Jürgen Teipel – Verschwende deine Jugend
Der ehemalige Fanziner und hauptberufliche Journalist Jürgen Teipel veröffentlichte 2001 im Berliner Suhrkamp-Verlag seine
Oral History of Punk 1976-1983, den Doku-Roman „Verschwende deine Jugend“, für den er drei Jahre lang über 100 Zeitzeug(inn)en interviewte und ihre Antworten zu einem in drei Teile plus Vorwort(e), Pro- und Epilog unterteilten, in etliche Kapitel gegliederten Band zusammenfügte, sodass sie sich wie transkribierte Gesprächsrunden lesen. 2012 erschien eine revidierte und erweiterte Neuauflage des Überraschungserfolgs, deren zweite Auflage aus dem Jahre 2017 mir vorliegt.
Seinem vierseitigen Originalvorwort fügte er in der Neuauflage ein weiteres an, wobei er bereits im ersten gut daran tat, zu betonen, sich keinerlei Repräsentativität anzumaßen. Damit nimmt er vielen möglichen Kritiker(inne)n den Wind aus den Segeln, die sich daran stören könnten, dass er zwar Düsseldorf sehr ausführlich abhandelt, Berlin und Hamburg jedoch nur in Auszügen und andere deutsche Ballungszentren des Punks erst gar nicht aufgreift. Mit seinen Anhängen kommt die Neuauflage auf über 450 Seiten im Taschenbuchformat. Los geht’s im Prolog mit den Hippies, gegen die man war, von denen man sich radikal abzugrenzen suchte. Teil 1, „Innenstadtfront“, behandelt den Zeitraum vom Sommer 1976 bis zum Herbst 1978, Teil 2, „Ich und die Wirklichkeit“, setzt sich mit der Phase vom Herbst 1978 bis zum Winter 1980 auseinander, Teil 3, „Die Guten und die Bösen“, hat den Frühling 1980 bis zum Winter 1982 zum Thema. Biografische Angaben zu den zahlreichen zu Wort kommenden Personen, eine Zeittafel und Bildnachweise runden den Band ab.
Mit seiner Art der Montage erinnert „Verschwende deine Jugend“ stilistisch an diverse sich ausschließlich aus O-Tönen zusammensetzende Dokumentarfilme, die komplett auf eine(n) Sprecher(in) verzichten und – wie hier – die Interview-Fragen aussparen, sodass die Antworten wie von etwaigen Fragestellungen autarke Aussagen wirken. Teipel konstruiert gewissermaßen eine Handlung, was das Buch erzählerisch interessant und sehr flüssig lesbar macht.
Zunächst dreht sich alles um Düsseldorf und die Szene um den Ratinger Hof, innerhalb derer Bands wie CHARLEY’S GIRLS, S.Y.P.H., DER PLAN, MITTAGSPAUSE, MALE, ZK, FAMILY 5, KFC, FEHLFARBEN, DAF, NICHTS und DIE TOTEN HOSEN entstanden, deren Protagonist(inn)en ausführlich zu Wort kommen und neben ihrer persönlichen Entwicklung jene der Punkszene nachzeichnen – und verdeutlichen, dass sich beides nicht voneinander trennen lässt. Später kommen Berlin (MANIA D., MALARIA, IDEAL und EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN) und Hamburg (ABWÄRTS, CORONERS und PALAIS SCHAUMBURG) als Schauplätze hinzu. Punk als damals jüngstes Phänomen der Pop- und Subkultur wandte sich gegen Hippies, Pomp- und Art-Rock und zur Pose erstarrte Rock-Attitüde sowie autoritäre gesellschaftliche Strukturen, war aber bei Weitem noch nicht ausdefiniert (sofern er es jemals wurde). Damit einher ging eine sehr experimentelle Phase, in der vieles möglich war und entsprechend vieles ausprobiert wurde. Anhand der hier versammelten Aussagen wird belegt, dass sich Punk damals noch nicht als diejenige politisch linke oder anarchistische Bewegung verstand, als die sie heute gemeinhin wahrgenommen wird und sich in größeren Teilen der Szene auch selbst so definiert. Vor allem ging es um die Infragestellung alles Bisherigen und die Schaffung von etwas komplett Neuem.
Daher wird aus heutiger Perspektive sicherlich die eine oder andere Aussage, Anekdote oder Erinnerung irritieren, die der damaligen Selbstfindungsphase geschuldet ist. Offen treten auch Widersprüche, gerade auch untereinander, sowie Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit zutage. Überraschend ist, wie unreflektiert man sich auch während der Interviews noch gab – und vorweggenommen sei, dass längst nicht jede(r) Interview-Partner(in) zum/r Sympathieträger(in) taugt. Neben Bandgründungen, -umbesetzungen, ersten Konzerten und Tonträgerveröffentlichungen werden Haltungen zu Drogen (Ablehnung von Cannabis als Hippiedroge, hoher Speed-Konsum, Abstinenz vs. Alkoholmissbrauch), Gewalt und Vandalismus, Provokation und Neonazis thematisiert. Besonders extrem werden die Unterschiede der Düsseldorfer Szene im Vergleich zur proletarischer geprägten Hamburger Szene deutlich. In Düsseldorf rannten schon mal 200 Luschen-Punks vor 20 Rockern weg, statt sich ihrer zu erwehren. Düsseldorfs Punk der ersten Stunde, Jäki Eldorado (beim Erscheinen des Buchs TOKIO-HOTEL-Tourmanager!), stellt unhaltbare Behauptungen über Hamburg auf
(„Und dann gab es hier auch nie interessante Punkbands.“) und „Sounds“-Redakteur Kid P. sondert Unfug ab wie
„Im Gegensatz zu dieser ganzen Hamburger Punkszene war der KFC richtig schillernd. Glamrock. Punk war ja nichts anderes als linksradikaler Glamrock.“ DER KFC waren offenbar wilde Rüpel, die kaum in die modische Düsseldorfer Punk-Schickeria passten; MITTAGSPAUSE-Gitarrist und „Rondo“-Label-Betreiber Franz Bielmeier beschwert sich beispielsweise über KFC-Sänger Tommi Stumpf, der ihn dafür angerotzt habe, dass er sich eine sündhaft teure Lederjacke gekauft und getragen habe. Schnell hatte DER KFC seinen Ruf als besoffene Prollpunks weg, mit ihm hielt die szeneinterne Gewalt Einzug. Bizarrerweise konnte Bielmeier
„das auch immer noch akzeptieren“, vom KFC verprügelt und angerotzt zu werden, weil
„das immer so eine ästhetische Abgrenzung gewesen“ sei. DER-PLAN-Frontmann Moritz R® hingegen begann, verstärkt mit Ironie und Humor zu arbeiten und schließlich das Humorvolle im Kontrast zum immer ernster und härter werdenden Punk bis zur Albernheit zu übertreiben. Die Geburtsstunde des Funpunks?
Die Vision einer eigenen Popkultur schildert ebenfalls Moritz R®, was so etwas wie Anspruch und Selbstverständnis der Neuen Deutschen Welle wurde. Dieser Begriff wurde von „Zickzack“-Label-Inhaber Alfred Hilsberg geprägt, der ebenfalls ausführlich zu Wort kommt. Die Musikindustrie griff diese Bezeichnung auf und nutzte sie zur Vermarktung der „kommerziellen“ NDW, an der diejenigen, die in diesem Buch zu Wort kommen, kein gutes Haar lassen – wenngleich sie teilweise selbst zugeben müssen, Hilsberg habe mit seinem massiven Tonträger-Output vor allem reichlich Katzenmusik herausgehauen, die quasi unhörbar war. Das kann ich anhand dessen, was ich aus diesem Bereich bisher so zu hören bekommen habe, nur bestätigen, weshalb ich die die ersten NENA- oder EXTRABREIT-Alben sowie manch anderes massenkompatiblere Zeug, das damals (und heute) als NDW gehandelt wurde und wird, dem meisten deutschsprachigem New-Wave-Zeug eindeutig vorziehe (für Teipels Interview-Partner(innen) natürlich ein absolutes No-go), zumal sich da auch inhaltlich, in Bezug auf die Texte, einiges hören lassen kann. Nichtsdestotrotz ist es interessant, diese Übergänge vom orientierungslosen frühen deutschen Punk zum New-Wave/NDW-Kram einmal aus erster Hand nachzulesen – zweifelsohne ein wichtiges Stück hiesiger Musikgeschichte.
Schauspieler Ben Becker, der in Berlin auch mal eine Punkphase hatte, nutzte diese – darf man seinen Aussagen Glauben schenken – in erster Linie, um seiner Zerstörungswut freien Lauf zu lassen. Anders DAF, die – aus dem Punk kommend – zu Pionieren der Elektro-Musik avancierten, mehr noch als andere mit faschistischer Ästhetik spielten und sich dabei nicht entblödeten, in England offenbar für ein sich aus mit Faschismus sympathisierenden Hirnis und Nazi-Skins zusammensetzenden Publikum zu spielen – und das auch noch toll fanden und „Mein Kampf“-Miniaturausgaben an es verteilten. DAF wurden schwul, lebten als Penner auf den Straßen und bezeichnen das als
„paramilitärisch“. Ein ganz seltsamer Haufen, nicht ganz dicht und offenbar tatsächlich mit Vorsicht zu genießen. Und wie Peter Hein, der mit dem FEHLFARBEN-Album „Monarchie und Alltag“ die vielleicht beste Düsseldorfer Platte jener Ära entscheidend mitzuverantworten hat, seine äußerst vielversprechende Bandkarriere wegwarf, ist nicht nur unverständlich, sondern wirkt regelrecht arrogant. Umso spannender liest sich hier die Entstehung dieses Meilensteins.
Durchaus faszinierend und inspirierend ist es auch, die Anfänge der EINSTÜRZENDEn NEUBAUTEN nachzuvollziehen, wenngleich auch sehr anschaulich der fehlende Zusammenhalt der Berliner Szene und die gegenseitige musikalische Geringschätzung wiedergegeben werden. Selbst zwischen den Humpe-Schwestern (IDEAL und DÖF) herrschte krasses Konkurrenzdenken vor. Generell scheinen viele der damaligen Punk/NDW/Whatever-Schaffenden menschlich ziemliche Nulpen gewesen zu sein – eine Entromantisierung gewissermaßen, die Teipel & Co. hier betreiben, während sie aufschlussreiche authentische Einblicke in die Entstehung und erste Entwicklung des deutschsprachigen Punks und seiner Bastarde liefern. Die Verantwortlichen wirken häufig furchtbar desorientiert und sprunghaft, als habe man „Hauptsache dagegen“ sein wollen, sich zwanghaft über Abgrenzung definiert und sei damit letztlich ja doch abhängig vom Gegebenen gewesen, statt einfach sein Ding durchziehen zu können. Die Schizophrenie des Punks. Gegenseitig war man sich nur selten wirklich grün; die unterschiedlichen Klüngel haben sich missgünstig beäugt und schlechtgemacht. Das liest sich oft arg undifferenziert und aus heutiger Sicht wenig souverän.
Punk is still alive and kicking, vieles hat sich seit damals geändert, aber ganz sicher nicht zum Schlechten. Nach Lektüre dieses Bands weiß ich jedenfalls umso mehr, was ich an der heutigen Hamburger Punkszene habe, wo sicherlich auch nicht alles Gold ist, was glänzt, man sich aber um ein solidarisches Miteinander bemüht und gegenseitigen Respekt lebt, wodurch die eigene Infrastruktur am Leben erhalten wird und es Spaß macht, an ihr zu partizipieren. Allein schon, um dies zu untermauern, lohnt sich die Auseinandersetzung mit „Verschwende deine Jugend“, die zudem Lust macht, in die eine oder andere Band noch mal mit anderen Ohren hineinzuhören und schlicht manch Klassiker noch mal auszugraben – wohlwissend, dass da keine über den Dingen stehenden Pioniere am Werk waren, sondern mitunter ganz schön wirres Volk auf der schwierigen Suche nach einer eigenen Identität.
Mit gemischten Gefühlen liest sich dann auch das letzte Kapitel, in dem man reflektiert, wie viel von diesem Punk-Ding noch in einem steckt. Timo Blunck von PALAIS SCHAUMBURG hat gutes Geld mit Werbemusik verdient, dem exakten Gegenteil von Punk also – und er fände es
„schrecklich“, wie Frank Z. von ABWÄRTS ein Solo-Album herauszubringen, das sich
„gerade mal 30.000“ mal verkauft… Da scheinen sich die persönlichen Wertevorstellungen ganz schön verschoben zu haben, sofern sie jemals andere waren. Das lässt tief blicken. Diverse Zeitgenossen teilen ganz kräftig gegen DIE TOTEN HOSEN aus, was ich schon eher nachvollziehen kann, gern aber auch mehr nach Neid als nach allem anderen klingt. Auch die kolportiere Annahme, der Technoschrott der 1990er (dem sich manch ehemaliger Punk hingegeben hat) sei die logische Weiterentwicklung des Punks gewesen, lässt einen mindestens mit der Stirn runzeln. Gabi Eldogado (MITTAGSPAUSE, DAF) gibt damit an, wie viel Kohle er damit gemacht – darum scheint es hauptsächlich zu gehen. Für Jürgen Engler (MALE, DIE KRUPPS) bestand
„diese ganze Szene […] vor allem aus Lug, Trug und Fassade“ – wenig verwunderlich also, dass er sich mit den KRUPPS bald von ihr emanzipieren sollte. Robert Görl ist nach einer Nahtoderfahrung zum Buddhismus konvertiert und sucht sein Seelenheil in der Spiritualität. Er hat keine Wohnung mehr und will als Mönch nach Thailand gehen. Ein positives Beispiel sei hier aber auch angemerkt, das sich indirekt auf die „Gegen den Staat“-Attitüde des Punks bezieht. So sagt Padeluun etwas sehr Schlaues:
„Heute trete ich für partizipatorische Demokratie ein. Und in vielen Bereichen für mehr Staat. Weil ich erkannt habe, dass, wenn man dem Staat die Macht entzieht, nicht unbedingt das Volk die Macht bekommt.“
Einige großformatige Schwarzweiß-Fotos runden Teipels Buch ab, bei denen man jedoch gut daran getan hätte, Bildunterschriften zu verwenden, statt die Bildinhalte erst im Anhang aufzuschlüsseln – das hätte einige Blätterei erspart. Im Anhang finden sich, wie eingangs erwähnt, auch die biografischen Notizen zu jeder/m Gesprächspartner(in), die dabei helfen, diese einzuordnen und die anscheinend relativ komplett sind – bereits aus ihnen erfährt man eine Menge über die Zusammenhänge untereinander und die unterschiedlichen Werdegänge. Die Zeittafel fasst die Ereignisse noch einmal grob und übersichtlich zusammen.
Wer sich für die deutsche Punkgeschickte interessiert, sollte „Verschwende deine Jugend“ mal gelesen haben – sofern er mit Desillusionierung umgehen kann. Und jetzt habe ich Bock auf die „Monarchie und Alltag“…