(Fortsetzung:)
Die Achtelfinalspiele verliefen aus meiner Sicht wie folgt:
Brasilien - Chile 4:3 n.E.
Das erste Achtelfinalspiel schaute ich mir auf dem Fan-Fest auf dem Heiligengeistfeld am Stadion des FC St. Pauli an, wo ab dem Achtelfinale jedes Spiel gezeigt wird. Zu Deutschland-Spielen ist dort natürlich kein Durchkommen, bei Spielen ohne deutsche Beteiligung ist dort jedoch Platz genug. Im Vergleich zu den vorherigen Turnieren hat man dort alles etwas verkleinert, auch herrscht weniger internationaler Flair - früher war jedes Teilnehmerland dort mit eigenen kulinarischen Angeboten etc. vertreten. All das fällt diesmal weg. Dennoch ist ein Besuch zu empfehlen, denn der Eintritt ist frei, die Technik gut und vor allem: man kann mit den Fans der jeweiligen Mannschaften feiern! Wir mischten uns unter die sympathischen Chilenen und feuerten mit ihnen bei ein paar Bierchen vom Fass die Mannschaft an, die in der 18. Minute gegen den Gastgeber und haushohen Favoriten in Rückstand gerieten (durch ein Eigentor). Doch in Minute 32 glich Chile aus und das Spiel war wieder offen! Brasilien tat sich sichtlich schwer gegen die starken Chilenen, die Stimmung auf dem Fan-Fest war prächtig! In der zweiten Halbzeit neutralisierten sich beide Mannschaften weitestgehend, von einem Neymar beispielsweise war nicht mehr viel zu sehen. Die eine oder andere brasilianische Großchance fischte der starke chilenische Torhüter raus. Nach 90 Minuten ohne Entscheidung jedoch waren beide Teams quasi stehend k.o., mussten aber in die Verlängerung. Auch diese führte zu keinem Ergebnis und mir schwante Böses fürs Elfmeterschießen: Tatsächlich gewannen es superknapp die Brasilianer, Chile haute die Kirsche am Ende gegen den Pfosten und das war's - haarscharf, um Zentimeter, sind wir an einer Sensation vorbeigeschrammt, beinahe hätte Chile den Gastgeber aus dem Turnier gekickt! Ich hatte auf mein Herz gehört und auf Chile getippt, was ich im Nachhinein auch nicht bereue. Ebenfalls ans Herz gingen die Bilder trauernder Chilenen auf dem Fan-Fest, weinende Kinder etc... Glücklicherweise weitestgehend zurück hielten sich die Spacken, die vorher auf dem unsäglichen "Schlager Move" die Stadt verpesteten und während des Spiels zum Fußballgucken vorbeigestolpert kamen. Pack!
Kolumbien - Uruguay 2:0
Die bei dieser WM sehr starken Kolumbianer hatten keine größeren Probleme mit Uruguay, das auf den gesperrten Beißer Suarez verzichten musste. James Rodriguez machte beide Treffer und führt damit die Torjägerliste des Turniers an. Bei Uruguay blieb Diego Forlan enttäuschend blass, dafür wurde umso mehr lamentiert und kritisiert. Nee, liebe Urus, das war nix. Kolumbien ist verdient weiter und darf sich endlich einmal über ein WM-Viertelfinale freuen. Glückwunsch!
Niederlande - Mexico 2:1
Was war das bitter! Ich hatte mir mein Mexico-Trikot übergestreift, mich wieder aufs Heiligengeistfeld begeben und natürlich unter die Mexikaner gemischt, die fast das gesamte Spiel über für tolle Stimmung sorgten, während die stumpfen Holland-Fans die meiste Zeit die Klappe hielten. Bei unerbittlicher Hitze legten die Holländer eine miese erste Halbzeit hin, spielten unnötig hart und unfair, kamen höchstens ein einziges Mal gefährlich vors mexikanische Tor und waren den flinken Mittelamerikanern deutlich unterlegen. Obwohl Holland anscheinend eine sehr defensive Taktik gewählt hatte, hatte Mexico eine Reihe guter Torchancen, umdribbelte immer wieder die Witzfiguren der Oranje-Abwehr und war physisch fitter, was sich besonders in den Laufduellen verdeutlichte. Folgerichtig hieß es kurz nach der Halbzeit 0:1 für Mexico. Langsam wachte Holland auf und suchte den Ausgleich, doch die Mexikaner standen gut und konnten sich in wirklich brenzligen Situationen auch immer wieder auf ihren überragenden Torwart Ochoa verlassen - dieser war machtlos, als Sneijder in der 88. Minute doch noch den unverdienten Ausgleich erzielte. Die falsche Entscheidung fiel in der Nachspielzeit, als der charakterlose Robben sich nach einer leichten, ganz normalen Zweikampfberührung im mexikanischen Strafraum zur Schwalbe fallen ließ (ach, was sag ich, oscarreif sprang!) und damit einen Elfmeter herausholte, den der zuvor eingewechselte Huntelaar verwandelte. Das hochspannende Spiel hatte den falschen Sieger, Holland enttäuschte und fliegt hoffentlich alsbald aus dem Turnier. Ihrem Ruf als neben den Italienern größten Unsympathen des Fußballs wurden sie jedoch wieder gerecht. Pfui!
Mexico hingegen kann erhobenen Hauptes nach Hause fliegen. Meine heimliche Lieblingsmannschaft (neben der deutschen, versteht sich) hat mir und der ganzen Welt wieder einmal viel Freude bereitet und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht bald endlich einmal mit einem Viertel- oder Halbfinale klappen sollte.
"Hey Compañeros, schwenkt die Sombreros, schieß in die Luft, du lumpiger Schuft, trink mit uns auf die Revolution, du dreifach verteufelter Hurensohn!" Prost - auf Mexico!
Costa Rica - Griechenland 6:4 n.E.
Was für ein Fußballkrimi! In einem von zahlreichen Nickligkeiten bestimmten Spiel gingen in der 52. Minute die sympathischen Mittelamerikaner verdient in Führung, hatten in der 55. Minute sogar die große Chance, zu erhöhen, doch wurde ihnen ein Handelfmeter verwehrt. Fortan versuchten sie, das Ergebnis zu halten. Das klappte die meiste Zeit auch recht gut, selbst nach der gelb-roten Karte gegen Duarte in der 66. Minute. Doch wieder diese verflixte Nachspielzeit! Sokratis machte in der 91. den Ausgleich und was Costa Rica unbedingt verhindern wollte, geschah: Das Spiel ging in die kraftraubende Verlängerung. Doch mobilisierte Costa Rica verborgene Kräfte und waren die Griechen einfach nicht totzukriegen, so dass die Nachspielzeit noch einmal richtig spannend wurde, aber ohne Entscheidung blieb. Das Elfmeterschießen war dann überraschend gut von eigentlich beiden Mannschaften, fast alle Elfer wurden sicher verwandelt. Der Grieche Gekas jedoch scheiterte am klasse Torhüter Nevas und Umana besiegelte schließlich den costa-ricanischen Sieg.
Ein historischer Sieg, denn erstmals steht Costa-Rica in einem WM-Viertelfinale. Für die Griechen wäre es auch das erste Mal gewesen. Vielleicht in vier Jahren, wenn sie ihren Fußball endlich einmal etwas modernisieren würden.
Frankreich - Nigeria 2:0
Ich habe dieses Spiel nicht sehen können, aber anscheinend hatte Frankreich in der ersten Halbzeit massive Probleme, gegen Nigeria ins Spiel zu finden und drehte erst in der zweiten Hälfte auf. Letztlich siegen die Franzosen mit 2:0 und sind relativ souverän weiter - was keine Überraschung ist.
Deutschland - Algerien 2:1 n.V.
Ich wusste, dass es kein Zuckerschlecken werden würde! Algerien stand völlig zurecht im Achtelfinale und Deutschland tut sich generell schwer mit afrikanischen Mannschaften. Dass es in den ersten 35 Minuten jedoch zu vielen Fehlern und Missverständnissen im deutschen Spiel kam, war dann doch negativ überraschend und alles andere als weltmeisterlich. Neuer musste gegen die auf jede Chance lauernden Algerianer Torhüter und Ausputzer zugleich sein, agierte oftmals weit vorm eigenen Kasten und bewies dabei viel Überblick. Die letzten zehn bis 15 Minuten der ersten Halbzeit fand Deutschland jedoch besser ins Spiel und avancierte in der zweiten Hälfte zur klar überlegenen Mannschaft - der jedoch einfach kein Tor gelingen wollte. So ging es in die kraftraubende Verlängerung, bis der eingewechselte Schürrle ENDLICH den erlösenden Führungstreffer erzielte. Özil erhöhte sogar auf 2:0 (was mein Tippergebnis gewesen wäre), doch direkt im Anschluss gab's den algerianischen Anschlusstreffer. Dann aber war auch Schluss, Deutschland steht im Viertelfinale und muss gegen starke Franzosen ran. Über einiges wird zu reden sein, denn besonders die vielen individuellen Fehler im Mittelfeld bereiten Sorgen. Dafür überzeugten die Deutschen jedoch - wie gegen Ghana - kämpferisch und erzwangen schließlich den verdienten Sieg.
Zu einer weiteren „journalistischen Sternstunde“ kam es, als ein ZDF-Reporter unmittelbar nach dem Spiel einen völlig erschöpften, aber ob des erkämpften Siegs glücklichen Mertesacker mit überheblicher Kritik am deutschen Spiel konfrontierte, welcher darauf etwas unwirsch reagierte. Aus Mertesackers Worten wurde aber auch deutlich, dass die deutsche Mannschaft weitaus weniger auf Schönspielerei als auf Kampf und ergebnisorientiertes Spiel setzt, um keinesfalls in Schönheit zu sterben und auszuscheiden wie in den Turnieren zuvor. Was ich da heraushörte, war eine positive Aggression, die Mut machte.
Argentinien - Schweiz 1:0 n.V.
Wieder so eine knappe Kiste! Und wieder geriet ein vermeintlicher Favorit gegen einen vermeintlichen Außenseiter ins Straucheln. In der ersten Halbzeit vergaben die Schweizer zwei Großchancen, anschließend dürfte das Spiel relativ ausgeglichen gewesen sein (ich habe es nicht komplett sehen können), was aber auch bedeutet, dass Hitzfelds Taktik, argentinische Angriffe möglichst zu unterbinden, aufgegangen ist. Schließlich ging auch dieses Achtelfinale in die Verlängerung, in der die Eidgenossen sogar fitter wirkten als die Südamerikaner. Dann jedoch der Schock für die Schweiz, als Lionel Messis Genie kurz aufblitzte und er einen Traumpass auf den Mann mit dem göttlichen Namen Angel di Maria spielte. Dieser verwandelte und besiegelte das Achtelfinal-Aus der tapferen Schweizer, die jedoch ganz am Schluss noch eine riesige Chance zum Ausgleich bekamen Ottmar Hitzfeld beendet seine Trainerkarriere, verlässt mit seiner Mannschaft erhobenen Hauptes Brasilien und kann sich des Respekts der gesamten Fußballwelt sicher sein.
USA - Belgien 1:2
Tja, da war mir die Mannschaft des Klassenfeinds doch fast ans Herz gewachsen. Kein Wunder, spielten doch fast nur eigentlich Deutsche mit, die von einem Deutschen trainiert wurden, der sich von einem anderen Deutschen beraten ließ usw. Das machte das Team der USA zu so etwas wie einer B-Variante der deutschen Nationalmannschaft und Klinsi & Co. gelang es tatsächlich, den Nordamerikanern etwas Fußballkultur zu vermitteln. Kulturimperialismus mal andersherum - auch nicht schlecht. Ebenfalls nicht schlecht war die bisherige Leistung bei dieser WM und die Begegnung mit Belgien avancierte spätestens in der zweiten Halbzeit zu einer mitreißenden und spannenden Partie, in der die bisher so sparsam und nicht wirklich überzeugend gespielt habenden Belgier endlich einmal ihre fußballerische Klasse unter Beweis stellten und ihrem Ruf als "Geheimfavoriten" gerecht wurden. Eine Torchance nach der anderen spielten sie heraus, doch Captain Spaulding im US-Tor hielt einfach ALLES, so dass auch dieses Spiel in die Verlängerung gehen musste. Endlich mit Abschlussgeschick und -glück gesegnet, machte Belgien erst das 0:1, dann das 0:2 und hielt den Sieg fest, als die USA auf 1:2 verkürzten - das scheinen sie sich von der DFB-Auswahl abgeguckt zu haben. Die USA fahren heim, brauchen sich aber keinesfalls zu schämen. Dass Belgien derart stark würde aufspielen können, hatte ich aber wirklich nicht erwartet, im Gegenteil: Ich hatte auf die USA getippt...
Nach den Viertelfinalspielen notierte ich jeweils wie folgt:
Frankreich - Deutschland 0:1
Ich hatte es geahnt, dass die deutsche Elf gegen Frankreich befreiter aufspielen würde als gegen die defensiven, arg unbequemen und schwieriger einzuschätzenden Algerianer und so köpfte der wieder genesene Hummels relativ früh zum Führungs- und Siegtreffer. Löw ließ diesmal Schweinsteiger
und Khedira sowie Klose
und Müller von Anfang an spielen, was meines Erachtens eine Verstärkung brachte, die auch benötigt wurde. Das Spiel blieb nämlich hochspannend und beide Mannschaften agierten auf ähnlichem, recht hohen Niveau, das allen Spielern stets "högschde" Konzentration abverlangte. In der zwar nicht torreichen, doch mich in seiner Mischung aus Technik und Kampf begeisternden Partie hatten beide Mannschaften ihre Großchancen, beispielsweise der später für Klose eingewechselte Schürrle. Aber auch Frankreich tauchte mehrmals arg gefährlich vor dem deutschen Tor auf und kam zum Abschluss, doch Neuer gelang es, seine Glanzparaden einhändig auch noch verdammt lässig aussehen zu lassen - ich bin sehr angetan von der Leistung unseres Schlussmanns. Deutschland steht im Halbfinale und trifft dort auf den Gastgeber Brasilien!
Brasilien - Kolumbien 1:2
Der Gastgeber geht bereits in der siebten Minute in Führung, doch Koumbien hält dagegen und macht in einem harten Spiel mit vielen Fouls besonders in der zweiten Halbzeit ordentlich Druck. Ob es wirklich Abseits war, als Kolumbien den vermeintlichen Ausgleich erzielte, sei einmal dahingestellt und dass das zugegebenermaßen wunderschöne Freistoßtor des Brasilianers mit der affigen Frisur aus rund 30 Metern nach einer brasilianischen Schwalbe fiel, hinterlässt ein "Geschmäckle"... Der dann tatsächlich mal gegebene Anschlusstreffer gelang Kolumbien zu spät, so dass sie gegen die nur noch hinten drinstehenden Brasilianer nichts mehr ausrichten konnten. Mit dem verletzten Neymar und dem gelbgesperrten Kapitän Silva fehlen zwei Schlüsselspieler gegen Deutschland, was es für Brasilien nicht leichter machen wird.
Argentinien - Belgien 1:0
Exakt wie von mir erwartet stoppten die Gauchos mit einer soliden und vor allem effektiven Leistung den Siegeszug des Geheimfavoriten aus dem Land der Pommes und Pralinen. Das erinnert mich bis jetzt alles an das Auftreten Argentiniens 1990, als sie schließlich im Finale landeten...
Niederlande - Costa Rica 4:3 n.E.
Es dürften rund 80 Minuten gewesen sein, die die Holländer kein Rezept gegen den Abwehrgürtel der Mittelamerikaner fanden bzw. spätestens an deren Torhüter Navas scheiterten, wodurch das Spiel nicht sonderlich ansehnlich geriet. In der 82. Minute aber klingelte es nach einem holländischen Freistoß beinahe in Costa Ricas Kasten, als man erstmals Aluminium traf - Pfosten! In der Nachspielzeit dann zum zweiten Mal, als Navas bereits geschlagen war, aber ein costaricanischer Spieler den Ball an die Latte abfälschte. Offener Schlagabtausch dann in der Verlängerung, als die Ticos noch einmal letzte Kraftreserven mobiliserten, fast den Treffer erzielten und Sneijder im Gegenzug erneut die Latte bemühte. Besonderer Coup des holländischen Trainers van Gaal, als er zum Elfmeterschießen seinen Ersatz-Torwart einwechselte, der als Elfer-Killer bekannt ist - und die armen Schützen der Costa-Ricaner vollquatschte. Im Elfmeterschießen unterlag Costa Rica dann leider, aber erwartungsgemäß und letztlich auch verdient, denn es ist mir ein Rätsel, wie man fast 120 Minuten lang den Anschein erwecken kann, aufs Elfmeterschießen hin zu arbeiten, wenn man nur über derart unpräzise Schusskünste verfügt, dass man kaum eine Ecke vernünftig getreten bekommt. Trotzdem hat Costa Rica bei dieser WM viel Spaß und den Robben & Co. ordentlich das Leben schwer gemacht.
Das Halbfinale schließlich hielt eines der spektakulärsten Spiele einer deutschen Mannschaft bereit, ein Spiel zahlreicher Rekorde:
Brasilien - Deutschland 1:7
Aus meiner Sicht völlig unverständlich schienen sich die Brasilianer nach Ausfall ihres Stars Neymar bereits vor dem Spiel aufgegeben zu haben - dies war zumindest das Bild, das die hiesigen Medien mir vermittelten. Ich war mir nicht sicher, ob das nicht vielleicht doch ein Zerrbild oder psychologisches Täuschungsmanöver sein würde und hoffte, dass die deutschen Spieler die richtige Balance zwischen Ernstnehmen des Gegners und selbstbewusstem, angstfreiem Auftreten finden würden. Ich sah dafür reelle Chancen, da ich eine ggü. 2010 und 2012 gereifte Mannschaft erwartete. Dass es letztlich derart einfach würde, hatte ich mir jedoch in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Kurz noch ein paar Worte zur Stimmung im Stadion: Ich fand's ja echt ok vom brasilianischen Publikum, wenn es schwache Partien fremder Mannschaften mit Pfiffen bestrafte und gute Leistungen lobte. Die deutsche Mannschaft von der ersten Minute an grundlos auszubuhen und auszupfeifen, zeugt jedoch weder von Gastfreundschaft noch von Fairplay. Brasilien begann gut, machte früh Druck und entwickelte von Anfang an Drang nach vorn. Doch die deutsche Verteidigung war stets zur Stelle und im temporeichen Auftakt entwickelte auch Deutschland ein schnelles Spiel in die brasilianische Hälfte. In der 11. Minute Ecke von rechts, Müller, 0:1! Grandios! Auf der anderen Seite grätscht Lahm im Strafraum herrlich gegen Marcelo und befördert die Kirsche ins Toraus - eine von mehreren Situationen, in denen Brasilianer unberechtigt Elfmeter fordern sollten, worauf sich der sehr gute mexikanische Schiedsrichter aber nie einließ. Auch kleinere Fouls verfolgte er konsequent, ohne das Spiel zu zerpfeifen und trug sicherlich dazu bei, dass es zu einer ziemlich fairen Partie wurde. In der 23. Minute verwandelt Klose, der wie gegen Frankreich von Anfang an spielte, zum 0:2 und stellte damit endgültig Ronaldos WM-Torschützen-Rekord ein. 16 Treffer, Glückwunsch, Miro! Deutschlands Fußball, der bereits nach dem ersten Treffer zunehmend sicherer und taktisch wie technisch auf hohem Niveau stattfand, wurde nun richtiggegend abgewichst, denn der überragende Toni Kroos machte im unmittelbaren Anschluss die Treffer 3 und 4! Wer hätte das gedacht?! Die Fußballwelt stand Kopf! Vollkommen uneigennützige Doppelpässe wenige Meter vor dem brasilianischen Kasten, ein weiteres solches Ding verwandelte Khedira zum sage und schreibe fünften Tor! Fünf Tore in 18 Minuten, und das gegen Brasilien! Ich glaube, nach dem vierten Tor kniff ich mich, um festzustellen, ob ich nicht träume. In der zweiten Hälfte kam Mertesacker für Hummels und nach knapp 60 Minuten "Joker" Schürrle für Klose. Kommentator Rethy nervte mit seiner Überheblichkeit bereits vor der Halbzeit, als er das Ding schon gewonnen glaubte und damit durchblicken ließ, dass er es für unmöglich hält, dass auch eine andere Mannschaft fünf Tore in einer Halbzeit schießen könne. Klar war's unwahrscheinlich, aber solch unsympathisches Gelaber schreit geradezu danach, gerächt zu werden, weshalb man es bitte unterlassen sollte. Wie dem auch sei, in der zweiten Halbzeit wollte Brasilien beweisen, nicht in Schockstarre verfallen zu sein und erhöhte überaus deutlich den Druck. Doch was die Abwehr nicht verhinderte, scheiterte spätestens am abermals überragenden Manuel Neuer. Brasiliens Fans begannen, sich auf ihren Spieler Fred einzuschießen und ihn gezielt auszupfeifen. Unschön. Wenigstens pfiffen sie unsere Jungs nicht mehr aus. Wir erinnern uns: Schürrle war eingewechselt worden und hat eigentlich immer getroffen, so auch heute: Der Wahnsinnige schenkte der Seleção auch noch Treffer 6 und 7 ein (und ich glaube, Maradona einmal laut lachen gehört zu haben). Verkehrte Welt im Stadion: Die brasilianischen Fans schlugen sich auf die Seite der Deutschen, bejubelten Schürrle und kommentierten jeden deutschen Pass euphorisch - die Höchststrafe für die brasilianische Elf. Deren Oscar verkürzte in der 90. noch auf 1:7, aber das war's dann. Für Khedira kam nach 75 Minuten übrigens Draxler zu seinem ersten WM-Einsatz. Deutschland feiert einen Rekordsieg, demütigt den Gastgeber, stellt dessen WM-Torschützenrekord ein, beschert ihm seine höchste Niederlage und fährt den höchsten Halbfinalsieg ein - den 32,57 Millionen Zuschauer in Deutschland sahen: ein weiterer Rekord. Meine größte Respektbekundung vor dieser Leistung!!!
Niederlande - Argentinien 2:4 n.E.
Im gestrigen zweiten Halbfinalspiel wurde Deutschlands Finalgegner ermittelt. Holland konnte sich über van Persie und de Jong in der Startelf freuen, beide Einsätze schienen zuvor etwas fraglich. Das Spiel war schließlich bestimmt vom vorsichtigen Auftreten beider Mannschaften, von denen keine größere Risiken eingehen wollte. Das hatte zur Folge, dass sich beide Gegner weitestgehend neutralisierten und sich ein wenig attraktives, chancenarmes Spiel entwickelte. Messi wurde ebenso weitestgehend ausgeschaltet wie auf der anderen Seite Robben und so konsequent die Taktik auch eingehalten wurde, so viele individuelle Fehler in Form von Fehlpässen, unpräzisen Flanken etc. schlichen sich ein. Für fragwürdige Abwechslung sorgte ein Zusammenprall Mascheranos' und Wijnaldums in der 28. Minute, nach dem der Argentinier ins Taumeln geriet, benommen umkippte und behandelt werden musste, aber dennoch weitermachen konnte. Alles deutete auf Verlängerung, doch in der 91. Minute kam es zur vielleicht ersten wirklich gefährlichen holländischen Abschlussmöglichkeit - ohne Erfolg, Mascherano hielt im letzten Moment seinen Fuß dazwischen und verhinderte Robbens Tor. Die Verlängerung verlief zu großen Teilen wie die ersten 90 Minuten. Erneut war es eine Verletzung auf Seiten der Argentinier, die für Aufregung sorgte: Kuyt mähte Zabaleta um, welcher zunächst liegenblieb, behandelt wurde, Watte fraß und zurückkam. In den letzten fünf Minuten der Nachspielzeit bäumte sich Argentinien noch einmal auf, doch auch die Schlussoffensive verpuffte. Pech gehabt, Holland: Schon 3x gewechselt, deshalb blieb Elfmeterkiller Krul auf der Bank und musste mitansehen, wie die Nr. 1 im Oranje-Tor, Cillessen, nix hielt, vor allem aber, wie zwei Holländer verschossen. Die Rache für Costa Rica ist perfekt, Holland endlich draußen und mein bereits vor Beginn des Turniers abgegebener Final-Tipp Argentinien versus Deutschland Wirklichkeit geworden! Das freut mich, denn im Gegensatz zu manch Experten-Meinung glaube ich, dass die Argentinier uns besser liegen. Zudem habe ich sehr positive Erinnerungen an die letzten WM-Begegnungen Deutschlands gegen Argentinien, vor allem natürlich an das Finale 1990... Und ich glaube nicht, dass uns diese argentinische Elf übermäßig sorgen sollte, zudem haben wir einen Tag mehr zum Regenieren und keine Verlängerung mit Elferkrimi auf dem Buckel. Außerdem haben wir die Brasilianer auf unserer Seite. Wir können's packen, der vierte WM-Titel ist zum Greifen nah!
Spiel um Platz 3:
Brasilien - Niederlande 0:3
Das "kleine Finale", das Spiel um den dritten Platz, konnte ich nicht live verfolgen, aber was musste ich da erfahren? Selbst dieses Spiel, diese letzte Möglichkeit zur Wiedergutmachung vor heimischen Publikum, versemmelte der Gastgeber gegen eine holländische Elf, deren Trainer zuvor noch gegen das Verlierer-Duell geschimpft hatte. Kapitän Thiago Silva war wieder dabei und wurde gleich zu Beginn Opfer einer Fehlentscheidung: Er holte Robben noch vor dem Strafraum von den Beinen, doch der Schiri entschied auf Elfmeter. Eigentlich hätte er Silva dann auch eine Rote zeigen müssen, beließ es aber bei Gelb - eigenartige Regelauslegung. Van Persie verwandelte und Blind erhöhte nach einer guten Viertelstunde gar auf zwei Treffer. In der zweiten Halbzeit sollen sich die Brasilianer noch einmal aufgebäumt haben, jedoch ohne wirksames Rezept und ohne Erfolg. Ruppig soll es zugegangen sein, aber das kennen die Holländer ja von sich selbst. Eine weitere Fehlentscheidung brachte Brasilien um einen Elfmeter, handelte Oscar stattdessen eine gelbe Karte wegen einer vermeintlichen Schwalbe ein. In der Nachspielzeit erzielte Oranje gar noch den dritten Treffer und machte die brasilianische Blamage perfekt.
Schien die WM 2014 während der Vorrunde noch die WM der falschen Schiedsrichterentscheidungen zu werden, wurde sie in der K.O.-Runde die der vielen Verlängerungen und späten Tore. Schon vor Beginn des Turniers hatte ich auf ein Finale Deutschland – Argentinien, den Klassiker also, getippt. Vieles erinnerte mich schließlich an die gewonnene WM 1990: Kämpferische Deutsche, denen manch Sieg alles andere als geschenkt wurde und die in der Vorrunde ein Unentschieden spielten, keinesfalls überragend, aber verdammt effizient spielende Argentinier um einen hinter den Erwartungen zurückbleibenden Superstar, schwächelnde Brasilianer, ein Gastgeber, der im Halbfinale tränenreich rausflog, starke Außenseiter wie Costa Rica, ein Elfmeterkiller im argentinischen Tor… Vor dem Finale war ich aufgeregt wie lange nicht mehr und während des Spiels wurde es noch schlimmer. Meine WM-Tagebuch-Notizen:
Deutschland - Argentinien 1:0 n.V.
Welch nervenaufreibendes Finale! Ich hatte zwar auf ein deutliches 3:0 für uns getippt und gehofft, dass die Argentinier nur halb so leicht zu knacken gewesen wären wie die Brasilianer, aber befürchtet hatte ich exakt die Zitterpartie, die sie letztlich wurde. Ich wusste, wie schwer sich Jogis Jungs gegen defensiv massive Mannschaften tun und natürlich auch um Messis Gefährlichkeit. Ich fürchtete, dass einfach kein Durchkommen sein würde und ein einzelner Konter für Argentinien reichen würde. Einmal klingelte es tatsächlich in Neuers Kasten, jedoch wurde korrekt auf Abseits entschieden. Ansonsten blieb das Ding aber sauber, trotz Messis Schnelligkeit, trotz Kroos' unglücklicher Kopfballrückgabe, trotz kämpfender Südamerikaner. Das lag am konzentrierten Auftreten der detschen Elf, an ihrer starken - aber nicht fehlerlosen - Abwehr, an ihrem Kampfgeist. Boateng machte meines Erachtens das beste Spiel seiner Karriere und vereitelte x argentinische Chancen. Apropos Chancen: Die hatten beide Mannschaften, die größte sicherlich Deutschland, als Höwedes kurz vor der Halbzeitpause an den Pfosten köpfte. Aber Argentinien hatte in der Summe vielleicht sogar mehr Großchancen. Deutschland kombinierte viel und gut, das Kurzpassspiel funktionierte, doch beim Abschluss haperte es - zu harmlos für Romero flog der Ball meist aufs argentinische Tor. Kurz vor Anpfiff wurde bekannt, dass Khedira mit Wadenproblemen draußen bleiben muss und der Gladbacher Jungspund Christoph Kramer für ihn und somit zu dem besonderen Vergnügen kommt, direkt in einem WM-Finale erstmals von Anfang an zu spielen. Der spielte auch wirklich gut mit, prallte jedoch nach 17 Minuten böse mit einem Argentinier zusammen und musste behandelt werden. Zunächst spielte er weiter, doch nach ca. einer halben Stunde musste er benommen und mit Verdacht auf Gehirnerschütterung gegen Schürrle ausgetauscht werden. In der zweiten Halbzeit des temporeichen Spiels auf hohem Niveau allerdings sprang Neuer einem Argentinier mit dem Knie ins Gesicht und bewies ebenfalls Härte - ein Indiz für die durchwachsene Schiedsrichterleistung war, dass in der Situation Foul gegen Argentinien gepfiffen wurde. In der Verlängerung wurde es immer härter und der Schiri, der bereits in der ersten Halbzeit gut einen Elfmeter für Deutschland hätte geben können, verpasste es, zwei bereits gelbbelastete Argentinier nach fiesen Fouls und überhartem Einsteigen vom Platz zu stellen. Schweinsteiger trug eine blutende Platzwunde unter dem rechten Auge davon, spielte nach Behandlung aber weiter, wurde immer wieder attackiert, zeigte einen überragenden Kampfeswillen. Hummels war längst stehend k.o., Mertesacker sollte evtl. kommen, kam aber nicht. Eine bereits nach 87 Minuten vollzogene Einwechslung allerdings sollte Geschichte schreiben: Klose ging, Mario Götze kam, sah und - siegte! In der 113. Minute nahm er eine schöne Flanke von Schürrle mit der Brust an und verwandelte aus spitzem Winkel von links zum 1:0-Endstand! Endlich das erlösende Tor! Eine Zusammenarbeit zweier Eingewechselter, ein astreines Joker-Tor, das Tor zum vierten Weltmeisterschaftstitel! Deutschland ließ nichts mehr anbrennen und brachte das Ding nach Hause. Ich bin begeistert! Glückwunsch und vielen Dank für dieses Privileg, das miterlebt haben zu dürfen!
Was war sonst noch? Ein Flitzer auf dem Platz, eine Auszeichnung für Messi als bester WM-Spieler und eine für Neuer als bester WM-Torwart. Und natürlich Jubel, Trubel, Heiterkeit! Meine Arbeitgeber hatten beschlossen, dass wir im Falle eines deutschen Sieges erst um 11:00 Uhr zu arbeiten beginnen und so konnte ich nach Hause fahren und noch in Ruhe die Fernsehbilder verfolgen.
Weltmeister! Nun war es also soweit. Nach 24 Jahren habe ich erstmals als Erwachsener erleben dürfen, wie eine großartige deutsche Nationalmannschaft den Weltpokal holt, und ich musste dafür noch nicht einmal älter werden als der älteste Spieler auf dem Platz. Deutschland gab ein prima Bild in der Welt ab und dürfte die fairste Mannschaft des Turniers gewesen sein, was sie insbesondere während und nach der Partie gegen Brasilien bewies. Mit einer tollen Mannschaftsleistung, in der jeder alles zu geben bereit war, erzwang man den Erfolg, zudem den ersten WM-Titel einer europäischen Mannschaft in Südamerika. Zu sehen, wie ein Kollektiv unterschiedlichster Individuen etwas auf die Reihe bekommt und konsequent zu Ende führt, finde ich ja immer inspirierend. Wenn dies auch noch in meiner favorisierten Sportart meiner favorisierten Mannschaft gelingt, kann ich nicht umhin, einzugestehen, dass mich dies mit einer tiefen Genugtuung erfüllt. Eine mit den Jahren vor allem mental gereifte Mannschaft hat endlich die verdienten Früchte ihrer Arbeit geerntet und alle Kritiker Lügen gestraft. Zumindest in Hamburg und im Umland hatte ich das subjektive Gefühl, dass die allgemeine „Schland“-Euphorie auch insofern zurückgegangen war, dass weniger „Flagge gezeigt“ wurde als in den Jahren zuvor. Es hingen weniger Fahnen aus Fenstern oder Balkonen herab, es fuhren weniger Autos mit Fähnchen herum etc. Das „Public Viewing“-Fan-Fest auf dem Heiligengeistfeld schien man verkleinert zu haben, in jedem Falle ging der Flair vergangener Jahre etwas verloren. Wo früher Imbissbuden mit Kulinarischem aus fast allen beteiligten Ländern bereitstanden, blieben nur ein paar mickrige Pommes- und Bratwurst-Stände übrig. Eine tolle Institution finde ich es aber nach wie vor, wenn mich auch zu Spielen mit deutscher Beteiligung keine zehn Pferde dort hinbekommen. Im TV allerdings feierten die Spiele Rekord-Einschaltquoten. Das Interesse war demnach größer denn je, die „Wir werden Weltmeister!“-Überheblichkeit aber offenbar vielerorts einer Skepsis von gesund bis unnötig pessimistisch gewichen. Die Straßen waren natürlich dennoch voll von jungen Menschen, die in der Nationalmannschaft und ihren Spielern Vorbilder sehen, die von ihnen wahrscheinlich ebenso motiviert werden wie ich seinerzeit und denen ich wünsche, dass sie mehr daraus machen. Auf der überraschend gesitteten Rückfahrt per S-Bahn nach dem Finale saßen mir zwei Kids gegenüber, die noch sichtlich unter den Eindrücken des Spiels stehend auf ellenlangem Rückweg von einen „Public Viewing“ nach Stade (oder so) waren und aufgeregt mit ihren Smartphones Informationen über Christoph Kramer einholten. Ich fühlte mich an mich selbst erinnert, wie ich 1990 Zeitungen und Magazine nach weiteren Informationen durchforstete und aufmerksam die Fernsehberichterstattung verfolgte und grinste zufrieden in mich hinein. Wieder einmal war es dem Nationalsport gelungen, Menschen über Vereins-, Stadt- und Ländergrenzen hinweg zusammenzuführen, sie miteinander ins Gespräch zu bringen und aus ihrem Alltag zu reißen. Und ganz bestimmt wurden viele vornehmlich Jüngere durch das Turnier erstmals so richtig für den Fußball begeistert, was bei weiterhin guter Nachwuchsarbeit der Vereine eine neue Spielergeneration heranwachsen lassen dürfte – übrigens etwas, das in den Überlegungen WM-kritischer Besserfans, die über jeden verächtlich die Nase rümpfen, der Deutschen Elf zujubelt, ohne sich bereits seit zehn Jahren regelmäßig in der Regionalliga die Beine in den Bauch zu stehen, überhaupt nicht vorkommt. Ich hoffe, dass sich viele von dieser WM und ihrem Ausgang inspirieren lassen, etwas von der positiven Energie dauerhaft verinnerlichen und das beste daraus machen, statt den Fehler zu begehen, sich in Chauvinismus und Überheblichkeit, fragwürdigen Patriotismus o.ä. zu verrennen. In diesem Zusammenhang war ich positiv überrascht von der
Kolumne Jakob Augsteins im „Spiegel“, der vorschlug, die gewonnene WM zum Anlass zu nehmen, Größe und Verantwortung zu zeigen und die verheerende, das Grundrecht auf Asyl praktisch abgeschafft habende Änderung des Grundgesetzes aus dem Jahre 1993 rückgängig zu machen. So naiv, an derartig positive politische Folgen der WM zu glauben, bin ich aber selbstverständlich nicht.
Das bringt mich zu kritischen Punkten, die ich nicht unter den Tisch kehren möchte: Wer sich so überhaupt nicht für den Sport interessiert und einfach nur stumpf seine Nationalität abfeiern möchte, weil er das Gefühl hat, es im Alltag „nicht zu dürfen“, hat ganz entschieden etwas missverstanden und kann mir mal gestohlen bleiben. Das hat nichts mit dem gernzitierten „unverkrampften“ Feiern etc. zu tun, sondern zeugt von davon, dass es an irgendetwas ganz anderem fehlt, was durch Ersatzhandlungen wie unreflektierten Nationalstolz zu kompensieren versucht wird. Dann wäre da noch das leidige Thema der Neo-Nazis. Dass diese trotz strikter Ablehnung der integrativen deutschen Elf durch ihre Führer dennoch immer wieder Bezug zur WM suchen, beim Rudelgucken auftauchen, den Fußball zum Anlass nehmen, Streit zu suchen und Gewalt auszuüben oder ihren peinlichen Mist in sozialen Netzwerk absondern, liegt an der ihrerseits gern praktizierten Mischung aus offener Provokation und grenzenloser Dummheit. Dies zu ignorieren wäre sicherlich genauso falsch wie sie zum Indikator für einen WM-bedingten Rechtsruck der Gesellschaft hochzustilisieren und damit auf ein Podest zu heben. Der Umgang von kritischer Seite mit ihnen bewegt sich zwischen seriöser, informativer Berichterstattung und hysterischer Instrumentierung zum Zwecke der Diskreditierung angefangen bei den deutschen Fans bis hin zum ganzen Turnier. Dass letzteres kontraproduktiv ist und ihnen nur in die Hände spielt, liegt auf der Hand und wenn einige geradezu auf Handlungen Rechtsextremer im Zuge der WM warten, um sie anschließend auszuschlachten und sich in ihrer negativen Haltung bestätigt zu sehen, darf ein aufrichtiger Antifaschismus als Intention zumindest angezweifelt werden, besteht vielmehr der Verdacht einer ideologischen Abhängigkeit vom Gegner. Wenn ich allerdings lese, dass Blogs, die sich kritisch mit rechtsextremen Umtrieben in Deutschland während der WM auseinandersetzen, auf Materialsuche schon einzelner dummer Twitter-Einträge annehmen müssen, um auf eine gewisse Länge zu kommen, fühle ich mich trotz des pessimistischen Grundtons der Berichterstattung ehrlich gesagt erleichtert. Das heißt jedoch natürlich nicht, dass alles Friede, Freude, Eierkuchen gewesen wäre: Auf St. Pauli beispielsweise nahmen offensichtlich HSV-Schläger das WM-Finale zum Anlass eines Überfalls auf eine St.-Pauli-Kneipe. Inwieweit diese über rechtsradikale Beweggründe verfügten, entzieht sich zwar meiner Kenntnis, macht letztlich jedoch kaum einen Unterscheid. Doch neben der hässlichsten Fratze der Politik, der des Rechtsextremismus, kam es wie üblich auch zu anderen Vereinnahmungsversuchen: Kanzlerin Merkel flog fröhlich auf Steuerkosten nach Brasilien, stellte den Spielern bis in die Umkleidekabine nach und ließ sich bereitwillig von und mit ihnen fotografieren. Bundespräsident und Kriegs-Fan Gauck stand ihr in kaum etwas nach und die Spieler feierten beide auch noch, anstatt sie für ihre fragwürdige Politik zu verurteilen. Auf diesen ganzen Firlefanz hätte ich gut und gern verzichten können. Ich tue mich jedoch auch schwer damit, mich einerseits durch derlei Polit-PR keinesfalls beeindrucken zu lassen, dieses Differenzierungsvermögen aber anderen abzusprechen und daher die WM grundsätzlich als die jeweils aktuelle Politik begünstigend zu verteufeln.
Technische Neuerungen gab es übrigens auch, die Torkamera und den Freistoßschaum. Während ich erstere begrüße, wirkt letztere noch etwas gewöhnungsbedürftig, insbesondere, wenn ganze Schaumberge Spieler bei Freistößen irritieren. Immerhin führt diese Maßnahme aber dank im Umgang mit der Sprühdose sehr fixen Schiedsrichtern zu keinerlei Verzögerungen, dafür aber zu manch lustigem Bild, wenn der eine oder andere Spieler das Zeug über den Stiefel gesprüht und damit zu verstehen bekommt, mit seiner Mauer zu nah am Ball zu stehen. Selbstverständlich wird nicht alles immer besser, gerade unter den Kommentatoren vermisse ich doch schmerzlich jemanden vom Kaliber eines Gerd Rubenbauer. Ob Bela Rethy, Tom Bartels oder wie die ganzen überheblichen Dampfplauderer heißen, zukünftig würde ich mir die Spiele am liebsten mit Radiokommentar ansehen.
Das Maskottchen der WM 2014 übrigens sah weniger wie ein Gürteltier aus, das es eigentlich darstellen sollte, sondern vielmehr wie ein
Facepalm. Glücklicherweise erwies es sich nicht als schlechtes Omen, zumindest nicht fürs deutsche Team. Der offizielle WM-Song hingegen, „We Are One (Ole Ola)“ von Pitbull, war ein echter Ohrwurm und überhaupt hatten die jüngsten Weltmeisterschaften mit „Wavin’ Flag“ (K’naan) und „Waka Waka (This Time For Africa)“ (Shakira) wirklich hörenswerte Songs zu bieten.
Ganz schön lang ist er geworden, mein kleiner WM-Rückblick, weit ausgeholt habe ich und ich hoffe, mir nun wirklich alles von der Seele geschrieben zu haben, was ich erinnerungswürdig oder erwähnenswert fand (ist natürlich Quatsch, erfahrungsgemäß fällt mir kurz nach Veröffentlichung noch alles Mögliche ein). In zwei Jahren findet die EM in Frankreich statt, quasi nebenan. Wer weiß, vielleicht schaffe ich es dann ja tatsächlich einmal ins Stadion. Und wenn nicht, auch egal, auf meine Weise dabei sein werde ich so oder so. Bis dahin werde ich vielleicht ein bisschen mehr als sonst die Bundesligen verfolgen, werde mich über den DFB aufregen und mich über die auseinandergerissenen, über drei Tage verteilten Spieltage beklagen, in die Bredouille kommen, Spielern, denen ich während der WM noch zugejubelt habe, alles Schlechte zu wünschen, wenn sie gegen eine von mir favorisierte Mannschaft spielen und vielleicht werde ich zwischendurch auch wieder die Schnauze voll haben von zusammengekauften Teams und Vereinsmeierei. Dann werde ich mich einfach an diese WM erinnern – daran, wie ich mit Freunden im Biergarten die Spiele verfolgt habe, wie ich zwischen Mexikanern, Chilenen und Argentiniern auf dem Heiligengeistfeld stand, bangte und fluchte, wie ich ständig zu spät ins Bett kam und vor allem daran, wie schön Fußball sein kann.