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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 20. Dez 2011, 18:09
von buxtebrawler
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Das Waisenhaus
Laura (Belén Rueda) kehrt nach 30 Jahren wieder zu dem Haus zurück, in dem sie als Waise bis zu ihrer Adoption ihre Kindheit verbrachte. Sie ist in Begleitung ihres Mannes Carlos (Fernando Cayo) und ihres kleinen Sohnes Simón (Roger Príncep) und will mit diesen wieder in das lange leerstehende Haus einziehen, um dort selbst eine Heimstätte für behinderte Kinder zu betreiben. Simón, der auf Grund einer vor ihm geheimgehaltenen Krankheit, täglich Tabletten schlucken muss, ist ein Kind mit lebhafter Phantasie, der sich zwei imaginäre Freunde erfunden hat. Daran hatten sich die Eltern gewöhnt, aber seine neuen Freunde, die er in dem geheimnisvollen Haus kennenlernt, entwickeln ein wesentlich stärkeres Eigenleben und nehmen Einfluss auf Simóns Verhalten...
Juan Antonio Bayonas erster und bis dato einziger Spielfilm, „Das Waisenhaus“ aus dem Jahre 2007, fügt sich gut in die Welle stilvoller spanischer Grusel- und Mystery-Produktionen ein. Laura (Belén Rueda) bezieht nach 30 Jahren mit ihrem Mann und ihrem HIV-positiven Adoptivsohn Simón (Roger Príncep) ein ehemaliges Waisenhaus, wo sie als Kind selbst gewohnt hat, um es in eine Betreuungseinrichtung für behinderte Kinder umzugestalten. Simón jedoch kommuniziert mit vermeintlich imaginären Freunden und verschwindet eines Tages spurlos…

Auch wenn sich „Das Waisenhaus“ einiger bekannter Motive aus Geisterfilmen bedient, ist er mit seiner starken Gewichtung auf den Drama-Anteil der Handlung und durch den völligen Verzicht auf gewohnte Schockeffekte und ähnlicher Genre-Charakteristika ein sehr eigenständiges Werk, das ich am ehesten als Grusel- oder Mysterydrama klassifizieren würde. Das sehr ruhige Erzähltempo bietet viel Gelegenheit, sich mit den Charakteren auseinanderzusetzen und Empathie zu entwickeln. Das ist wichtig, denn durch seinen Verzicht auf Effekthascherei funktioniert der Film sonst nicht. Die einwandfreien schauspielerischen Leistungen erleichtern dieses aber; der kleine, aufgeweckte Simón dürfte selbst für Filmkinder-Skeptiker zum Sympathieträger avancieren. Es gilt, die triste Moll-Atmosphäre in sich aufzunehmen und sich auf die Handlung zu konzentrieren, um zunächst einmal die sich nur nach und nach offenbarende Familienkonstellation zu verstehen und anschließend mit dem stets dem gleichen Kenntnisstand wie Laura mitzurätseln, Theorien aufzustellen, auf Details zu achten, die zur Lösung beitragen könnten. Daraus bezieht „Das Waisenhaus“ u.a. seinen Reiz.

Denn es ist zwar eindeutig, dass es im Haus spukt, nicht eindeutig ist aber die Intention. Inwieweit hängt der Spuk mit Simóns Verschwinden zusammen? Was wollen die Geister? Während man sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, muss man mit ansehen, wie Lauras Ehe zerbricht und sie in ihrer Verzweiflung besorgniserregend altert. Belén Rueda überzeugt durch ihre authentische Darbietung auf ganzer Linie und die Maskenbildner leisteten gute Arbeit. Bayonas Verzicht auf Schockeffekte bedeutet keinesfalls einen Verzicht auf Horror, denn „Das Waisenhaus“ hat einige höchst effektive Suspense-Momente zu bieten, die sich die Nackenhärchen aufstellen lassen. Bayona arbeitet sparsam, aber eben sorgfältig mit grafischen Momenten und verhindert dadurch ihre Abnutzung.

Beim Betrachten des Filmendes bzw. dessen Pointe zeigt sich, ob man als Zuschauer aufmerksam genug war, um die einzelnen Puzzleteile richtig zusammenzusetzen. Dennoch fiel es für meinen Geschmack nicht ganz befriedigend aus, was ich mittlerweile von spanischen Produktionen aber gewohnt bin. Das mag in diesem Falle aber auch sicherlich Geschmackssache sein. Persönlich hätte ich mir etwas mehr Horror und etwas weniger Drama gewünscht, muss Bayona aber zugestehen, eine stilsichere, gegen sämtliche Modeerscheinungen gebürstete Arbeit abgeliefert zu haben, die psychologisch interessanten Inhalts ist und gleichzeitig gut unterhält.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 20. Dez 2011, 18:14
von jogiwan
@ bux: du solltest eventuell "Julias Eyes" antesten - der könnte dir durchaus gefallen.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 21. Dez 2011, 18:05
von buxtebrawler
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The Cottage
Drei Gangster, darunter zwei Brüder, planen einen großen Coup. Sie entführen die blonde und schlagfertige Tracey und fordern Lösegeld. Doch leider stellen sich die drei Gangster, darunter zwei Brüder, ziemlich bescheuert an. Der Vater von Tracey schickt schon seine Männer los und als Tracey entkommt und an eine abgelegene Farm flüchtet, fängt der wahre Horror erst richtig an...
Erneut beglücken uns die Engländer mit einer schwarzhumorigen Horrorkomödie. Der 2008 von Regisseur Paul Andrew Williams inszenierte „The Cottage“ erinnert stark an „Severance – Ein blutiger Betriebsausflug“, abzüglich dessen gesellschaftssatirischer Komponente.

Ein ungleiches Gangstertrio plant die Entführung der Tochter eines reichen Gangsterbosses, um Lösegeld zu erpressen. Doch das Entführungsopfer, die blonde Tracy (Jennifer Ellison), entpuppt sich als selbstbewusstes, schlagkräftiges Biest, das seinen trotteligen Entführern schwer einheizt. Der Coup misslingt letztlich gründlich und zu allem Überfluss bekommt man es auch noch mit einem entstellten Psychopathen-Hinterwäldler zu tun, dem Entführer und Entführte gleichsam gerade recht kommen…

„The Cottage“ beginnt wie eine urkomische Gangsterkomödie und bleibt es auch über weite Strecken. Besonders herrlich mit anzusehen sind die Konflikte zwischen dem „professionell“ und angsteinflößend als Gangster auftreten wollendem Entführer und dessen Bruder Peter (Reece Shearsmith), einem trotteligen Weichei, dem seine Rolle so gar nicht behagt. Situationskomik und lustige Dialoge sorgen für einige Lacher in der absurden und immer verfahrener werdenden Lage, in der sich die Protagonisten befinden.

Als sich Tracy aufgrund der Idiotie ihrer Entführer bzw. der Mottenphobie Peters befreien kann, wird man sich bewusst, dass man sein einsames Versteck etwas zu weit abgelegen ausgesucht hat und aus der spaßigen Gangster- eine blutige Horrorkomödie, denn der typische Backwood-Terror-Bösewicht mit fieser Fratze (Dave Legeno, „Snatch – Schweine und Diamanten“) schwingt sein Werkzeugarsenal bevorzugt in die Körper argloser Menschen, die seinem Grundstück zu nahe kommen. Nun wird ordentlich und dank handgemachter Spezialeffekte auch sehr ansehnlich gesplattert, was vor allem dadurch seine Wirkung entfacht, dass man inzwischen reichlich Mitleid für Peter entwickelt hat, der so überhaupt nicht für diesen „Job“ gemacht ist und von allen Seiten schwer eingeschenkt bekommt. Zwischen ihm und Tracy entwickelt sich eine Zweckgemeinschaft, denn es gilt, sich gemeinsam gegen das Monstrum von Farmer zu behaupten.

Ja, „The Cottage“ macht nicht den Fehler, eine reine Schlachterplatte abzufeuern und seine Charaktere aus den Augen zu verlieren. So ist es erfreulicherweise möglich, mitzufiebern und sich manches Mal ernsthaft zu erschrecken, wenn auch der komödiantische Aspekt nie außer Acht gelassen wird. Im Gegenteil, hier wird mit viel Hingabe und Humor verstümmelt, auseinandergerissen und getötet, grotesk und überzeichnet, es aber nie so sehr übertreibend, dass man jeglichen Bezug zum Geschehen verlieren würde. Die charakteristischen Backwood-Genre-Elemente erinnern schwer an „The Texas Chainsaw Massacre“ und artverwandte Horrorfilme, wirklich satirisch oder parodistisch verarbeitet werden sie aber kaum, strenggenommen gar nicht. Das ist etwas schade, hier verschenkt das Drehbuch die eine oder andere Chance.

Damit ist „The Cottage“ ein handwerklich einwandfreier, extrem kurzweiliger, nie auch nur im Ansatz langweiliger Genremix, der einwandfrei geschmacklos unterhält und auch gar nichts anderes will. Schauspielerisch gibt es ebenfalls nichts zu mäkeln, lediglich die nicht sonderlich gut gestaltete Maske des Farmers lässt zu wünschen übrig.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 22. Dez 2011, 16:09
von buxtebrawler
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Das Boot
1941: Die deutsche U-Boot-Waffe fügt den alliierten Seestreitkräften und der Handelsmarine schwere Verluste zu. Aus dem Schutz der bombensicheren Bunker an der französischen Atlantikküste sticht U-96 in See, unter dem Kommando des erfahrenen Kapitänleutnant (Jürgen Prochnow), genannt "Der Alte"...
Als 1981 Wolfang Petersens Kriegsfilm „Das Boot“ erschien, schaffte es der bis dato vielleicht beste deutsche Spielfilm auf die Leinwand und beeindruckte ein Millionenpublikum nachhaltig. Zeitlich im Zweiten Weltkrieg des Jahres 1941 angesiedelt, zeigt „Das Boot“ den U-Boot-Krieg gegen die Engländer aus Sicht der Besatzung des deutschen U-Boots U-96. Unter der Führung des namenlos bleibenden Kapitänleutnants „Der Alte“ (Jürgen Prochnow, „Die Mächte des Wahnsinns“) sticht die U-96 mit größtenteils junger Mannschaft in See, die sich fortan zunächst gegen gähnende Langeweile und klaustrophobischen Lagerkoller, später, bei eskalierendem Feindkontakt, aber gegen lebensbedrohliche Situationen und aufkeimende Panik und Hoffnungslosigkeit behaupten muss. Doch das muss das Boot aushalten…

Dabei ist es unter der Kameraführung von Jost Vacano („Supermarkt“) gelungen, die beengte Atmosphäre des U-Boots hochgradig authentisch einzufangen und auf Film zu bannen. Mit einer frühen Version der Steadycam wurden zudem schwindelerregend schnelle Szenen erreicht, die dem Zuschauer das Gefühl vermitteln, selbst überstürzt, aber straff organisiert bei Alarm durch die engen Gänge zu eilen. Die seltenen Überwasserszenen sind da eine willkommene Abwechslung und lassen trotz tosender Meere den Zuschauer aufatmen und diese kurzen Momente ebenso genießen wie die Besatzung. Generell fällt die Identifikation mit den unheimlich ausdrucksstarken Charakteren insofern leicht, als man sich selbst als Mitglied der Crew fühlt und all ihrer Marotten und ihres mörderischen Auftrags zum Trotz mitfiebert. Die unwirtliche Situation schweißt zusammen.

Die Akustik trägt ihr Übriges dazu bei; die im wahrsten Sinne des Wortes „dahinplätschernde“ Geräuschkulisse beschert ein unangenehm klammes Gefühl auf dem heimischen Sofa bzw. im Kinosessel und Klaus Doldingers („Tatort“) unerreichte Titelmelodie zählt nicht ohne Grund zu den ganz großen Klassikern der Filmmusik. Wie auch alle anderen Elemente, die zum Gelingen des Films beitragen, ebenso unverzichtbar wie eine Klasse für sich.

Was die Darstellerriege angeht, brennt „Das Boot“ ein wahres Feuerwerk damals junger Nachwuchstalente ab. So stehen dem desillusioniert wirkenden, aber stets souverän handelnden „KaLeun“ Prochnow zahlreiche Schauspieler wie Martin Semmelrogge, großartig als leicht soziopathisch anmutendem Jüngling, Herbert Grönemeyer überraschend gut als Kriegsberichterstatter Leutnant Werner, der die bittere Wahrheit über die ach so heldenhafte U-Boot-Kriegswelt erfährt, Erwin Leder als stets dem Wahnsinn nahem Johann „das Gespenst“, Klaus Wennemann als leitendem Ingenieur, Heinz Hoenig als Funker Hinrich und in weiteren Nebenrollen Namen wie Jan Fedder, Ralf Richter, Claude-Oliver Rudolph und Uwe Ochsenknecht zur Seite, die sich allesamt für weitere Produktionen empfohlen haben und „Das Boot“ erfolgreich als Karrieresprungbett nutzen konnten. Und eben diese Besetzung liefert sich wahnwitzige und zitierwürdige Dialoge, dass es die reinste Freude ist!

Petersens nach dem gleichnamigen Roman von Kriegsveteran Lothar-Günther Buchheim entstandener Film glorifiziert keinesfalls den Krieg und Nazi-Deutschland schon gar nicht. Es gibt hier keine strahlenden Helden, keine Saubermänner. Der „KaLeun“ ist ein Mann, der wirkt, als habe er sich notgedrungen mit seiner Situation arrangiert. Ihm ist bewusst, dass er die Verantwortung für die Menschen um ihn herum, die häufig den Großteil ihres Lebens noch vor sich haben, hat und versucht, sie heil durch den Wahnsinns des Krieges zu bringen. Er ist ein verschlossener Mann, dem man anmerkt, dass er sich seinen Teil zu alldem denkt. Kaum jemand der Besatzung erscheint wie ein überzeugter Nazi, denn für ideologische Fragen ist in den beengten Räumlichkeiten schlicht kein Platz. Es gilt, möglichst unbeschadet aus der Sache herauszukommen und nicht den Verstand zu verlieren. Genauso wenig gibt es hier aber plakative Desserteure oder Befehlsverweigerer. In seinem Realismus lädt die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte dazu ein, sich Gedanken über Täter/Opfer-Rollen und persönliche Verantwortung zu machen, denn diesbzgl. aufkommende Fragen werden nicht beantwortet, Schwarzweißmalerei nicht betrieben. Stattdessen wird die Sinnlosigkeit des Krieges gezeigt, ohne in blutiges Gemetzel auszubrechen oder effekthascherisch auf einzelne emotionale Momente zu setzen. So erscheinen Durchhalteparolen und patriotisches Gewäsch wie leeres Geschwätz von Maulhelden, „Heil Hitler“-Bekundungen hochgradig grotesk und die Hitler’sche Illusion von sauberen, aufrechten Deutschen unendlich weit entfernt. Die Männer der U-96 wirken, als stünden sie über jeglicher Propaganda, als würden sie durch ihren Einsatz immunisiert gegen derartige Infiltrationen und in Richtung Zynismus steuern – was wenig verwundert, wenn man von weltfremden „Führern“ offensichtlich verheizt werden soll.

„Das Boot“ ist erfreulicherweise in keiner Weise intellektuelles Moralkino, sondern gerade auch ein atemberaubend spannender Film, dessen exorbitante Laufzeit – ich sah den restaurierten Director’s Cut – ohne jegliche Länge wie im Fluge vergeht. Petersen ist das Kunststück gelungen, den Zuschauer in eine längst vergangene Zeit und in eine Welt, die wohl die wenigsten Zuschauer am eigenen Leibe erfahren haben dürften, zu entführen und spürbar zu machen. Petersen bricht Distanzen auf und regt über ein sich mehr als drei Stunden lang entwickelndes Bauchgefühl den Geist an. Das ist Filmkunst par excellence.

Erscheint die anfänglich gezeigte ausschweifende Feier zunächst noch dekadent und abstoßend, erklärt sich die Motivation für derartiges Verhalten in nachfolgenden Handlungsablauf. Wer so voller Energie steckt und doch dem Tod so nah ist, der feiert nun mal so. Und gefeiert werden muss auch dieser Film, dessen pessimistisches Ende seine Ausrichtung unmissverständlich unterstreicht. Ein höchst intensives Filmerlebnis, das man nie mehr vergisst. Ganz großes deutsches Kino.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 22. Dez 2011, 17:10
von jogiwan
die Titelmusik von "U96" ist auch echt ein Klassiker! :D

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 22. Dez 2011, 17:12
von buxtebrawler
jogiwan hat geschrieben:die Titelmusik von "U96" ist auch echt ein Klassiker! :D
:rambo: :jogi:

:palm:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 22. Dez 2011, 17:46
von jogiwan
däkkno....immörtschänzy...mäksimum wellosittie! :kicher:

[ZENSIERT von buxtebrawler. Begründung: Kein Techno in meinem Filmtagebuch! :nixda:]

:prost:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 23. Dez 2011, 21:45
von buxtebrawler
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Die unendliche Geschichte
Der zehnjährige Bastian (Barrett Oliver), ein Träumer und Bücherwurm, wird in der Schule immer wieder von seinen Mitschülern gequält. Als er eines Tages auf der Flucht in einem Antiquariat ein Buch namens "Die unendliche Geschichte" sieht, stiehlt er es, versteckt sich auf dem Dachboden seiner Schule und beginnt zu lesen: Das Land Phantasien wird von einem alles verschlingenden Nichts bedroht. Die Herrscherin von Phantasien, die kindliche Kaiserin (Tami Stronach), wählt den jungen Atreju (Noah Hathaway) aus, um nach einer Rettung zu suchen. Sein Weg führt ihn durch das Land der menschlichen Phantasie, doch er scheint seinem Ziel kaum näher zu kommen. Doch während er noch liest, fühlt Bastian plötzlich eine Verbindung zu Atreju und die Erkenntnis naht, daß er die Rettung des Landes sein könnte...
Achtung: Stark persönlich geprägte Filmkritik!

1984, drei Jahre nach seinem Meisterwerk „Das Boot“, erschien Wolfgang Petersens von Bernd Eichinger produzierter Fantasy-Film „Die unendliche Geschichte“ nach dem beliebten Roman Michael Endes. Es handelt sich um eine deutsch-amerikanische Koproduktion, die eindeutig auf einen breiten internationalen Markt ausgerichtet wurde und den Übergang Petersens zum Hollywood-Mainstream-Regisseur markiert.

Mein Verhältnis zur „unendlichen Geschichte“ ist ein etwas Besonderes. So war es mir zu Kindheitstagen nicht vergönnt, diesen Film einmal zu sehen, obwohl mich bereits der kurze Ausschnitt der Flugdrachenszene, die, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, im Vorspann der Tele-5-Sendung „Cinema“ zu sehen war, faszinierte und neugierig machte. Irgendwie ergab es sich aber nie und mit dem Älterwerden verlor ich sämtliches Interesse an Fantasy-Themen und widmete mich lieber dem beinharten Horror. So kam es, dass ich mir nicht einmal eine vermutlich von meinen Eltern angefertigte TV-Aufzeichnung ansah. Jene VHS-Kassette fiel mir aber vor einiger Zeit in die Hände und nachdem ich mir im Alter von 30 Jahren auf Drängen meiner damaligen Freundin tatsächlich zwei (andere) Bücher Endes durchlas, wuchs mein Interesse. Also flugs die VHS-Aufnahme digitalisiert und… monatelang die Vorfreude genießen, ähem. Nachdem ich aber kürzlich „Das Boot“ sah, gab es kein Halten mehr und ich tauchte endlich in die Welt Phantásiens ein.

Und als mit der Thematik weitestgehend Unbeflecktem, der das Buch nicht kennt, wurde ich zunächst Zeuge eines typisch US-amerikanischen Auftakts, der diese schöne 1980er-Großstadt-Atmosphäre bietet, wie ich sie in vielen Filmen jener Dekade sicherlich etwas nostalgisch verklärt schätze. Der von seinen Mitschülern drangsalierte Bastian Bux (!) flüchtet sich in ein Buchantiquariat, wo der zunächst unfreundliche und abweisende Inhaber ihm von der „unendlichen Geschichte“ erzählt, nachdem Bastian ihn mit seiner Belesenheit beeindrucken konnte. Dabei handelt es sich um ein geheimnisvolles, nicht ganz ungefährliches Buch, das Bastian in einem unbeachteten Moment stibitzt und statt in die Schulstunde zu gehen sich auf den Schuldachboden zurückzieht, um ungestört darin lesen zu können. Er liest, dass das Land Phantásien vom Nichts bedroht wird, die Kindliche Kaiserin unter einer seltsamen Krankheit leidet und der junge Krieger Atréju versucht, beide zu retten. Bis er erkennt, dass Realität und Fiktion miteinander zu verschmelzen scheinen und er selbst zum Teil der „unendlichen Geschichte“ wird…

Der überwiegende Teil des Films zeigt dabei die Vorgänge in Phantásien, einer Fantasy-Welt in beeindruckenden Kulissen, besiedelt mit außergewöhnlichen Kreaturen, die in guter, alter Handarbeit erschaffen wurden, so dass sie auf eine Weise plastisch wirken, wie es keine Computertechnik zu bewirken vermag. Liebevoll modellierte Gestalten, die sich insbesondere in ein kindliches Gedächtnis einbrennen dürften und faszinieren. Und mittendrin Atréju, äußerlich ein kleiner Junge, aber ausgestattet mit dem Herz eines tapferen Kriegers, der dem Geheimnis um das alles verschlingende Nichts auf den Grund geht und ein Abenteuer nach dem anderen zu bestehen hat. Zwischendurch wird immer wieder Bastian gezeigt, wie er immer weiter in den Sog des Buches gerät, mitfiebert, mitleidet, sich von der Geschichte ergriffen zeigt und nicht mehr loslassen kann. Dabei schlägt die allein schon durch die wundervolle Optik fesselnde Mär immer wieder unerwartete Haken in ihrem Ablauf und bezieht Bastian immer stärker mit ein, bis er begreift, dass der Ausgang der „unendlichen Geschichte“ von seinem Mitwirken abhängig ist, dass es sich bei Phantásien um nichts Geringeres als die menschliche Phantasie handelt.

Und nicht nur die liebevoll und voller Sorgfalt gestalteten Kulissen, Masken, Geschöpfe und Trickeffekte wie der bereits eingangs erwähnte Flugdrachenritt sind es, die die Verfilmung zu einem Hochgenuss machen. Es sind die humorvollen Charakterisierungen der skurrilen und schrulligen Figuren, es sind die fabelhaften Jungdarsteller Barret Oliver als Bastian, aber insbesondere Noah Hathaway als Atréju und die ebenso niedliche wie bezaubernde Tami Stronach als Kindliche Kaiserin, es ist die sinnesschmeichelnde Kameraführung Jost Vacanos („Supermarkt“, „Das Boot“) und es ist das flotte Erzähltempo, das glücklicherweise nicht versucht, ein langatmiges Fantasy-Epos zu suggerieren. Dennoch verliert die Handlung nicht an Niveau und behält ihre aufregende Prämisse eines wirklich alles entscheidenden Kampfes bei.

So paradox es klingen mag, aber „Die unendliche Geschichte“ ist ein Plädoyer für die Buchkunst – in Filmform. Aus der ablehnenden Haltung des Buchhändlers wird bereits deutlich, dass man eine zunehmende Interessenlosigkeit der Jugend am gedruckten Wort fürchtet und – unzulässig pauschal – andere Medien wie beispielsweise Videos dafür mitverantwortlich macht. „Die unendliche Geschichte“ zeigt eindrucksvoll, wie viel Begeisterung ein gutes Buch hervorrufen und wie viel es einem geben kann. Ganz allgemein wird dazu aufgerufen, sich kindliche Begeisterungsfähigkeit für das Phantastische zu bewahren, an seinen Träumen festzuhalten und auf die Kraft der Imagination zu setzen, um nicht an der harten Realität zu verzweifeln oder durch reinen Konsum abzustumpfen. Eine Aussage von hoher Bedeutung für Jung und Alt – um eine junge Generation auf den richtigen Weg zu verhelfen und die Älteren an ihn zu erinnern. Deshalb ist der Film keinesfalls als reiner Kinderfilm zu betrachten, im Gegenteil: Manch konsequente Härte könnte ein allzu junges Publikum verstören und verschrecken. So wird hier tatsächlich gestorben und es fließt Blut, manch Kreatur ist sicherlich zu gruselig für den ruhigen Kinderschlaf.

Für die musikalische Untermalung zeichnet wie bereits bei „Das Boot“ Klaus Doldinger verantwortlich. Selbst als eingefleischter US-Mainstream-Kritiker muss ich aber konstatieren, dass diese nicht mit der in der US-Version wunderschönen Melodie, „Neverending Story“ gesungen von Limahl, mithalten kann. Ja, dieses Lied habe ich bei Sichtung der deutschen Fassung schmerzlich vermisst. Während des Flugdrachenritts, jener wichtigen Szene, wirkt Doldingers modernistische, klinische Musik gar störend.

Ansonsten ist „Die unendliche Geschichte“ aus meiner aufgrund meiner Unkenntnis der Romanvorlage vorsichtig formulierten Sicht der nahezu perfekte Spagat zwischen einer Geschichte von in ihrer Bedeutung epischen Ausmaßes und unterhaltsamer Kurzweiligkeit, zwischen Anspruch und Mainstream, zwischen Konsumkritik und Big Budget, zwischen Anregung der Phantasie des Zuschauers und effektreichem, großem Kino gelungen, dem ich besonders zugute halte, dass der von mir gefürchtete Fantasy-Kitsch-Overkill stets umgangen wird. Weniger begeistert zeigte sich – wie so häufig bei Literaturverfilmungen – der Autor des Romans. Anscheinend war sie ihm zu „unEND(E)lich“ (entschuldigt...), möglicherweise zugunsten des Kinomediums zu stark verfremdet oder abstrahiert. Vielleicht ist der Buchhändler aber auch einfach ein Alter Ego Michael Endes, dem es grundsätzlich nicht ganz behagt, wenn Kinder lieber vor der Mattscheibe sitzen, als Bücher zu wälzen.

Genug der Spekulation; Tatsache ist, dass ich die überfällige Sichtung dieses Films in allerhöchstem Maße genossen habe und ich es bereue, ihn nicht bereits als Kind gesehen zu haben. Danke, Michi, Wolle und Bernd für diesen inspirierenden modernen Klassiker.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Sa 24. Dez 2011, 00:08
von buxtebrawler
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Black Christmas
Es ist Weihnachten und ein verrückter Psychopath macht sich daran, eine Mädchenverbindung auf grausame Weise zu triezen. Angefangen mit höchst obszönen Anrufen wird aus dem Treiben bald blutiger Ernst und ein Mädel nach dem Anderen verschwindet spurlos. Lieutenant Kenneth Fuller steht vor einem Rätsel, das er anscheinend nur zusammen mit Jessica Bradford, einem weiteren Mitglied der Mädchenverbindung, lösen kann. Doch bis es soweit ist, sollen dem mysteriösen Killer noch einige Opfer in die Hände fallen...
Die jüngste Kinoaufführung des Klassikers des kanadischen Regisseurs Bob Clark („Dead of Night“), der ich beiwohnen durfte, nehme ich zum Anlass, mich etwas ausführlicher zu diesem Film zu äußern, der längst zu einem meiner Lieblingsfilme, in jedem Fall zu meinem Lieblings-(Anti-)Weinachtsfilm, avanciert ist.

Der Horrorthriller „Black Christmas“ ist ein sog. „Prä-Slasher“. Er stammt aus dem Jahre 1974, was bedeutet, dass es zwar schon Filme wie Hitchcocks „Psycho“ oder Bavas „Bay of Blood“ sowie eine Vielzahl Gialli gab, das Slasher-Subgenre aber noch nicht definiert war, was sich erst 1978 mit Veröffentlichung von Carpenters „Halloween“ ändern sollte – einem Film, der deutlich von „Black Christmas“ inspiriert wurde und ursprünglich sogar als dessen Fortsetzung angedacht gewesen sein soll. Somit kann „Black Christmas“ guten Gewissens als Vorreiter der später einsetzenden Slasher-Welle bezeichnet werden.

Die Handlung zeigt, dass „Black Christmas“ gleichzeitig ein Film mit „Hider in the House“- und Telefonhorror-Motiven ist und damit auch andere Filme als klassische Slasher inspirierte: In einem Studentinnenwohnheim gehen zur Weihnachtszeit zunächst obszöne Anrufe ein, woraufhin bald die ersten Morde geschehen – zunächst noch unbemerkt von den Bewohnerinnen. Die Tätersuche gestaltet sich schwierig, dabei befindet sich der Mörder die ganze Zeit im Haus...

Die Angst davor, in seinen eigenen vier Wänden nicht allein und somit nicht sicher zu sein bzw. in unübersichtlichen, verwinkelten Gebäuden mit vielen Räumen unfreiwillig fremden Gestalten Unterschlupf zu bieten, ist weit verbreitet. Diese macht sich Bob Clark, der auch das Drehbuch verfasste, zu nutze für einen nahezu perfekten Horrorfilm, bei dem einfach alles stimmt: Die Darstellerriege ist handverlesen und über jeden Zweifel erhaben, die Kameraführung mit ihren „Point of View-Shots“ visionär, der Schnitt phänomenal, der Gruselanteil im Gegensatz zu vielen Slashern hoch, der Humor lustig statt albern und ohne den Horroranteil zu gefährden integriert worden, das Haus unheilschwanger fotografiert worden, die Musikkulisse mit ihren manipulierten Klavierklängen unbehaglich, die Atmosphäre dicht wie der Nebel in „The Fog“ und unfreiwillige Komik auch nach über 35 Jahren nicht zu finden.

Im Subtext der Handlung wird biedere, frauenfeindliche Spießigkeit aufs Korn genommen, die doch tatsächlich glaubt, dass junge Studentinnen in einem Schwesternwohnheim von Sexualität, Alkohol etc. ferngehalten werden würden. Hieraus resultiert auch der humoristische Teil des Films, der insbesondere in Gestalt der köstlichen Marian Waldmann („Deranged“) als dem Alkohol sehr zusprechende Hausmutter Mrs. MacHenry auftritt. Generell entsprechen die jungen Mädchen in keiner Weise den Klischees braver Klosterschülerinnen, sondern sind selbstbewusst und intelligent, was sich in zahlreichen Dialogen wie beispielsweise dem mit einem begriffsstutzigen Polizisten zeigt, dessen Verballhornung sich ebenso als eine Art „Running Gag“ durch den Film zieht wie Mrs. MacHenrys Alkoholkonsum. Kein Wunder, dass der besorgte Mr. Harrisson, der das Internat nach Verschwinden seiner Tochter Clare aufsucht, aus allen Wolken fällt. Großartig! Das Thema der weiblichen Emanzipation findet sich auch in ernsten Gesprächen wie zwischen Jessy und Peter, so dass „Black Christmas“ keinesfalls in das Klischee sexistischer Frauenmetzelfilme passt. Die Charakterzeichnungen fielen differenziert, sorgfältig und mit einem eher Slasher-untypischen Tiefgang aus, was ein weiterer Punkt ist, der Clarks Film zu etwas Besonderem macht.

Von diesen Aspekten abgesehen, ist „Black Christmas“ ein Paradebeispiel für packende Suspense, Spannung und Thrill, das gänzlich ohne allzu blutige Effekthascherei und sleaziger nackter Haut (trotz einer Vielzahl attraktiver Mädels) auskommt. Die Morde treffen keine unsympathischen Dummbratzen, sondern Sympathieträger, wodurch sie weniger unterhalten als viel mehr erschrecken. Die obszönen Anrufe des psychopathischen Mörders lassen keinen Zweifel an dessen Wahnsinn und sind zumindest in der überaus gelungenen deutschen Synchronisation verdammt furchteinflößend. Durch den meisterlichen Schnitt erschrecken seine Auftritte, obwohl man über weite Strecken nur seine Extremitäten zu sehen bekommt (was allerdings bereits eine sehr schöne Art ist, das „Point of View“-Kameraverfahren anzuwenden). Später sieht man nur sein Auge durch einen Spalt lugen, was in der Art der Umsetzung mithilfe von Kamerazooms Horror in Reinkultur ist. So hat die Kamera allgemein einige unheimliche Schwenks und Fahrten zu bieten und rückt auch immer wieder das Gebäude ins rechte Licht – von innen wie von außen. Zu einem späteren Zeitpunkt sieht man zumindest Teile des Gesichts des Mörders, erkennt ihn aber noch immer nicht genau und kann sich daher auch nicht die Frage beantworten, ob es sich bei ihm um den verdächtigen Freund Jessys, Peter, handelt.

Die Art der Bedrohung, die der Mörder ausstrahlt, ist damit diffus und schwer greifbar. Man kennt weder seinen Namen oder Aussehen, noch sein Motiv. Im Gegensatz zu den Protagonisten weiß man als Zuschauer aber, dass er sich im Haus auffällt und dass beispielsweise Clare längst tot ist – erstickt unter Plastikfolie. Während man also die Ermittlungsarbeiten der Polizei beobachtet und dabei auf John Saxon („Asphalt-Kannibalen“) als souveränen Bullen trifft, hofft man inständig mit den sympathischen Charakteren, dass sie alsbald den gleichen Kenntnisstand erreichen mögen.

Die düsteren Klavierklänge unterstreichen die Stimmung des Films optimal und stellen gleichzeitig einen Bezug zum Hauptverdächtigen Peter dar, der eine Karriere als Konzertpianist anstrebt. Das ruhige Erzähltempo ist der Entfaltung der einzigartigen Atmosphäre des Films zuträglich, langweilig wird es dabei nie. Clark lädt sein Publikum dazu ein, den Grusel seines Films zu genießen und nicht durch Hektik oder Vorgaukeln einer Dynamik, die die Handlung gar nicht hergibt, in Anspannung zu versetzen, sondern rein durch sein Geschick für Suspense, vor dem sich Hitchcock knietief verbeugt hätte (oder hätte müssen oder hat?). „Black Christmas“ ist ein mindestens so zeitloser Klassiker wie Carpenters „Halloween“, der nach wie vor einwandfrei funktioniert, dem der Zahn der Zeit im Gegensatz zu einigen Slashern nichts anhaben konnte. Das Verwirrspiel um den Täter wird konsequent bis zum Ende durchgehalten, das derart gestaltet wurde, dass Clark sein Publikum nicht von seinem diffusen Angstgefühl erlöst, sondern es es mit nach Hause nehmen lässt. In die eigenen vier Wände. Von denen man genau weiß, wer sich darin aufhält. Oder doch nicht...?

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Sa 24. Dez 2011, 18:01
von buxtebrawler
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Das Grauen kommt um 10
Die Highschool-Babysitterin Jill wird eines Abends während sie Dienst tut, von einem Anrufer terrorisiert. Entnervt bittet sie die Polizei, den Anrufer festzustellen, als er sich schon wieder meldet und ihr die berühmte Frage "Haben sie schon nach den Kindern gesehen?" stellt. Tatsächlich findet sie die Kinder ermordet auf und erfährt kurz darauf, daß die Anrufe aus demselben Haus kommen. Knapp kann sie dem Killer entkommen, dieser wandert ins Gefängnis. Sieben Jahre später jedoch kommt er wieder frei und die Anrufe bei Jill, jetzt selbst Mutter, beginnen wieder.
„Haben Sie nach den Kinder gesehen?“

Mit „Das Grauen kommt um 10“ gelang dem US-amerikanischen Regisseur Fred Walton („Die Horror-Party“) im Jahre 1979 ein Psycho-Thriller, der sich ins kollektive Gedächtnis zumindest der US-Filmwelt eingebrannt hat. Babysitterin Jill (Carol Kane, „Hundstage“) passt auf die Kinder des Ehepaars Mandrakis auf, als sie unheimliche Anrufe eines Unbekannten erhält: „Haben Sie nach den Kindern gesehen?“, lautet die immer gleiche Frage des Fremden, der Jill in Angst und Schrecken versetzt. Als sie die Polizei einschaltet, stellt sich heraus, dass der Anruf aus demselben Haus kommt und ein Psychopath die Kinder in ihrem Schlafzimmer umgebracht hat, während Jill im Wohnzimmer auf dem Sofa saß...

Diese Eröffnungssequenz ist ein Musterbeispiel für nervenzerreißende Spannung und Suspense-Thrill. Egal, ob man schon weiß, was Jill erwartet, ist der Moment des Bewusstwerdens, dass der Mörder sich im Haus befindet, Jill also allein mit ihm ist, ein echter Schock, filmisch hervorragend subtil umgesetzt. Als sich der Mörder die Treppe ins Wohnzimmer hinunter begibt, bekommt man nur einen unheimlichen Schatten zu sehen. Panisch stürzt Jill nach draußen, wo sie den Eheleuten Mandrakis in die Arme läuft. Schnitt. Verschnaufpause. Puh, was für ein Auftakt! Dieser wurde zwar vermutlich Bob Clarks Klassiker „Black Christmas“ entlehnt, aber in seiner Umsetzung auf die Spitze getrieben. Er stand Pate für Filme wie „Scream“ und ebenso wie „Black Christmas“ für andere Filme mit „Hider in the House“-Thematik. Doch war das lediglich der Beginn von Waltons Spielfilm, der eigentlich drei Filme in einem bietet: Wenn man so will das eben beschrieben Prequel, ein ausgiebiges, langwieriges Psychogramm des Mörders und eine Art Fortsetzung. Und genau daran hapert es.

Denn hat man erst einmal tief durchgeatmet, ändert sich die Handlung dahingehend, dass der Mörder, der, wie wir jetzt erfahren, Curt Duncan (Tony Beckley, „Bestien lauern vor Caracas“) heißt, nach sieben Jahren aus der psychiatrischen Sicherheitsverwahrung entkommen konnte. Erstmals bekommen wir ihn zu sehen: Er wirkt so gar nicht wie ein misanthropisches Monstrum, sondern viel mehr wie ein bemitleidenswerter, armer Tropf. Wir werden Zeuge, wie er in einer Bar versucht, soziale Kontakte zum anderen Geschlecht zu knüpfen und daraufhin verprügelt wird. Wir beobachten, wie er die Zurückweisung nicht akzeptieren kann und beginnt, der Frau nachzustellen. Wie er sich in Armengegenden herumtreibt und sich unter Bettler mischt. Wie er mit sich selbst und seiner offensichtlich traumatischen Kindheit hadert. Das ist zweifelsohne sehr glaubwürdig von Beckley gespielt. Jedoch wird mir nicht ganz klar, was Walton bezweckt: Soll um Verständnis für diese armselige Existenz gebuhlt werden? Für einen Mann, der Kinder bestialisch ermordet hat? Man sträubt sich dagegen, während Beckley versucht, Empathie und Mitleid auszulösen. Oder soll schlicht und ergreifend verdeutlicht werden, dass die unscheinbarsten Typen gemeingefährliche Psychokiller sein können? Die Silhouette dieses gebrochenen Mannes will so gar nicht zu seiner Tat von vor sieben Jahren passen, weshalb dieser Abschnitt – der längste des Films – auch nicht so recht an den Prolog anknüpfen will.

Polizist John Clifford (Charles Durning, ebenfalls „Hundstage“) macht sich auf die Suche nach Duncan, bereit, ihn zu töten – ein Katz- und Mausspiel entsteht. Dieses allerdings wurde dramaturgisch eher holprig inszeniert, der ausladende Mittelteil zieht sich der grundsätzlich interessanten Handlung zum Trotz dahin. Schlussendlich kreuzen sich die Wege Duncans und Jills, die mittlerweile selbst eine Familie hat, erneut, bis sich Walton wieder auf sein wahres Talent, das erzeugen wahnsinniger Suspense, die auf einen handfesten Schock hinsteuert, besinnt. Duncan dringt in Jills Haus ein und ein packendes Finale wird eingeläutet, das den Film zu einem befriedigenden Ende führt.

Dennoch ist mir die Intention des Mittelteils ein Rätsel: Soll eine kalte, abweisende Gesellschaft mitverantwortlich für den Wahnsinn Duncans gemacht werden? Oder soll gar ein reaktionäres Plädoyer für Selbstjustiz und Todesstrafe ausgesprochen werden, indem man zeigt, dass die Verwahrung in der Psychiatrie nicht für ausreichende Sicherheit sorgt und die Hoffnung auf Täterrehabilitation vergebens und blauäugig ist? Oder gar beides auf einmal? Das vermag ich wahrlich nicht zu beurteilen und so sehr dieser Umstand vielleicht auch zum Nachdenken anregen mag, wirkt der Film doch unrund und zu diffus in seiner Ausrichtung.

Anfang und Ende des Films sind aber so stark, dass sie über seine Schwächen gern hinwegsehen lassen. Walton beweist, wie hochqualitative Thrillerkost auch ohne Blutvergießen möglich ist. Statt grafischer Effekte bedient er sich eines punktgenauen, perfekten Soundtracks, der den Szenen erst zu ihrer gewünschten Wirkung verhilft. Die Kameraarbeit, die sich einiger Close-ups bedient, lässt die gut aufgelegten Schauspieler authentisch emotional agieren, ohne dass Overacting notwendig würde. Da stört es auch nicht, dass Durning im Prinzip mit nur einem Gesichtsausdruck auskommt. In der Ruhe liegt nicht nur die Kraft, sondern auch die Spannung und der Psycho-Horror. Ein durch und durch ernster Film, der keine Albernheiten, Sleaze-Offensiven oder Spezialeffektorgien nötig hat, die immerwährende Paranoia vor dem sich an Kindern vergreifenden Psychopathen bedient und den Zuschauer dort packt, wo er sich am sichersten wähnt: Im eigenen Haus.

1993 erschien mit „Stimme der Dunkelheit“ eine empfehlenswerte Fortsetzung, ebenfalls unter der Regie Waltons. Die Eingangssequenz wurde für das Remake „Unbekannter Anrufer“ aus dem Jahre 2006 hergenommen und zur Spielfilmlänge aufgeblasen, was letztlich dann ein bisschen wenig war. Dieses Original zumindest sollte jeder Thriller- und auch Horrorfreund kennen.

Tony Beckley verstarb nur ein Jahr nach Erscheinen des Films. Ruhen Sie in Frieden, Mr. Beckley!