Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Alles, was nichts oder nur am Rande mit Film zu tun hat

Moderator: jogiwan

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buxtebrawler
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

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Frank Schäfer – Generation Rock

„Eine Anagnorisis sophoklischer Kajüte“

Der Schäfer mal wieder! An den Texten des Dr. phil. und ehemaligen SALEM’S-LAW-Gitarristen aus der niedersächsischen Provinz habe ich ja längst einen Narren gefressen. 2008 war er zurück im Oktober-Verlag, der seine damals neueste Anekdoten-, Essay-, Glossen- und Rezensionssammlung „Generation Rock“ auf rund 130 Seiten im gebundenen 7“-Format, also der Größe einer Vinyl-Single nachempfundene, veröffentlichte und sogar noch eine CD mit bisher unveröffentlichten Aufnahmen seiner o.g. Band beilegte. Die Texte waren zuvor bereits in diversen Periodika erschienen.

Der Titel ist dabei sicherlich irreführend, denn Schäfer maßt sich nicht an, als Entdecker oder Sprachrohr einer wie auch immer gearteten Generation zu fungieren. Stattdessen bleibt er nah an seinen eigenen Erfahrungen, seinem eigenen Leben bzw. eigenen Beobachtungen. Längst nicht immer geht es dabei tatsächlich um Musik, manchmal geht er auch einfach einen Computer kaufen, liegt krank im Bett und leidet bitterlich oder lässt sich von seinem bauernschlauen Kumpel Pünschel vollquatschen. Die 33 Kapitel sind von unterschiedlicher Länge – mitunter gar in Gedichtform –, schaffen den Spagat von Schäfers Jugenderinnerungen zur Gegenwart und sind, nun ja, zweigeteilt: Nicht vom Inhaltsverzeichnis erfasst, spielen sich auf den breiten Seitenrändern losgelöst von den Primärtexten zahlreiche Platten- und Buchrezensionen ab, als handele es sich um Marginalien. Dadurch sind viele Buchseiten im wahrsten Sinne randvoll, wenn der Rand leer blieb jedoch auch den Eindruck von Platzverschwendung vermittelnd. Dem Lesevergnügen tut dies indes keinen Abbruch; seit Schäfer seinen enormen Wortschatz zu bändigen versteht und ihn zielführend einsetzt, statt ihn demonstrativ zur Schau zu stellen, findet er für jedes Phänomen, für jedes Gefühl und jedes beschriebene Ereignis die richtigen Worte, die seine Texte so präzise nachempfindbar machen.

Dies geht dann durchaus auch an die Nieren, wenn die Geschichte seines ROLLING-STONES-begeisterten Malocheronkels einen furchtbar tragischen Verlauf nimmt oder er einen Nachruf auf seinen Freund und Autorenkollegen Michael Rudolf verfasst, vielmehr verfassen muss. Alles andere ist jedoch glücklicherweise weit weniger schwere Kosten (was wohlgemerkt nicht heißen soll, dass sie dadurch unbedeutsam sei). Mit seiner Verehrung des „Fargo Rock City“-Autors Chuck Klostermans und dessen Versuchen der posthumen Legitimierung des Poser/Hair/Glam-Metals übertreibt es Schäfer etwas und dass ich, wie leider üblich, mind. drei Kapitel bereits aus anderen seiner Sammelbände kannte, finde ich auch hier ärgerlich. Auch erschließt sich mir nicht, weshalb man im Jahre 2008 noch in alter deutscher Rechtschreibung verharren und sinnvolle Änderungen wie die ß-Regeln ignorieren muss. Dafür stimmt mich Schäfer aber heiter, nachdenklich, traurig und all das wieder von vorn, verleitet mich dazu, mir das eine oder andere Album (sowie manch MOTÖRHEAD-Song genauer) anzuhören und bereitet mir viel Hörgenuss mit der beiliegenden CD, die ist nämlich echt geil. Schade nur, dass im gesamten Buch mit keiner Silbe auf diese Beilage eingegangen wird – Hintergrundinfos, Liner Notes o.ä.? Fehlanzeige! Angeblich soll es sich aber um Aufnahmen für den nie realisierten Nachfolger des einzigen Albums seiner Band gehandelt haben.

Auch dieser Schäfer war unterm Strich eine wunderbare Urlaubslektüre, die mit ihrer CD und ihren Musikempfehlungen lange nachwirkt. Dass der Hamburger Kiezclub „Molotow“ und nicht etwa „Molotov“ heißt, kann im Eifer des Schreibgefechts übrigens passieren (S. 23); dass ein „Rückgrat“ nichts mit einem Rad zu tun hat, sollte beim Lektorat jedoch auffallen (S. 61). Die „IG Metal“ (S. 85) wiederum hielt man sicherlich für ein Wortspiel. Ich wünsche Schäfer und seinem Verlag zahlreiche Neuauflagen dieses Buchs, bei deren Gelegenheiten man derlei Korrekturen vornehmen könnte.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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sergio petroni
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

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Zwei Bücher, ein Thema: Die Präsidentschaft Trumps

Der Journalist Michael Wolff hatte im Wahlkampf und das erste halbe Jahr der Präsidentschaft
Trumps fast ungehinderten Zugang zu allen Akteuren in Trumps Umgebung. Keiner traute
ihm wohl zu, Recherchen und Aufzeichnungen für eine äußerst kritischen Gonzo-Reportage
zu machen. So kommt es, daß Wolff viele ungeheuerliche Interna präsentiert, von dilettantischem
Wahlkampf hin zu ebensolcher Regierungsarbeit, von Grabenkämpfen innerhalb Trumps
Familie/Vertrauten. Von einem Präsidenten selbst, der offenbar komplett beratungsresistent
aber völlig von sich überzeugt ist. Eine mehr als gefährliche Kombination.
Wolff läßt seinen ganz eigenen Humor einfließen und hält so die einzelnen Epsioden zusammen
bzw. lesenswert. Man wirft Wolff vor, seine Quellen teilweise nicht zu nennen und auch keine
Nachweise/Aufzeichnungen von seinen Schilderungen zu haben. Allerdings bietet Wolff so viele
Details auf, die sich nun im Nachhinein als wahr herausstellten (z.B. das Auffliegen der
Rußland-Connection und das desaströse Krisenmanagement des Trump-Clans damit),
daß Wolffs Buch wohl in größten Teilen als bare Münze zu nehmen ist.

Der Ex-FBI-Direktor James Comey verfolgt einen anderen Ansatz. Drei Viertel seines
Buches dienen dazu, seinen Werdegang zu schildern. Jurastudium, Anwaltsbüro,
Staatsanwalt, Stellvertretender Justizminister unter George Bush jr. und später
dann von Obama ernannter FBI-Direktor. Der 2,10-Meter-Riese Comey versucht
ein schonungslos offenes Selbstportrait zu liefern, um sein Handeln und seine
Motivation zu erklären. Interessant waren defintiv die Passagen über die Amtsführung
nach 9/11, als die US-Führung rabiater mit Terrorismusverdächtigen umgehen wollte
und die dabei ausgefochtenen Grabenkämpfe mit dem Justizminister.
Auch sehr interessant die persönlichen Begegnungen Comeys, eines Republikaners,
mit den drei Präsidenten Bush, Obama und Trump.
Ausführlich geht Comey auch auf die FBI-Ermittlungen gegen Hilary Clinton wegen
der E-Mail-Affaire kurz vor der Präsidentschaftswahl 2016 ein.
Erst im letzten Viertel schildert Comey seine Begegnungen mit Trump,
sein Unwohlsein bezüglich der Integrität des neuen Präsidenten, sein Entschluß,
Memos über seine Gespräche mit Trump zu verfassen. Und er zieht einen Bogen zum
Beginn seiner Karriere als Staatsanwalt, als er lange Jahre gegen die New Yorker
Mafia ermittelte, und dabei die großen Bosse persönlich kennenlernte.
Und dem Habitus des neuen Präsidenten, der mit jenem der Mafiosi
sehr wohl vergleichbar sei.

Beide Bücher fand ich lesenswert. Das von Comey fesselnder, weil hier Insiderwissen
aus der obersten Führungsetage ausgebreitet wird, und das durchaus spannend.
Natürlich wird, wer zu einem der beiden Bücher greift, bereits eine vorgefaßte
Meinung zu Uns Donald haben. Die bekommt er dann auch genüßlich bestätigt.
DrDjangoMD hat geschrieben:„Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, doch ach – es wankt der Grund auf dem wir bauten.“
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karlAbundzu
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von karlAbundzu »

FRANZOBEL: DAS FLOSS DER MEDUSA
Roman nach dem berühmten Gemälde, nach dem Schiffsuntergang aufgrund von Überschätzung und Unkenntnis und dem Überleben der Schiffbrüchigen.
Ein eindringlicher Erzähler, der das Geschehen allwissend, aber aus heutiger Sicht erzählt.
Das macht Franzobel sehr gut, es gibt immer wieder Vergleiche aus der Jetztzeit, die Sichtweise wechselt von verschiedenen Charakteren. Und es ist wirklich eeklig und fies.
Empfehlung.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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sergio petroni
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von sergio petroni »

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Bin gerade mittendrin in Keßlers "Endstation Gänsehaut", vergnüglich und kurzweilig zu lesen,
viel Altbekanntes wird liebevoll gewürdigt. Aber auch manch Unbekanntes, das dafür
prädestiniert ist, auf die Jagdliste gesetzt zu werden. Macht Spaß.
DrDjangoMD hat geschrieben:„Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, doch ach – es wankt der Grund auf dem wir bauten.“
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buxtebrawler
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von buxtebrawler »

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Ronald M. Schernikau – Dann hätten wir noch eine Chance. Briefwechsel mit Peter Hacks; Texte aus dem Nachlaß

„Als im Sommer 1989 Brüder und Schwestern die DDR verließen, kam ihnen einer entgegen. Der Dichter Ronald M. Schernikau emigrierte aus Westberlin und wurde DDR-Bürger“, heißt im Paratext zu diesem rund 120-seitigen broschierten Band, der 1992 als die Nummer 1 der „konkret texte“-Reihe im Hamburger Konkret-Verlag veröffentlicht wurde.

Ronald M. Schernikau war ein deutscher, offen homosexuell lebender Schriftsteller und Kommunist, der sechs Jahre nach seiner Geburt mit seiner Mutter aus der DDR nach Niedersachsen übergesiedelt war – und einer der wenigen Menschen, die freiwillig in sie zurückkehrten. Zuvor war er bereits sechszehnjährig der DKP beigetreten, hatte 1980 sein Buch „Kleinstadtnovelle“ über ein schwules Coming-out in einer Kleinstadt veröffentlicht, war nach West-Berlin umgezogen und dem dortigen SED-Ableger, der SEW, beigetreten und hatte durchgesetzt, als West-Berliner am Leipziger Institut für Literatur studieren zu dürfen – eine Zeit, in der sein Buch „Die Tage in L.“ entstand. 1988 trat er sogar – immer noch als Westdeutscher, wohlgemerkt – der SED bei, wofür er eine Bürgschaft benötigt hatte. Diese hatte er von Peter Hacks bekommen, einer weiteren nicht ganz gewöhnlichen Personalie: DDR-Bürger Hacks war Begründer der sozialistischen Klassik und ein auch in der BRD geachteter Dramatiker und Schriftsteller, zudem ein Anhänger Walter Ulbrichts und Gegner der von vielen als reformistisch und offener empfundenen Politik Erich Honeckers – und Befürworter der Aussiedlung Wolf Biermanns. Mit eben jenem Hacks führte Schernikau einen Briefwechsel, der im Prinzip 1984 begann und sich Ende der 1980er intensivierte, als Schernikau mit Hacks u.a. diskutierte, ob er in die DDR übersiedeln solle. Er zieht sich bis kurz vor Schernikaus Tod im Jahre 1991.

Nach einem elfseitigen Nachruf Rainer Bohns auf Schernikau folgt der rund 30-seitige Briefwechsel, bestehend aus kurzen wie längeren Schreiben und erweitert um erläuternde Fußnoten. Diese privaten Briefe ehemaliger Zeitgenossen zu lesen hat natürlich etwas Voyeuristisches. Schernikaus Biographie hatte mich neugierig gemacht, wobei das so nicht ganz stimmt: Mein Interesse hatte der Umstand geweckt, dass überhaupt jemand Ende der 1980er freiwillig in die DDR emigrierte. Im Zuge der Lektüre dieses Buchs und weiterer Recherche ergab sich ein etwaiges Bild, wer Schernikau war. Die Briefe liefern fragmentarische Gedanken zur Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven, einer Zeit gesellschaftlichen Umbruchs, auf den jedoch kaum eingegangen wird, und einen Eindruck vom Selbstverständnis beider Männer, die betont höflich und ehrfurchtsvoll miteinander umgehen. Mitunter erscheint Schernikau beinahe etwas unterwürfig, aber auch fordernd. Manchmal wird es etwas schwülstig („Ausgezeichneter Schernikau, ...“), dann wieder humorvoll. Und wer glaubt, das Austauschen unbestimmter Artikel gegen die Ziffer „1“ gehe auf den Rapper „Money Boy“ zurück, sieht sich hier eines Besseren belehrt: Zeitweise schreiben Schernikau und Hacks (!) bereits genauso. Schernikaus Krankheit hingegen wird nie thematisiert.

Den Löwenanteil des Buchs allerdings macht dann ganz etwas anderes aus: Ein 72-seitiger Auszug aus Teil VI des posthum veröffentlichten Schernikau-Romans „Legende“, an dem er acht Jahre lang gearbeitet hatte. Weshalb einen Auszug aus der Mitte eines Romans, welchen Sinn soll das ergeben? Nun, „Legende“ verfügt zwar über wiederkehrende Figuren, ein roter Faden lässt sich jedoch nur schwer ausmachen. Vielmehr mutet es wie eine lose Gedankensammlung an, streng durchnummeriert und doch höchst frei und spontan. Großbuchstaben existieren für Schernikau nicht, Regeln der Interpunktion werden ignoriert. Schernikau lässt seinem Humor freien Lauf, vergleicht Politik mit Kunst und stellt krude Thesen auf, meist so, als habe er seine Gedankenblitze und Handlungsfragmente chronologisch niedergeschrieben. „Legende“ scheint in einer abstrahierten Realität angesiedelt zu sein, in der die Widersprüchlichkeit, die auch Schernikau verkörperte, allgegenwärtige Normalität ist. Einmal an den Stil gewöhnt, liest sich dieser Passus gut und schnell. Inwieweit man mit ihm wirklich etwas anzufangen weiß, im Jahre 2019 und nur grob eingeordnet, gerade erst mit Schernikau in Briefform Bekanntschaft gemacht habend, sei indes dahingestellt.

Wie sich Schernikau als scharfer Beobachter einer- und kindlich begeisterungsfähiger, naiv anmutender Grenzgänger andererseits in Dualismus und Dialektik beider deutscher Staaten stürzte und sich letztlich für die DDR entschied, wirkt inspirierend und motiviert, auch ungewöhnlich Wege zu gehen, wenn das Ziel die Selbstverwirklichung ist. Es macht Lust auf „Die Tage in L.“ und mit zwei Menschen bekannt, die politische Positionen vertreten, die es heute gar nicht mehr zu geben scheint. Wer wissen möchte, weshalb ein „bunter Vogel“ wie Schernikau nun wirklich in die DDR ging, wird seine Fragen hier möglicherweise nicht befriedigend beantwortet bekommen und an anderer Stelle weiterlesen müssen.

Ronald M. Schernikau starb 1991 an Aids. Ein trauriges Zeitdokument ist dann auch die letzte Buchseite, auf der um zahlreiche Denker, Künstler und Autoren getrauert wird, die homosexuell waren und an den Folgen der Immunschwächekrankheit starben. Wer weiß, was ein Nonkonformist wie Schernikau uns heute zu sagen hätte?
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von buxtebrawler »

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Mad-Taschenbuch Nr. 19: Mads großes Müll-Buch

Die in der Regel rund 160 Schwarzweiß-Seiten umfassenden Taschenbuch-Ableger des Mad-Satiremagazins widmeten sich meist lediglich einem einzelnen Zeichner, bisweilen einem eingeschworenen Zeichner/Texter-Team oder zumindest einem bestimmten Thema/Aufhänger, interpretiert von wenigen verschiedenen Zeichnern/Autoren. Dieses Konzept wurde im 1978 veröffentlichten Taschenbuch Nr. 19 aufgegeben: Selbstironisch als „eine Sammlung neuester Abfälle“ bezeichnet, vereint es fast alle damaligen Mad-Zeichner, elf an der Zahl, plus Nick Meglin als Texter und Frank Jacobs als Verfasser des (köstlichen) Vorworts. Ergo verfolgt dieses Buch dann auch keinen roten Faden, sondern bietet ein Sammelsurium aus verschiedensten kurzen Comics und satirischen, textlastigen Beiträgen. So treffen Aragones’ dialogfreie Bildwitze auf eine „Superman“-Persiflage Mort Druckers, eine Sportjournalismus-Parodie Jack Davis’ auf eine in Reimversen getextete, durchaus hintersinnige Verulkung computergestützter Partnersuche Al Jaffees, Don Martins Gag-Comics auf gesellschaftskritische Bildergeschichten Antonio Prohias’ und Jack Richards’ „Peanuts“-Hommage, in der sich Charlie Brown mit Richard Nixon unterhält, auf Dave Bergs diesmal jeweils nur einseitige „kleine Mad-Reports“. Die textlastigsten Beiträge gehen aufs Konto Bob Clarkes, der sich streng astrologisch jedes einzelne Sternzeichen vorknöpft und übers Buch verteilt Horoskope formuliert, die die jedem Sternzeichen zugesprochenen Eigenschaften durch den Kakao ziehen. Paul Coker veralbert verschiedene Berufe und erweitert klassische Gemälde um seine Kritzeleien, um sie in einem ganz neuen Kontext erscheinen zu lassen. Interessanterweise lagen damals offenbar Enthüllungsbücher aus dem Profisport im Trend, was George Woodbridge in Form von Werbeanzeigen für fiktive Bücher wie „Die Kegelflegel“ oder „Die Wahrheit über Kricket“ persifliert, während er mittels seines Lebensratgebers „Schlemm dich unfit!“ einen Kontrapunkt zum „Trimm dich“-Fitness- und Gesundheitswahn setzt. Damit bietet das 19. Mad-Taschenbuch ungewohnt abwechslungsreiches und langes Schmökervergnügen – sowie einen schönen Überblick über die verschiedenen damaligen Zeichner und ihre jeweiligen Eigenarten. Wie üblich sitzt nicht jeder Gag, die Ausrichtung aber stimmt und die Ziele der satirischen Spitzen sind meist sorgfältig ausgewählt.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Salvatore Baccaro
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Über einhundertundzehn Jahre nach seinem Ersterscheinen wird nun endlich auch das letzte Werk des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans - "Les Foules de Lourdes" von 1906 - im Lilienfeld Verlag auf Deutsch publiziert. "Lourdes: Mystik und Massen", wie der Übersetzer das Ergebnis getauft hat, ist eins der eindrucksvollsten literarischen Glaubensbekenntnisse, die ich jemals gelesen habe. Huysmans, von späteren Kollegen wie beispielweise Oscar Wilde, André Breton oder Michel Houellebecq (und von mir) in den Pantheon der größten Dichter gehoben, hat im Umfeld von Emile Zola mit naturalistischen Erzählungen begonnen, die zwar immer stark autobiographisch geprägt sind, dabei aber, Zolas Programm des "Schriftsteller als Experimenteurs" verbunden, gründlich bislang innerhalb der Literaturgeschichte eher verschriene Milieus wie den Rotlichtbezirk oder die Schnapsbude studieren. Während Huysmans seine Tage mit einem langweiligen Job in einer Pariser Behörde herumbringt, verkehrt er abends und nachts mit der Créme de la créme der künstlerischen Avantgarde Mitte des 19. Jahrhunderts, wendet sich bald von Zolas rigiden Doktrinen ab, und verfasst mit "À Rebours" die Bibel des Symbolismus bzw. der Dekadenzliteratur. Damit ist die wundersame Bahn, auf der Huysmans nach Lebenssinn sucht, noch nicht vollendet: Er beginnt, sich mit Okkultismus, Satanismus zu beschäftigen, findet letztlich aber als Laienbruder einer Benediktinerabtei zum christlich-katholischen Gott. Selbst im Glauben legt er seine naturalistischen Sensibilitäten nicht ab - wofür sein Bericht einer Reise zum Wallfahrtsort Lourdes in den Pyrenäen beredtes Zeugnis ablegt: Beinahe wissenschaftlich seziert er dort die eigene Religiösität, unterstellt der Jungfrau Maria bei ihren Erscheinungen nahezu mathematische Präzision und Logik, spart nicht mit Polemik seinem alten Mentor Zola gegenüber, und schon gar nicht mit Spott, den er literweise über den Heilstourismus auskippt, wie er in Lourdes zelebrieren wird. Nur ein Jahr später stirbt Huysmans einen qualvollen Krebstod. Sein Oeuvre steht für mich, gerade weil man darin seinen Werdegang vom jungen Wilden zum frommen Einsiedler so bestechend nachverfolgen kann, singulär nicht nur in der französischen Literaturgeschichte.
https://lilienfeld-verlag.de/produkt/joris-karl-huysmans-lourdes/
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Canisius
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von Canisius »

Salvatore Baccaro hat geschrieben:
Über einhundertundzehn Jahre nach seinem Ersterscheinen wird nun endlich auch das letzte Werk des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans - "Les Foules de Lourdes" von 1906 - im Lilienfeld Verlag auf Deutsch publiziert. "Lourdes: Mystik und Massen", wie der Übersetzer das Ergebnis getauft hat, ist eins der eindrucksvollsten literarischen Glaubensbekenntnisse, die ich jemals gelesen habe. Huysmans, von späteren Kollegen wie beispielweise Oscar Wilde, André Breton oder Michel Houellebecq (und von mir) in den Pantheon der größten Dichter gehoben, hat im Umfeld von Emile Zola mit naturalistischen Erzählungen begonnen, die zwar immer stark autobiographisch geprägt sind, dabei aber, Zolas Programm des "Schriftsteller als Experimenteurs" verbunden, gründlich bislang innerhalb der Literaturgeschichte eher verschriene Milieus wie den Rotlichtbezirk oder die Schnapsbude studieren. Während Huysmans seine Tage mit einem langweiligen Job in einer Pariser Behörde herumbringt, verkehrt er abends und nachts mit der Créme de la créme der künstlerischen Avantgarde Mitte des 19. Jahrhunderts, wendet sich bald von Zolas rigiden Doktrinen ab, und verfasst mit "À Rebours" die Bibel des Symbolismus bzw. der Dekadenzliteratur. Damit ist die wundersame Bahn, auf der Huysmans nach Lebenssinn sucht, noch nicht vollendet: Er beginnt, sich mit Okkultismus, Satanismus zu beschäftigen, findet letztlich aber als Laienbruder einer Benediktinerabtei zum christlich-katholischen Gott. Selbst im Glauben legt er seine naturalistischen Sensibilitäten nicht ab - wofür sein Bericht einer Reise zum Wallfahrtsort Lourdes in den Pyrenäen beredtes Zeugnis ablegt: Beinahe wissenschaftlich seziert er dort die eigene Religiösität, unterstellt der Jungfrau Maria bei ihren Erscheinungen nahezu mathematische Präzision und Logik, spart nicht mit Polemik seinem alten Mentor Zola gegenüber, und schon gar nicht mit Spott, den er literweise über den Heilstourismus auskippt, wie er in Lourdes zelebrieren wird. Nur ein Jahr später stirbt Huysmans einen qualvollen Krebstod. Sein Oeuvre steht für mich, gerade weil man darin seinen Werdegang vom jungen Wilden zum frommen Einsiedler so bestechend nachverfolgen kann, singulär nicht nur in der französischen Literaturgeschichte.
https://lilienfeld-verlag.de/produkt/joris-karl-huysmans-lourdes/
"Gegen den Strich" liegt seit Jahren bei mir rum. Habe bisher 2 Anläufe genommen und 2 Mal abbrechen müssen, da ich keinen Zugang finden konnte. Schade! Kommt ggf. noch. :|
Was die Lobpreisungen von Huysmans angeht, so möchte ich Deiner Liste den genialen (! :nick: ) Comiczeichner Ivan Brunetti (Schizo) hinzufügen. Ebenfalls großer Fan, und er hat das teilweise auch thematisch aufgegriffen.
„Ist es denn schade um diesen Strohhalm, Du Hampelmann?“
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Salvatore Baccaro
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Canisius hat geschrieben:"Gegen den Strich" liegt seit Jahren bei mir rum. Habe bisher 2 Anläufe genommen und 2 Mal abbrechen müssen, da ich keinen Zugang finden konnte. Schade! Kommt ggf. noch. :|
"Gegen den Strich" ist zwar sein bekanntestes, einflussreichstes Werk, aber durchweg ein harter Brocken. Da kann ich Deine Kopfschmerzen verstehen... ;-) Als Einstieg in die wunderbare Welt des Huysmans empfehle ich daher eher "Là-bas", der mit seiner Satanismus-Thematik (inkl. Schwarze Messen, Kinderopferungen, mittelalterlichen Serienkillern etc.) Genre-Fans zumindest in Ansätzen ansprechen könnte, oder "En rade", eine völlig wahnwitzige Mixtur aus naturalistisch-tristem Ehedrama im ländlichen Frankreich und halluzinogenen Szenen, die unter anderem in irgendwelchen Mondkratern spielen...
Canisius hat geschrieben:Was die Lobpreisungen von Huysmans angeht, so möchte ich Deiner Liste den genialen (! :nick: ) Comiczeichner Ivan Brunetti (Schizo) hinzufügen. Ebenfalls großer Fan, und er hat das teilweise auch thematisch aufgegriffen.
Siehst Du, von dem habe ich nun noch nie etwas gehört/gesehen. Danke für den Tipp! :nick:
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Canisius
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von Canisius »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: "Gegen den Strich" ist zwar sein bekanntestes, einflussreichstes Werk, aber durchweg ein harter Brocken. Da kann ich Deine Kopfschmerzen verstehen... ;-) Als Einstieg in die wunderbare Welt des Huysmans empfehle ich daher eher "Là-bas", der mit seiner Satanismus-Thematik (inkl. Schwarze Messen, Kinderopferungen, mittelalterlichen Serienkillern etc.) Genre-Fans zumindest in Ansätzen ansprechen könnte, oder "En rade", eine völlig wahnwitzige Mixtur aus naturalistisch-tristem Ehedrama im ländlichen Frankreich und halluzinogenen Szenen, die unter anderem in irgendwelchen Mondkratern spielen...
Danke für die Tipps! :)
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