblick zu vollenden, da er sein Gefängnis zuschließt; jene Gnade, nach der jede Gesellschaft begehrt, wie immer ihre religiösen Vorstellungen, ihr politisches System und ihr kulturelles Niveau beschaffen sein mögen; jene Gnade, in die sie ihre Muße, ihr Vergnügen, ihre Ruhe und ihre Freiheit setzt; jene lebenswichtige Chance, sich zu entspannen, loszulösen, das heißt die Chance, die darin besteht – lebt wohl, Wilde! lebt wohl, Reisen! –, in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Gattung erträgt, ihr bienenfleißiges Treiben zu unterbrechen, das Wesen dessen zu erfassen, was sie war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, der weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen –, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze."
Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Berlin 1981, Seite 412.